L 1 KR 18/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 37 KR 132/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 18/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Januar 2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte die Klägerin mit einem Lese-Sprech-Gerät mit 40-zeiliger Braille- Zeile auszustatten hat, sobald die Klägerin über einen entsprechenden häuslichen Rechner verfügt. 2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Gewährung eines Lese-Sprech-Gerätes mit einer 40-zeiligen Braille-Zeile als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die 1979 geborene, blinde Klägerin, die seit 1987 die Schule für Blinde und Sehbehinderte in Hamburg besucht hatte und die Braille-Schrift beherrscht, besuchte seit August 1999 die Staatliche Handelsschule für Blinde und Sehbehinderte in Hamburg, die sie aber nicht abschloss. Anschließend absolvierte sie eine Berufsausbildung in den W. Werkstätten für Behinderte, besuchte auch die Berufsschule. Seit dem Oktober 2003 ist sie versicherungspflichtig in den W. Werkstätten für Behinderte tätig (§ 5 Abs. 1 Nr. 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), § 1 Nr. 2a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch).

Im November 1999 wandte sich die Klägerin an die Beklagte, ihre Krankenkasse, und begehrte unter Vorlage von u. a. Stellungnahmen der bis dahin von ihr besuchten Schulen und unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. April 1998 (3 RK 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 26) die Versorgung mit einem elektronischen Blinden-Vorlese- und Schreibsystem mit Braille-Zeile zum privaten Gebrauch. Die Schule sei hiermit ausgestattet, was es nötig mache, auch ihren häuslichen Arbeitsplatz mit einer entsprechenden Anlage auszustatten. Hierdurch werde sie in die Lage versetzt, die schulischen Arbeiten auch im Hause erledigen zu können. Sie könne damit nicht nur in der Schule ihr Leistungsbild optimieren und vergrößern, sondern ihr werde auch ein späterer beruflicher Einsatz im kaufmännischen Bereich erleichtert. Neben der üblichen elektronischen Ausstattung sei die Beschaffung einer Braille-Zeile (ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden, vom Blinden ertastbaren Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird) unbedingt erforderlich. Die Braille-Zeile ermögliche ihr, nicht nur über die Akustik, sondern auch über das taktile Medium das Geschriebene erfassen und gegebenenfalls auch korrigieren zu können.

Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ein, dessen Augenarzt Dr. C. im Gutachten vom 1. Februar 2000 die Versorgung mit einem Blinden-Vorlese- und Schreibsystem für sinnvoll hielt. Sie erklärte sich gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 8. Februar 2000 lediglich bereit, die Kosten von 7.992,40 DM für ein geschlossenes Vorlesesystem BEO 1 zu übernehmen. Mit dem angebotenen geschlossenen Vorlesesystem mit Sprachausgabe sei die Klägerin ausreichend und zweckmäßig versorgt. Die Kosten einer Braille-Zeile könnten nicht übernommen werden, zumal letztere für die Berufsausbildung benötigt werde und daher andere Träger leistungspflichtig sein könnten. Hiergegen betrieb die Klägerin das Vorverfahren. Die Beklagte, die mit Bescheid vom 5. Oktober 2000 ihre Bewilligung vom 8. Februar 2000 insoweit geändert hatte, als sie Kosten für ein geschlossenes Vorlesegerät BEO 1 nur noch in Höhe von 7.493,60 DM zu übernehmen bereit war, wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2000 zurück. Für das von der Klägerin begehrte System entstünden Kosten von ca. 20.000 DM. Das geschlossene Lesesystem BEO 1 koste nur 7.493,60 DM und sei unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots medizinisch ausreichend.

Dagegen richtet sich die am 10. November 2000 gem. § 91 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei der Beklagten erhobene Klage, mit der die Klägerin das Angebot der Firma F. A. vom 24. November 2000 über eine "AudioBraille 44" (Preis: 16.182,00 DM) vorgelegt und vorgetragen hat, sie sei auf die Benutzung des beantragten Hilfsmittels im alltäglichen Leben – durchaus in einem Umfang von mehr als fünf Stunden wöchentlich - angewiesen, um in optimaler Weise die Darstellung von Informationen, besonders über das geschlossene Lesesystem, wahrnehmen zu können. Das geschlossene Lesesystem bringe zwar im Einzelnen Textdarstellungen, könne aber nicht alle Informationen (z. B. Kontoauszüge, Tabellenkalkulation, Briefe, Telefonrechnungen, Formulare, Zeitungsartikel, Links im Internet, Fremdwörter, Fachliteratur, Belletristik) über die Sprachausgabe vermitteln. Es könne nur Zeilen von links nach rechts lesen. Alle Texte, die anders aufgebaut seien, wie z.B. das Telefonbuch, könnten damit nicht erfasst werden. Mit der Braille-Zeile werde der Text in Originalform erfasst, bei Zeitungen sei z. B. auch der Großdruck erkennbar. Sowohl ihr Ausbildungsplatz in den W. Werkstätten als auch die Berufsschule seien mit einem Lesesystem mit einer ausreichenden 40er Braille-Zeile von der Firma F. A. ausgestattet. Sie selbst habe bisher weder ein Vorlesesystem noch eine Braille-Zeile erworben.

Durch Urteil vom 10. Januar 2003 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einem Lese-Sprech-Gerät mit einer 40-zeiligen Braille-Zeile zu versorgen. Das Grundbedürfnis der Klägerin auf Information könne durch das von der Beklagten bewilligte Vorlesesystem nicht ausreichend befriedigt werden. Auf die Hilfe dritter Personen könne die Klägerin nicht verwiesen werden. Der Kostenaufwand der Beklagten rechtfertige nicht, dass sie ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigere. Im Übrigen seien die Preise für eine Braille-Zeile gefallen. Die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Gerät entspreche dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und sei angesichts seiner Verwendung auch in der Ausbildungsstätte und in der Berufsschule sinnvoll.

Gegen das ihr am 11. Februar 2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. März 2003 Berufung eingelegt und auf das Urteil des BSG vom 21. November 2002 – B 3 KR 4/02 R – hingewiesen. Eventuell überschreite wegen vielleicht auf dem Markt befindlicher neuer Geräte die Ausstattung mit einer Braille-Zeile das Maß des Notwendigen (Wegfall fremder Hilfe bei der Lektüre von Zeitungen etc.). Es bedürfe noch der Abklärung der generellen Leistungsbandbreite von (geschlossenen) Lese-Sprech-Geräten. Ferner sei nicht unerheblich, welche Schwierigkeiten die Klägerin etwa beim Erfassen von Texten auf Grund ihrer individuellen Beeinträchtigungen habe. Jedenfalls entspreche der von der Klägerin eingereichte Kostenvoranschlag der Firma F. A. vom 10. Januar 2003 für einen Personalcomputer mit Monitor, Modem und Tintenstrahldrucker nicht dem Produkt, zu dessen Kostenübernahme das Sozialgericht sie, die Beklagte, verurteilt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Januar 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise festzustellen, dass sie einen Anspruch auf Ausstattung mit einem Lese-Sprech-Gerät mit einer 40-zeiligen Braille-Zeile hat, sobald sie über einen entsprechenden häuslichen Rechner verfügt.

Sie hält das angefochtene Urteil grundsätzlich für zutreffend. Sie besitze gegenwärtig keinen Rechner, mit dem sie die Braille-Zeile betreiben könnte, werde sich aber einen solchen Rechner sofort auf eigene Kosten beschaffen, wenn die Beklagte sie mit der Braille-Zeile ausstatte. Auch ihr jetziger Arbeitsplatz in den W. Werkstätten sei damit ausgestattet.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, frist- und formgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Sie ist allerdings nach Maßgabe des Urteilstenors nur zum Teil begründet, im Wesentlichen aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin grundsätzlich einen Anspruch auf ein Lese-Sprechgerät mit einer 40zeiligen Braille-Zeile gegenüber der Beklagten hat. Es ist ihr allerdings erst zu gewähren, wenn sie sich einen eigenen Rechner - der als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist und von der Beklagten nicht zu leisten ist - zugelegt und damit die Voraussetzungen für dessen Ausbau und Ausstattung mit einem Lese-Sprechgerät mit einer 40-zeiligen Braille-Zeile geschaffen hat. Erst im Zusammenhang mit dem Rechner kann die Hilfsmitteleigenschaft der Braille-Zeile faktisch begründet werden. Hierbei geht der Senat außerdem davon aus, dass die Klägerin sich das hier streitige Hilfsmittel auch vertragsärztlich verordnen lassen wird (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V). Insoweit dringt daher die Berufung der Beklagten durch.

Im Übrigen bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg. Der von der Klägerin hilfsweise – erst im Berufungsverfahren - gestellte Feststellungsantrag ist zulässig. Es handelt sich hierbei – abgesehen davon, dass die Beklagte dem Hilfsantrag ohnehin zugestimmt hat - nicht um eine Klageänderung i.S.d. § 99 SGG. Eine solche Klageänderung liegt beim hilfsweisen Übergang von der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zur Anfechtungs- und Feststellungsklage nicht vor (vgl. § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 99 Rdnr. 4, 4a). Denn die Klägerin begehrt mit dem Feststellungsantrag gegenüber der Vollverurteilung der Beklagten durch das Sozialgericht lediglich ein minus (Leistung unter einer Bedingung). Für diese Feststellung besteht ein Rechtsschutzinteresse. Der Feststellungsantrag ist auch begründet.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.d.F. des Art. 5 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch vom 19. Juni 2001 (BGBl. S. 1046) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. In allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Hiernach hat die Beklagte unter der Bedingung, dass die Klägerin einen häuslichen Rechner zur Verfügung hat, ein Lese-Sprechgerät mit 40zeiliger Braille-Zeile zu bewilligen.

Nach den Urteilen des BSG vom 16. April 1998 (B 3 KR 6/97 R, aaO) und vom 21. November 2002 (B 3 KR 4/02 R, ZfS 2003, 146 = Die Leistungen Beilage 2003, 134), denen sich der Senat anschließt und auf die er Bezug nimmt, stellt ein Braille-Zeile ein "anderes Hilfsmittel" iSd § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar, das eine Behinderung ausgleichen kann. Es ist von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur Verfügung zu stellen, die über einen häuslichen PC verfügen und diesen selbst bedienen können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit Hilfe der Braille-Zeile "lesen" möchten, die meinem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insbesondere dient die Braille-Zeile vorliegend dem Behinderungsausgleich. Dass die Klägerin einen PC selbst bedienen kann, ergibt sich sowohl aus der Stellungnahme der Schule für Blinde und Sehbehinderte vom 12. Mai 1999 als auch aus den Einlassungen der Klägerin und ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Es ist auch glaubhaft, dass die Klägerin mittels der Braille-Zeile, deren Bedienung sie ebenfalls erlernt hat, ihr allgemeines Grundbedürfnis auf Information im vorgenannten Sinne, auch im erforderlichen zeitlichen Umfang (nach BSG v. 23. August 1995 – 3 RK 7/95, SozR 3-2500 § 33 Nr. 16 = SGb 1996, 547 für ein Lese-Sprechgerät fünf Stunden wöchentlich), zu befriedigen beabsichtigt.

Ein Versorgungsanspruch mit diesem Hilfsmittel könnte daher – zumal die Klägerin als mit dem Umgang mit einem PC vertraute Versicherte Schriftstücke und Texte der genannten Art (Briefe, Kontoauszüge, Telefonbücher, Telefonabrechnungen, Formulare, Prospekte u. a.) auf Grund ihrer persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse sehr wohl und nicht nur in sehr geringem Umfang lesen möchte – nach dem BSG (Urteil v. 21. November 2002, B 3 KR 4/02 R, aaO) nur dann abgelehnt werden, wenn auf Grund des zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-Geräte, von denen die Beklagte der Klägerin eins angeboten (bewilligt) hat, so ausgereift und technisch vervollkommnet sind, dass die früher zu verzeichnende Schwächen dieser Geräte ganz oder nahezu vollständig beseitigt worden und dadurch Braille-Zeilen insoweit überflüssig geworden wären. Letzteres ist aber nicht der Fall. Die Beklagte selbst macht eine solche Entwicklung nicht geltend. Sie hat nichts vorgetragen, was den Schluss zulässt, dass auf dem Markt befindliche (geschlossene) Lese-Sprech-Geräte inzwischen so weit entwickelt sind, dass eine Braille-Zeile überflüssig – und damit unwirtschaftlich - ist. Eine solche Entwicklung ist für den Senat auch nicht erkennbar. Dafür gibt es keinen überzeugenden Anhalt. Vielmehr sind auf dem Gebiet der Reha-Technik bei den Schreib-/Lesegeräten für Blinde die Systeme mit Braille-Zeilen nach wie vor vorherrschend. Sie sind als Arbeitsplatzsysteme für den professionellen Einsatz und als "Krankenkassensystem" für den Privatbereich erhältlich (vgl. etwa http:// www.novotech-gmbh.de/nt-reha.htm, abgerufen am 14. Februar 2005).

Nach alledem war entsprechend dem Urteilstenor zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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