L 2 U 22/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 685/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 22/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Entschädigung einer Erkrankung an Coxarthrose als oder wie eine Berufskrankheit (BK).

Die 1961 geborene Klägerin war seit September 1986 bei verschiedenen Bühnen als Tänzerin tätig gewesen. Zuletzt bestand ein befristeter Vertrag mit dem F für die Zeit vom 1. August 1994 bis 31. Juli 1996. Im Frühjahr 1995 traten bei der Klägerin erstmalig Schmerzen im linken Hüftgelenk auf, die sich nach zwischenzeitlicher Besserung in der Sommerpause im Dezember 1995 weiter verschlimmerten.

Im Juli 1996 beantragte die Klägerin deshalb die Anerkennung einer Berufskrankheit sowie berufliche Rehabilitation. Die Beklagte holte hierzu einen ersten Untersuchungsbefund und gutachterliche Stellungnahme zur Frage einer Berufskrankheit durch den Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. B vom 17. Oktober 1996 ein, der ausführte, dass röntgenologisch als ursächlich für die geklagte linksseitige Hüftschmerzsymptomatik mit beginnender Bewegungsbehinderung eine Gelenkveränderung im Sinne einer Hüftarthrose (Coxarthrose) zu erkennen sei. Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme von dem Landesinstitut für Arbeitsmedizin B vom 6. Mai 1997 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung durch Bescheid vom 7. Juli 1997 in der Fassung eines Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 ab, da Coxarthrosen nicht als Berufskrankheit im Sinne des § 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) in Verbindung mit der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) gelten würden und da auch die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII für eine Entschädigung einer Krankheit wie eine Berufskrankheit nicht vorlägen. Eine hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Gerichtsbescheid vom 1. September 1998 als unzulässig abgewiesen, da eine Prozessvollmacht nicht vorgelegt worden war; die hiergegen erhobene Berufung hat das Landessozialgericht Berlin durch Urteil vom 7. September 1999 zurückgewiesen (Az. S 8 U 318/98 / L 2 U 73/98).

Mit einem am 4. Mai 2000 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass einer Berufskrankheit. Sie führte zur Begründung aus, dass Hüftarthrosen zwar nicht als Berufskrankheit im Sinne des § 9 SGB VII gelten würden, dass es sich bei ihr im Einzelfall jedoch mehr als wahrscheinlich um eine Berufskrankheit aufgrund ihrer versicherten Tätigkeit als Tänzerin handeln würde. Sie habe mittlerweile erfahren, dass bei ihr früher weder eine Hüftdysplasie noch eine Fehlstellung der Hüftgelenke im Sinne einer Coxa vara oder valga vorgelegen hätten. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 25. April 2001 ab, ihren Verwaltungsakt vom 7. Juli 1997 gemäß § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren (SGB X) zurückzunehmen, da bei Erlass dieses Verwaltungsaktes weder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erwiesen habe, noch bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden sei. Eine Berufskrankheit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII liege nicht vor; eine Entschädigung nach der Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 2 SGB VII komme ebenfalls nicht in Betracht. Den hiergegen erhobenen und nicht begründeten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 5. September 2001 zurück.

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin erneut vorgetragen, dass ärztlicherseits gegen die Aufnahme eines Berufes als Tänzerin keinerlei Bedenken bestanden hätten, wie sich aus beigebrachten Attesten der Ärzte Dr. F vom 29. Dezember 1983, Dr. H vom 6. Mai 1980 und Dr. B vom 19. September 1985 ergebe. Ihre jahrelange Tätigkeit als Balletttänzerin stehe in direktem Zusammenhang mit ihrer jetzigen Erkrankung, was durch ein Attest des Chirurgen Dr. M vom 11. Februar 2000 belegt sei.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 27. Februar 2002 abgewiesen. Es komme nicht darauf an, ob die weit über das altersgemäße Ausmaß hinausreichende linksseitige Hüftgelenkarthrose der Klägerin in ihrem konkreten Einzelfall wegen der geltend gemachten besonderen Belastungen als Revuetänzerin im F auf ihre berufliche Tätigkeit zurückzuführen sei. Erforderlich sei vielmehr, dass seit der letzten Aktualisierung der Berufskrankheitenliste der Anlage 1 zur BKV neue und im Wesentlichen unbestrittene Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vorlägen, die es rechtfertigen würden, davon auszugehen, dass die Klägerin einer durch abstrakt-generelle Kriterien bestimmbaren Personengruppe zugehöre, die durch ihre versicherte Tätigkeit bestimmten, ebenfalls abstrakt-generell bestimmbaren, gefährdenden beruflichen Belastungen ausgesetzt war, welche in ihrem Ausmaß erheblich über der entsprechenden Gefährdung der übrigen Bevölkerung lägen. Jedenfalls neue allgemein anerkannte medizinisch- wissenschaftliche Erkenntnisse zu Hüftgelenkgefährdungen von Tänzerinnen seien in keiner Weise ersichtlich. Sei diese sogenannte BK-Reife im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII nicht gegeben, könne § 9 Abs. 2 SGB VII auch dann nicht zur Anwendung kommen, wenn im Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer beruflichen Tätigkeit und einer bestimmten Erkrankung nachgewiesen sei.

Gegen diesen ihr am 7. März 2002 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am Montag, dem 8. April 2002 beim Landessozialgericht Berlin eingegangene Berufung. Die Klägerin ist der Auffassung, dass die sogenannte "BK-Reife" zu bejahen sei. Die Häufigkeit von Hüftgelenkarthrosen bei Berufstänzern im Alter von 40 Jahren liege bei etwa 17,5 % und damit signifikant höher als bei der sonstigen Bevölkerung, bei der das Vorliegen einer derartigen Erkrankung im gleichen Alter auf 2 bis 7,5 % geschätzt werde. Professionelles Tanzen müsse als Hochleistungssport angesehen werden. Die Klägerin verweist auf folgende Artikel: M. Revel, A. Thiesce, B. Amor: Danse Professionnelle et Coxarthrose - Revue du Rhumatisme, 1989, 56 (4), 321-323; Sammarco C.J.: The dancer’s hip. Injuries to dancers, Clin. Sports Med., 1983, 2, 557-561; Helga Schmidt: Koxarthrose und Sport (1987); Borislav Alexiev, Dimiter Shoilev: Osteoarthrose und Spondylose bei Sportlern (1987) und auf Ausführungen eines J. Voll zu Sportverletzungen und Sportschäden. Auch der Autor David Stone (David Stone, M.D., Hip Problems in Dancers, Journal of Dance Medicine & Science 2001, 7 ff.) erwähne, dass ein signifikanter Unterschied zwischen Tänzern und der übrigen Bevölkerung im Hinblick auf degenerative Hüfterkrankungen festgestellt worden sei. Allerdings dürfte die von ihm herangezogene Studie nicht repräsentativ sein.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. Februar 2002 sowie den Bescheid vom 25. April 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 7. Juli 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 zurückzunehmen und ihr unter Anerkennung ihrer Hüftgelenkserkrankung als Berufskrankheit Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil rechtmäßig seien.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes eine Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gerichtet, ob dort medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne von § 9 Abs. 2, Abs. 1 Satz 2 SGB VII vorlägen, die eine Aktualisierung der Berufskrankheitenliste um das Erkrankungsbild Coxarthrose bei bestimmten Berufsgruppen, insbesondere bei professionellen Tänzern erwarten ließen. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung teilte mit Schreiben vom 6. November 2002 hierzu mit, dass dort derzeit keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne des § 9 SGB VII vorlägen. Man habe zwar Beratungen zu der Fragestellung "Arthrosen der großen Gelenke" aufgenommen. Die Thematik sei jedoch sehr komplex, man befinde sich noch im wissenschaftlichen Diskussionsprozess. Man erlaube sich jedoch den Hinweis, dass eine Anerkennung als Berufskrankheit nur möglich sei, wenn neue wissenschaftliche epidemiologische Erkenntnisse über die überhäufige Erkrankung bestimmter Personengruppen vorlägen. Dementsprechende Erkenntnisse seien dem Bundesministerium bisher nicht bekannt.

Das Gericht hat ferner eine entsprechende Anfrage an die Redaktion der Fachzeitschrift "Ballettanz" gerichtet, ob und gegebenenfalls welche Autoren sich medizinisch-wissenschaftlich mit der Problematik von Coxarthrose bei Berufstänzern befasst hätten. Herr R von der Redaktion der Zeitschrift teilte hierauf mit einem am 18. Februar 2003 eingegangenen Schreiben unter Bezugnahme auf eine "Fachärztin in Tänzerfragen" Dr. W mit, dass man lediglich zwei Beiträge zum Thema hätte ausfindig machen können (Boni Rietveld, M.D., B.A.: Dance Injuries in the Older Dancer, Journal of Dance Medicine & Science 2000, 20 ff. und David Stone, a.a.O. ). Das Gericht hat ferner Befundberichte des behandelnden praktischen Arztes E A (vom 28. April 2003), des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. M (vom 17. Juli 2003) sowie des Arztes K (vom 26. September 2003) eingeholt, auf die Bezug genommen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach? und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, jedoch in der Sache nicht begründet. Der angefochtene Bescheid vom 25. April 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2001 ist rechtmäßig. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, ihren Bescheid vom 7. Juli 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1998 zurückzunehmen, da bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist noch das Recht unrichtig angewandt worden ist, so dass die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X für eine Rücknahme nicht vorliegen. Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit dem Gerichtsbescheid vom 27. Februar 2002 zu Recht abgewiesen.

Der von der Klägerin verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der als entschädigungspflichtig geltend gemachte Versicherungsfall vor dem In-Kraft-Treten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII; vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2002, Az.: B 2 U 16/01 R, HVBG RdSchr VB 89/2002). Denn Dr. B hatte bereits in einer durch die Beklagte auf den Antrag der Klägerin aus Juni 1996 eingeholten gutachterlichen Stellungnahme am 17. Oktober 1996 festgestellt, dass röntgenologisch als ursächlich für die geklagte linksseitige Hüftschmerzsymptomatik mit beginnender Bewegungsbehinderung eine Gelenkveränderung im Sinne einer Hüftarthrose (Coxarthrose) zu erkennen sei. Weiter maßgebend sind die Bestimmungen der bis zum 31. November 1997 geltenden Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968 (BGBl. I, 721), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I, 2343 (BKVO); vgl. BSG, a.a.O.).

Eine Entschädigung aufgrund einer Anerkennung der Erkrankung der Klägerin an Coxarthrose als Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 1 RVO in Verbindung mit der Anlage 1 zur BKVO kommt ? wie auch unter den Beteiligten nicht streitig ist ? nicht in Betracht, weil es sich bei der Hüftgelenkarthrose nicht um eine anerkannte Berufskrankheit im Sinne der Anlage 1 zur BKVO handelt.

Ein Anspruch der Klägerin auf Anerkennung und Entschädigung ihrer Erkrankung an Coxarthrose besteht auch nicht gemäß § 551 Abs. 2 RVO, wonach eine Krankheit ggf. "wie eine Berufskrankheit" (sog. Quasi-BK) entschädigt werden kann.

Das Gericht war nicht gehindert, über den geltend gemachten Anspruch auf dieser Grundlage zu entscheiden. Zwar ist davon auszugehen, dass aufgrund des den Regelungen des § 551 Abs. 1 und 2 RVO zugrundeliegenden Prinzips des Entscheidungsvorbehaltes des Verordnungsgebers für die Anerkennung einer Berufskrankheit in dem Fall, dass aktive Beratungen des Verordnungsgebers zur Frage der Anerkennung einer Krankheit stattfinden, eine sog. Sperrwirkung in dem Sinne eintritt, dass vorliegende Erkenntnisse für die zeitlich begrenzte Dauer der Beratungsphase und des Entscheidungsprozesses einer Beurteilung der für die Anerkennung und Entschädigung einer Quasi-BK zuständigen Stelle entzogen sind (BSG, Urteil vom 4. Juni 2002, Az. B 2 U 20/01 R, ZfS 2002, 334). Diese Sperrwirkung tritt jedoch nur ein, wenn dem Verordnungsgeber medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und wenn aktive Beratungen stattfinden, deren Abschluss innerhalb einer "sozial verträglichen Zeitspanne" zu erwarten ist (BSG, a.a.O.). Vorliegend hat das zuständige Bundesministerium dem Gericht mit Datum vom 6. November 2002 mitgeteilt, dass Erkenntnisse zur hier streitigen Problematik nicht vorliegen und dass nicht abzusehen ist, wann mit einem Ergebnis gerechnet werden kann, so dass nicht vom Vorliegen einer Sperrwirkung auszugehen war.

§ 551 Abs. 2 RVO bestimmt ? im Wesentlichen inhaltsgleich mit dem von der Beklagten in Bezug genommenen § 9 Abs. 2 SGB VII ?, dass die Träger der Unfallversicherung im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen sollen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind. § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO bestimmt als Voraussetzung für die Bezeichnung von Krankheiten als Berufskrankheit durch Rechtsverordnung, dass diese nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Mit dieser Regelung sollen Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen wurden, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKVO noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten. Hierfür reicht es nicht aus, dass überhaupt medizinisch wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem jeweils relevanten Problemfeld existieren. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen sich vielmehr jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung über den Anspruch zur sogenannten BK-Reife verdichtet haben. Dies ist der Fall, wenn sich diesbezüglich bereits eine sogenannte herrschende Meinung im einschlägigen medizinischen Fachbereich gebildet hat. Im Regelfall kann die Annahme einer gruppentypischen Risikoerhöhung nur durch die Dokumentation einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und einer langfristigen Überwachung derartiger Krankheitsbilder begründet werden. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt sind (BVerfG SozR 2200 § 551 Nr. 11; BSG, SozR 2200 § 551 Nr. 27, BSG, SozR 3- 2200 § 551 Nr. 9 m.w.N. und BSG, HVBG RdSchr VB 89/2002).

Das Vorliegen derartiger Erkenntnisse zur streitigen Erkrankung der Coxarthrose bei Berufstänzern konnte vorliegend entgegen der von der Klägerin geäußerten Auffassung nicht festgestellt werden. Das zuständige Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat auf Anfrage mit Schreiben vom 6. November 2002 hierzu mitgeteilt, dass - obgleich man Beratungen zur Frage "Arthrosen der großen Gelenke" aufgenommen habe und sich zur Coxarthrose im wissenschaftlichen Diskussionsprozess befinde - neue wissenschaftliche epidemiologische Erkenntnisse über die überhäufige Erkrankung bestimmter Personengruppen, wie sie für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII erforderlich seien, dort nicht bekannt seien. Es muss davon ausgegangen werden, dass Beratungen erst auf der Grundlage bereits erfolgter Literaturrecherchen aufgenommen werden, da sie ansonsten keinen erkennbaren Sinn hätten.

Die von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an eine BK-Reife sind auch nicht aufgrund der von der Klägerin beigebrachten Artikel als erfüllt anzusehen. Revel/Thiesce/ Amor berichten über eine Umfrage, für die zwischen 1984 und 1986 416 Fragebögen an Tänzer verschickt worden seien. 133 Fragebögen seien zurückgekommen, 126 davon seien analysiert worden, hiervon wiederum seien 40 Personen untersucht worden. Es ist bereits zweifelhaft, ob dieser Artikel überhaupt den Anforderungen an eine medizinisch-wissenschaftliche Arbeit im Sinne der zitierten Rechtsprechung gerecht wird, da es sich im wesentlichen lediglich um die Auswertung einer Umfrage handelt und nicht um die "Dokumentation einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige Überwachung derartiger Krankheitsbilder", wie die Rechtsprechung sie fordert (BSG, HVBG RdSchr VB 89/2002). Im Artikel selbst ist zu Recht ausgeführt, dass es "offensichtlich problematisch" sei, den Prozentsatz von Hüftgelenkarthrosen, den man festgestellt habe, auf die Gesamtheit aller Profitänzer zu übertragen.

Der Artikel von Sammarco (The dancer´s hip, Clin Sports Med. 1983 Nov; 2(3):485-98), auf den die Klägerin weiter verweist, beschäftigt sich u.a. mit der Beobachtung von Tänzern bei der Arbeit, praktischen Ratschlägen bei Therapien und der Entwicklung von Tanztechniken zur Verringerung des Risikos von Verletzungen, enthält jedoch keine Untersuchung zu den vorliegend streitigen Fragen.

Dem von der Klägerin weiterhin beigebrachten Artikel "Koxarthrose und Sport" von Helga Schmidt sind keine das Klagebegehren unterstützenden Erkenntnisse zu entnehmen. Der Artikel berichtet über Längsschnittuntersuchungen von 439 Sportlern mit Beschwerden im Bereich des Stütz- und Bewegungssystems. Es wurde unterschieden zwischen Kampfsport, Sportspielen und technisch-kompositorischen Sportarten, wobei gerade für letztere, zu denen Tanzen am ehesten zu zählen sein dürfte, ausdrücklich ausgeführt ist, dass für diese keine degenerativen Gelenksveränderungen nachgewiesen werden konnten. Weiter ist hier ausgeführt, dass die Auswertung der einzelnen klinischen und röntgenologischen Befunde erkennen ließe, dass bei regelrechtem Hüftgelenksbefund und systematischem Trainingsaufbau trotz hoher sportlicher Beanspruchung keine degenerativen Hüftgelenksveränderungen aufgetreten seien.

Auch die von der Klägerin beigebrachten Ausführungen von Borislav Alexiev und Dimiter Shoilev enthalten keine Aussage zur Annahme einer gruppentypischen Risikoerhöhung; sie beschreiben vielmehr Faktoren und Mechanismen zur Entwicklung und Ausbreitung der genannten degenerativen Prozesse und enthalten im Übrigen auch keinerlei Aussagen zum Berufsbild des Tänzers. Nicht nachvollziehbar ist ferner, inwieweit die beigebrachten Ausführungen von J. Voll irgendwelche Erkenntnisse zu den hier streitigen Fragen erbringen sollen.

Auch den durch die Redaktion der Zeitschrift "Ballettanz" übersandten Artikeln waren Aussagen über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit nicht zu entnehmen. Der Artikel von Boni Rietveld "Dance Injuries in the Older Dancer" hat zum Gegenstand prädisponierende Faktoren für Verletzungen vor allem an Füßen und Knien von Tänzern und die Frage, was man hieraus für die Vorbeugung lernen kann. David Stone schließlich kommt in seinem Artikel "Hip Problems in Dancers" zu dem Ergebnis, dass die "degenerative joint disease" der Hüfte ein ungewöhnlicher Grund für das Ende einer Karriere als Tänzer ist. Es sei fraglich, ob es überhaupt ein höheres Vorkommen von degenerativen Gelenkerkrankungen bei früheren Tänzern gäbe (a.a.O., S. 10). Die Auswertung der von David Stone in den Quellen 19 bis 21 genannten weiteren Artikel ergab, dass Andersson u.a. (Degenerative joint disease in ballet dancers, Clin Orthop. 1989 Jan; (238):233-6) bei einer Untersuchung von 44 Personen, die zuvor als Tänzer gearbeitet hatten, sechs Fälle von Coxarthrose und damit deutlich mehr als in der allgemeinen Bevölkerung erwartet gefunden hatten, während van Dijk u.a. (Degenerative joint disease in female ballet dancers, Am J Sports Med. 1995 May-Jun; 23(3):295-300) nach einer Gegenüberstellung von 19 früher langjährig als professionelle Tänzer tätig gewesenen Frauen mit einer Kontrollgruppe zu dem Ergebnis kamen, dass sich keine bedeutsamen Unterschiede in Bezug auf degenerative Hüftgelenkserkrankungen gezeigt hätten. Teitz u.a. (Premature osteoarthrosis in professional dancers, Clin. J Sport Med. 1998 Oct; 8(4):255-9) kamen zu einem Schluss betreffend das erhöhte Vorkommen von Arthrose lediglich für Knie, Fußknöchel und Mittelfußgelenke, trafen jedoch keine entsprechende Aussage für die Hüfte.

Nach Auswertung sämtlicher durch die Klägerin beigebrachter und durch das Gericht beigezogener Unterlagen konnte nicht festgestellt werden, dass die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen der sog. BK-Reife auch nur ansatzweise erfüllt sein könnten. Es konnten überhaupt nur vereinzelte Untersuchungen zu dem Thema gefunden werden. Nur von zwei Gruppen von Autoren wurde ein erhöhtes Risiko für Hüfterkrankungen bei Tänzern bejaht (Revel u.a. von 1989 und Andersson u.a. von 1989), während van Dijk u.a. (1995), Helga Schmidt (1987) und David Stone (2001) ein erhöhtes Vorkommen von Hüftgelenkserkrankungen bei Tänzern ausdrücklich verneinen bzw. für fraglich halten. Damit konnte jedenfalls nicht festgestellt werden, dass zu dieser Frage eine sogenannte herrschende Meinung im einschlägigen medizinischen Fachgebiet existiert, wie sie vom BSG in den genannten Entscheidungen (a.a.O.) gefordert wird.

Nicht entscheidungserheblich war, ob die bei der Klägerin bestehende Hüftgelenkserkrankung ursächlich auf ihre Tätigkeit als Tänzerin zurückzuführen ist. Denn mit der Regelung des § 551 Abs. 2 RVO soll gerade nicht in der Art einer "Generalklausel" erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder wahrscheinlich ist, stets wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist (BSG, a.a.O.). Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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