L 1 B 46/04 AL ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 30 AL 320/04 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 B 46/04 AL ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 30.09.2004 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren. Im Übrigen sind Kosten im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Antragsteller wendet sich im vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entscheidung der Antragsgegnerin, gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) von seinem Arbeitslosengeld einen Betrag von 49,91 EUR wöchentlich zugunsten seiner unterhaltsberechtigten Kinder abzuzweigen (Bescheid vom 19.07.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2004). Mit dem von der Antragsgegnerin im Wege der Beschwerde angegriffenen Beschluss hat das Sozialgericht (SG) die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller gegen diesen Bescheid erhobenen Rechtsbehelfe (Widerspruch und Klage) festgestellt (Beschluss vom 30.09.2004). Es liege keine Herabsetzung der Leistung nach § 86a Abs. 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vor. Ungeachtet der Abzweigung sei der Antragsteller Berechtigter des Anspruchs auf Arbeitslosengeld geblieben. § 48 SGB I regele lediglich die Auszahlungsmodalitäten und bestimmte den Empfänger der Leistung. Dementsprechend bleibe der Antragsteller im Falle einer späteren Aufhebung der Bewilligung und Rückforderung des überzahlten Arbeitslosengeldes Schuldner des gesamten und nicht nur des nach Abzweigung verbliebenen Betrages (Hinweis auf BSG, Urteil vom 17.01.1991 - 7 RAr 72/90 - SozR 3-1300 § 50 SGB X).

Die hiergegen gerichtete zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.

Das SG hat zu Recht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Bescheid vom 22.06.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2004 festgestellt und sich für diese Entscheidung zutreffend auf § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG bezogen. Wegen der weiteren Begründung verweist der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG in entsprechender Anwendung).

Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin demgegenüber für ihre Auffassung, § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG sei auf Abzweigungen im Sinne von § 48 Erstes Buch Sozialgesetzbuch entsprechend anzuwenden, auf die amtliche Begründung der §§ 86a, 86b SGG. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die der Regelung des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG zu Grunde liegende Zielvorstellung des Gesetzgebers, die finanzielle Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungsträger zu sichern (BT-Drucks. 14/5943, S. 25), auch die hier maßgebliche Bestimmung des § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG (mit-)trägt. Die Abzweigung dient nämlich nicht diesem Zweck. Die abgezweigten Beträge kommen allein dem jeweiligen Unterhaltsgläubiger, nicht aber dem Haushalt der Antragsgegnerin zugute. Die Abzweigung führt auch nicht mittelbar zu einer Entlastung der Antragsgegnerin. Denn die Unterhaltsgläubiger haben aufgrund ihrer Bedürftigkeit im Regelfall keine eigenen Ansprüche gegen sie. Im Hinblick hierauf stellt sich die Abzweigung entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch aus Sicht des Leistungsempfängers nicht als Herabsetzung seines Leistungsanspruchs dar. Anders als bei der tatsächlichen Herabsetzung wird bei der Abzweigung nämlich nicht in erster Linie über die Frage entschieden, welcher Betrag ihm zusteht, sondern, wie er darüber zu verfügen hat.

Die möglicherweise im Einzelfall notwendige sofortige Vollziehung der Entscheidung rechtfertigt es ebenfalls nicht, den Rechtsbehelfen gegen sie pauschal die aufschiebende Wirkung zu versagen. Vielmehr hat die Antragsgegnerin gegebenenfalls die Befugnis, gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die sofortige Vollziehung "im überwiegenden Interesse eines Beteiligten", nämlich des nach § 12 Abs. 2 SGB X gegebenenfalls beteiligten Unterhaltsgläubigers, anzuordnen. Allerdings muss sie zuvor eine Interessenabwägung nach Maßgabe der individuellen Umstände anstellen. Die Notwendigkeit hierzu belegt im Übrigen, dass die auf den jeweiligen Einzelfall abhebende Vorschrift des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zur Lösung der Konfliktlage bei Unterhaltsfragen besser geeignet ist als § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG, der den Interessenausgleich zwischen dem Einzelnen und dem öffentlichen Interesse an der finanziellen Stabilität der Sozialversicherung pauschal regelt. Inwiefern nach dem Vortrag der Antragsgegnerin bei dieser Interessenabwägung auch Belange der abzweigenden Behörde zu berücksichtigen sein sollen, erschließt sich dem Senat hingegen nicht.

Soweit die Antragsgegnerin im Ansatz zutreffend darauf hinweist, dass insbesondere Pfändungen, bei denen eine ähnliche Interessenlage wie bei der Abzweigung besteht, als Herabsetzung bzw. Entziehung einer laufenden Leistung i.S.v. §§ 86 Abs. 2, 97 Abs. 2 SGG in der bis zum 01.01.2002 geltenden Fassung (a.F.) angesehen worden sind (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 15.05.1990 - L 6 B 45/89 - Justiz 1991, 168; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 26.08.1991 - L 8 S 8/91 - bei Tannen, DRV 1992, 45, 46 f.), ist zu berücksichtigen, dass diesen Vorschriften eine von der gegenwärtig geltenden Regelungssystematik abweichende Interessenverteilung zugrunde gelegen hat. Während nach altem Recht Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung hatten, hat der Gesetzgeber die Empfänger laufender Leistungen schon seinerzeit als besonders schutzwürdig angesehen, ihrem Widerspruch daher kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung beigemessen (§ 86 Abs. 2 SGG a.F.) und für den Fall der Klage jedenfalls die Möglichkeit ihrer Anordnung vorgesehen (§ 97 Abs. 2 SGG). Mithin waren die Leistungsempfänger bei der Herabsetzung und Entziehung schon vor Inkrafttreten der §§ 86a, 86b SGG in besonderer Weise geschützt. Es bestehen indessen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber des 6. SGG-Änderungsgesetzes, mit dem der einstweilige Rechtsschutz des SGG grundlegend neu geregelt worden ist, diesen Schutz maßgeblich zu Lasten der Leistungsempfänger verkürzen wollte.

Im Hinblick hierauf entspricht die hier vertretene Rechtsauffassung inzwischen der herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 04.09.2002 - L 7 AL 283/02 ER - FamRZ 2003, 333; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 08.06.2004 - L 3 ER 29/04 AL - Breith 2005, 67; Senat, Beschluss v. 17.01.2005 - L 1 B 1/05 AL ER - n.v.). Zu Unrecht bezieht sich die Antragsgegnerin demgegenüber auf die Entscheidung des Thüringer LSG vom 10.04.2003 (L 2 RJ 377/02 ER - HVBG-Info 2003, 1674). In diesem Fall ging es nämlich um die Verrechnung von rückständigen Sozialversicherungsbeiträgen gegen einen laufenden Rentenanspruch und damit um eine abweichende Konstellation, bei der die aufschiebende Wirkung bereits nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG entfiel.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Kosten der im Beschwerdeverfahren Beigeladenen waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, nachdem sie sich am Verfahren nicht beteiligt haben.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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