S 6 AL 58/02

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AL 58/02
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.) § 136 Abs.2 Satz 2 SGB III ist lediglich eine - Pauschalierungen enthaltende - Rechtsfolgenorm.
2.) Die typisierende Regelung ist in § 136 Abs. 1 SGB III enthalten. Erst wenn also Kirchensteuer als Abzug beim Arbeitsentgelt gewöhnlich anfällt, erfolgt die Berechnung nach § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III, ansonsten entfällt der Abzug.
3.) Nach der Berechnung des statistischen Bundesamtes errechnet sich für das Jahr 2001 nur noch ein Anteil von weniger als 55 % kirchenlohnsteuerpflichtige Arbeitnehmer, bezogen auf die Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Damit fällt ab 01.01.2001 Kirchensteuer bei Arbeitnehmern nicht mehr gewöhnlich an.
I. Die Beklagte wird in Abänderung der streitigen Bescheide verurteilt, die Leistungen an die Klägerin ab 27.09.2001 ohne einen fiktiven Abzug von Kirchensteuer zu zahlen. II. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendig entstandene außergericht-liche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe eines Anspruchs auf Zahlung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-hilfe.

Die am 1962 geborene Klägerin beantragte am 30.01.1998 die Zahlung von Arbeits-losengeld nach Tätigkeit als Aushilfe im Zeitraum 01.07.1992 bis 30.06.1995, als Hilfs-kraft im Zeitraum 01.08.1995 bis 31.03.1996 und als Reinigungskraft im Zeitraum 01.04.1996 bis 31.01.1998.

Die Beklagte bewilligte die beantragte Leistung ab 01.02.1998, ebenfalls ab 27.09.2001 nach Tätigkeit als Ausnäherin im Zeitraum 02.03.1998 bis 26.09.2001.

Mit streitigem Bescheid vom 02.11.2001 bewilligte die Beklagte in Abänderung des Be-scheides vom 30.10.2001 Leistungen nach dem erhöhten Leistungssatz.

Dagegen legte die Klägerin am 03.12.2001 über ihren Bevollmächtigten Widerspruch ein. Die Klägerin sei konfessionslos. Kirchensteuer dürfe daher nicht in Abzug gebracht wer-den.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.12.2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbe-gründet zurück. Gemäß § 136 Abs. 1 SGB III sei ohne Rücksicht darauf, ob eine Kirchen-mitgliedschaft bestehe, in einer typisierenden Weise Kirchensteuer in Abzug zu bringen.

Dagegen hat die Klägerin am 21.01.2001 über ihren Bevollmächtigten Klage erhoben.

Mit Schreiben vom 04.07.2003 übersandte das Gericht jeweils an die Beteiligten eine Ko-pie des Schreibens des Statistischen Bundesamtes vom 21.05.2003. Dieses Schreiben des Statistischen Bundesamtes vom 21.05.2003 enthält einerseits Ausführungen zur Lohn- und Einkommensteuerstatistik 1998, andererseits Hinweise und Berechnungen zur voraussicht-lichen Entwicklung bis 2001. Dem Schreiben sind verschiedene Übersichten beigefügt sowie als Anlage 2 eine Kommentierung zu diesen Übersichten. Unter Nr. 4 dieser Kom-mentierung ist der Hinweis enthalten, dass das Statistische Bundesamt in Übereinstim-mung mit dem Bundessozialgericht eine "deutliche Mehrheit" dann für gegeben hält, wenn ein Wert von 55 % erreicht wird. Unter Nr. 5 der Kommentierung wird darauf hingewie-sen, dass im Jahr 1995 der Anteil der kirchenlohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer 59,9 % betrug, im Jahr 1998 nur noch 57,1 %. Dies entspreche einer Differenz von 2,8 Prozent-punkten. Im gleichen Zeitraum sei der Anteil der Angehörigen der evangelischen und ka-tholischen Kirche an der Gesamtbevölkerung von 67,6 auf 66,1 % gefallen. Jedoch sei der Anteil der Kirchenmitglieder unter der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmerschaft in diesem Zeitraum stärker gesunken als der Anteil der Kirchenmitglieder in der Bevölke-rung. Selbst bei der vorsichtigen Annahme, dass die alte Differenz von 2,8 Prozentpunkten zwischen 1998 gegenüber 1995 auch auf die Entwicklung 1998/2001 zuträfe, läge die neue Anteilsmarke für 2001 bei 54,3 %. Unterstelle man, dass bei dem Anteil der Kirchen-lohnsteuerpflichtigen die Differenz über den Zeitraum 1995/1998 von 2,8 Prozentpunkten sich proportional zur Differenz bei den Kirchenmitgliedern entwickelt, so würde sich der Anteil auf 53,9 % verringern.

Mit Schreiben vom 18.07.2003 wies die Beklagte darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Änderung der für den typisierenden Kirchensteuerabzug maßgeblichen Vorschriften noch nicht vorgenommen hat.

In der mündlichen Verhandlung am 06.08.2003 wurde das Ruhen des Verfahrens angeord-net.

Mit Schriftsatz vom 28.08.2003 beantragte die Beklagte die Weiterführung des Verfahrens.

Die vorstehenden Ausführungen betreffen das Verfahren S 6 AL 58/02. Diesem Verfahren wurde mit Beschluss vom 31.08.2004 das Verfahren S 6 AL 1602/03 hinzuverbunden.

Im Verfahren S 6 AL 1602/03 ist streitig der Bescheid vom 22.08.2003, mit dem der Klä-gerin ab 01.08.2003 Arbeitslosenhilfe unter Abzug eines Kirchensteuerbetrages bewilligt wurde. Den Widerspruch vom 25.09.2003 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2003 als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin über ihren Bevollmächtigten am 17.11.2003 Klage erhoben.

Schon vor der Verbindung der beiden Verfahren haben die Beteiligten das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Die Schreiben der Beklagten zu beiden Verfahren stammen hierzu vom 19.03.2004, ebenfalls das Schreiben des Kläger-bevollmächtigten in der Sache S 6 AL 1602/03. In der Sache S 6 AL 58/02 erfolgte die Erklärung hierzu im Schreiben vom 21.04.2004.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt sinngemäß (Schreiben vom 21.01.2002 und 14.11.2003):

1. Die Beklagte wird verurteilt, ab November 2001 Arbeitslosengeld und ab 01.08.2003 Arbeitslosenhilfe ohne einen fiktiven Kirchensteuerabzug zu zahlen. 2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Vertreter der Beklagten beantragen (Schreiben vom 13.02.2002 und vom 26.01.2004),

die Klagen abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese, die Prozessakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwie-sen.

Entscheidungsgründe:

Die Klagen sind form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klagen sind auch begründet. § 136 Abs. 2 SGB III ist als Rechtsfolgenorm zu sehen. Seit 01.01.2001 ist keine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer mehr kirchenlohnsteuer-pflichtig.

A.

Gesetzliche Grundlagen

Gemäß § 129 SGB III beträgt das Arbeitslosengeld 67 % bzw. 60 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt).

Gemäß § 130 Abs. 1 SGB III umfasst der Bemessungszeitraum die Entgeltabrechnungs-zeiträume, die in den letzten 52 Wochen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen Ver-sicherungspflicht bestand, enthalten sind.

Gemäß § 132 Abs. 1 SGB III ist Bemessungsentgelt das im Bemessungszeitraum durch-schnittlich auf die Woche entfallende Entgelt.

Gemäß § 136 Abs. 1 SGB III ist Leistungsentgelt das um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderte Bemessungsentgelt.

Nach § 136 Abs. 2 Satz 1 SGB III sind Entgeltabzüge die Steuern, die Beiträge zur Sozial-versicherung und zur Arbeitsförderung sowie die sonstigen gewöhnlich anfallenden Abzü-ge, die zu Beginn des Kalenderjahres maßgeblich sind, soweit in Satz 2 Nr. 2 und 3 nichts Abweichendes bestimmt ist. Dabei ist nach Satz 2 Nr. 2 zugrunde zu legen für die Kir-chensteuer die Steuer nach dem im Vorjahr in den Länder geltenden niedrigsten Kirchen-steuer-Hebesatz.

B.

Im vorliegenden Fall sind Bemessungszeitraum und Bemessungsentgelt nicht streitig. Die Problematik besteht darin, ob zur Ermittlung des Leistungsentgelts der Klägerin vom Be-messungsentgelt ein fiktiver Kirchensteuerabzug vorgenommen werden kann, obwohl die Klägerin nicht Mitglied einer Kirchensteuer erhebenden Religionsgemeinschaft gewesen ist.

C.

Die 6. Kammer möchte hier zunächst auf ihr Urteil vom 14.12.1995 hinweisen, Az.: S 6 Al 847/95. Zwar liegen mittlerweile aktuelle statistische Daten vor. Weiterhin bezieht sich dieses Urteil auf einen Zeitraum, in dem noch das Arbeitsförderungsgesetz galt. Die Rechtslage zum fiktiven Abzug von Kirchensteuer in den Vorschriften des Arbeitsförde-rungsgesetzes hat sich jedoch auch in den Vorschriften des SGB III fortgesetzt. Zur Ein-ordnung der Problematik des vorliegenden Falles hält es das Gericht für sinnvoll, zunächst die Begründung für dieses Urteil im Wesentlichen wiederzugeben:

Die Klage ist auch begründet. Dies ergibt sich aus einer dreifachen Argumentation.

I.

Die 6. Kammer hält § 111 Abs. 1 AFG insoweit für verfassungswidrig, als diese Vorschrift auch für den fiktiven Abzug von Kirchensteuer eine typisierende Betrach-tungsweise dergestalt anordnet, dass bei allen Leistungsempfängern ein fiktiver Kir-chensteuerabzug vorzunehmen ist, falls ein solcher Abzug bei Arbeitnehmern ge-wöhnlich anfällt.

II.

Auch wenn man § 111 Abs. 1 AFG als verfassungsgemäß einordnet, verstößt die jährlich vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zu erlassende Rechtsverordnung, in der die konkreten Leistungssätze für das Arbeitslosengeld ent-halten sind, insoweit gegen tragende verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Grundsätze, als bei der Berechnung der Leistungssätze ohne verlässliche Zahlen da-von ausgegangen wird, dass Kirchensteuer bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfällt.

III.

Spätestens seit 03.10.1990 ist zweifelhaft, ob Kirchensteuer bei Arbeitnehmern - be-zogen auf das gesamte Bundesgebiet - gewöhnlich anfällt. Dieser Nachweis ist man-gels entsprechender Daten objektiv nicht zu führen. Die objektive Beweislast hierfür liegt bei der Beklagten.

1. Zunächst sollen die bisher ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts, die Vorlagebeschlüsse hierzu sowie die Rechtsprechung des Bundessozialge-richts in zeitlicher Reihenfolge kurz dargestellt und gewürdigt werden.

1.1. Der Vorlagebeschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 30.01.1985, Az.: L - 6/Ar 1441/83.

Das Hessische Landessozialgericht hat mit seinem Vorlagebeschluss vom 30.01.1985 dem Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Grundgesetz (GG) die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 111 Abs. 2 Nr. 2 AFG mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Artikel 3 Abs. 1 GG, vereinbar ist. Begründet wurde die Vorlage damit, der vorlegende Senat sei der Auffassung, dass der generelle (fik-tive) Kirchensteuerabzug bei Berechnung des Arbeitslosengeldes auch bei den Ar-beitnehmern, die keiner (kirchensteuerberechtigten) Konfession angehören, einen Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG darstelle. Soweit § 111 Abs. 1 AFG von gesetzli-chen Abzügen spreche, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfielen, sei in § 111 Abs. 2 AFG im Einzelnen festgelegt, um welche Arten von gewöhnlich anfallenden Abzügen es sich handele. Hierbei sei auch die Kirchensteuer aufgeführt. Das Hessi-sche Landessozialgericht argumentiert in seiner Vorlage damit, dass es sich bei der Kirchensteuer um eine eigenständige Steuer handelt. Diese eigenständige Steuer könne nicht dazu führen, dass auch bei Arbeitslosen, die dieser Steuerpflicht über-haupt nicht unterliegen, eine Verminderung des Arbeitslosengeldes eintrete. Darüber hinaus handele es sich bei der Kirchensteuer auch nicht (mehr) um einen gesetzli-chen Abzug, der bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfalle. Nach den beim Statistischen Bundesamt für das Jahr 1982 eingeholten Zahlen habe ein Bevölkerungsanteil von 14,52 % weder der evangelischen noch der katholischen Kirche angehört. Das Hessi-sche Landessozialgericht nennt im Verlauf weitere Zahlen, stellt jedoch auch fest, dass die von ihm angeführten statistischen Angaben nicht auf die abhängig Beschäf-tigten konkretisierbar seien. Der Abzug von Kirchensteuer bei Arbeitnehmern, die keiner (kirchensteuerberechtigten) Konfession angehören, stelle sich somit als will-kürliche Gleichbehandlung im Sinne eines Verstoßes gegen Artikel 3 Abs. 1 GG mit Arbeitnehmern dar, die einer (kirchensteuerberechtigten) Konfession angehörten. Für diese willkürliche Gleichbehandlung gebe es keinen sachlichen Grund. Die Bundes-anstalt für Arbeit müsse in der Lage sein, die zur schnellen Feststellung der Leis-tungshöhe verwendeten Tabellen um eine Spalte mit Leistungssätzen zu erweitern, die einen fiktiven Kirchensteuerabzug nicht beinhalten.

1.2. Der Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 01.07.1993, Az.: 13 Ar 817/92

Das Sozialgericht Hamburg hat in seinem Vorlagebeschluss vom 01.07.1993 dem Bundesverfassungsgericht die vom Hessischen Landessozialgericht formulierte Fra-ge erneut vorgelegt. Auch das Sozialgericht Hamburg geht in seiner Begründung da-von aus, dass § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG vorschreibe, welche Abzüge als bei Ar-beitnehmern gewöhnlich anfallende Abzüge in die Leistungsverordnung des Bun-desministers für Arbeit und Sozialordnung einzuarbeiten sind. Das Sozialgericht Hamburg schließt sich in seinem Vorlagebeschluss den Ausführungen des Hessi-schen Landessozialgerichts vom 30.01.1985 mit dem Hinweis an, dass einerseits der Mitgliederschwund der kirchensteuerberechtigten Religionsgemeinschaften noch an-gestiegen sei und andererseits nur eine sehr geringe Anzahl von Arbeitnehmern im Beitrittsgebiet einer solchen Religionsgemeinschaft angehört hat. Wenn bei den Leis-tungen an die Arbeitslosen nach individuell unterschiedlichen Lohnsteuerklassen dif-ferenziert werden könne, müsse es auch möglich sein, das Merkmal Kirchensteuer-pflicht zu berücksichtigen. Über die Argumentation des Hessischen Landessozialge-richts hinaus verweist das Sozialgericht Hamburg auf das Gebot der religiösen Neut-ralität des Staates, das sich aus Artikel 4 und 33 GG ergebe, sowie auf das Sozial-staatsgebot des Artikel 20 GG. Die Religionsgemeinschaften übten keine staatliche Aufgabe aus, dementsprechend sei eine Kirchensteuerpflicht auch keine staatsbürger-liche Pflicht.

1.3. Der Beschluss des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom 23.03.1994, Az.: 1 BvL 8/85

Auf die Vorlage des Hessischen Landessozialgerichts hat der 1. Senat des Bundes-verfassungsgerichtes mit Beschluss vom 23.03.1994 entschieden, dass § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, auch soweit davon Arbeitslose betroffen sind, die einer kirchensteuererhebenden Kirche nicht angehören. Auch das Bundesverfassungsgericht geht in diesem Beschluss davon aus, dass § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG die Berücksichtigung des Kirchensteuerabzuges vorschreibe. Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus, dass sich die von den versicherungs-pflichtigen Arbeitnehmern während eines Beschäftigungsverhältnisses zu erbringen-den Beiträge nach dem Bruttoarbeitsentgelt bestimmen und daher für Mitglieder ei-ner Kirche wie für Nichtmitglieder gleich hoch sind.

Im Verlauf seiner Ausführungen gibt das Bundesverfassungsgericht Auszüge aus ei-ner Stellungnahme des Bundessozialgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des § 111 Abs. 2 AFG wieder.

1.3.1. Nach Meinung des Bundessozialgerichts bewirkt die Regelung des § 111 Abs. 2 AFG, dass Arbeitslose, die einer zur Steuererhebung berechtigten Kirche an-gehörten, das Arbeitslosengeld in der gleichen Höhe erhielten, wie Arbeitslose, die bei im Übrigen gleichen Verhältnissen nicht Angehörige einer solchen Kirche seien. Dies sei allerdings keine Folge des § 111 Abs. 2 Satz AFG, sondern des Umstandes, dass für beide Arbeitnehmergruppen nicht unterschiedliche, sondern die gleichen Leistungssätze vorgesehen seien. Auch wenn das Gesetz vorschriebe, dass die Kir-chensteuer bei der Bestimmung der Leistungssätze nicht zu berücksichtigen sei, die Höhe des Arbeitslosengeldes somit an dem pauschalierten Nettoarbeitsentgelt eines nicht kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmers ausgerichtet wäre, erhielten beide Gruppen von Arbeitslosen den gleichen Leistungssatz.

Würdigung: Die Argumentation im vorstehenden letzten Satz erscheint zweifelhaft. Welche Re-gelung der Gesetzgeber treffen würde, um einen etwa verfassungswidrigen Zustand zu beenden, kann das Bundessozialgericht nicht argumentativ unterstellen. Ein etwa verfassungswidriger Zustand kann nach Ansicht der 6. Kammer nicht damit gerecht-fertigt werden, dass sich im Falle einer bestimmten Lösung wiederum keine unter-schiedlichen Leistungssätze ergeben würden. Die Argumentation des nicht kirchen-angehörigen Klägers richtet sich ja gerade gegen gleich hohe Leistungssätze. Im Üb-rigen wären die Leistungssätze bei den vom Bundessozialgericht angesprochenen Möglichkeiten zumindestens höher als bisher.

1.3.2. Nach Meinung des Bundessozialgerichts wird schon hieraus ersichtlich, dass Prüfungsmaßstab der Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG sei, nicht Artikel 4 Abs. 1 GG. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltan-schaulichen Bekenntnisses werde durch die von der Vorlage betroffene Vorschrift nicht berührt. Artikel 4 Abs. 1 GG umfasse zwar das Recht, nicht zu öffentlichen Abgaben herangezogen zu werden, die nur von Kirchenmitgliedern erhoben werden dürften. Die Regelung des § 111 AFG ziehe jedoch niemanden zu Abgaben heran.

Würdigung: Das Arbeitslosengeld ist eine Nettoleistung und damit steuer- und abgabenfrei. Dem-entsprechend werden die Leistungsempfänger tatsächlich nicht zur Zahlung von Ab-gaben herangezogen. Dies ist jedoch keine Besonderheit bezüglich der Kirchensteu-er. Schließlich zahlen die Leistungsempfänger auch tatsächlich keine Lohnsteuer und keine Sozialversicherungsbeiträge. Es geht also nach Ansicht der Kammer nicht dar-um, ob die Leistungsempfänger zur Zahlung von Abgaben herangezogen werden, sondern darum, dass die Zahlung bestimmter Abgaben unterstellt wird und sich da-nach - in einer typisierenden Berechnungsweise - die Höhe der Leistung richtet.

1.3.3. Nach Meinungen des Bundessozialgerichts ist der allgemeine Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG nicht verletzt. Die von der Vorlage für geboten erachtete Folge, dass Arbeitslose, die einer Kirche nicht angehörten, nach dem derzeit gelten-den Nettosystem mehr Arbeitslosengeld zu erhalten hätten, ohne dass die Mehrleis-tung durch einen Mehrbedarf erklärt werden könnte oder bei den einer Kirche ange-hörenden Arbeitslosen ein der Mehrleistung entsprechender Betrag zu Gunsten der jeweiligen steuerberechtigten Kirche abgeführt werde, dürfte nach Ansicht des Bun-dessozialgerichts auf allgemeines Unverständnis stoßen, weil die Mehrleistung an kirchenfremde Arbeitslose als Prämie der Arbeitslosenversicherung für das Fernblei-ben von der Kirche empfunden werden müsse. Es könne dahingestellt bleiben, ob ei-ne solche Gestaltung der Arbeitslosenversicherung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates gerecht würde. Jedenfalls werde die Regelung schon durch das Ziel gerechtfertigt, den Eindruck zu vermeiden, dass durch die Gewährung höhe-ren Arbeitslosengeldes Einfluss auf die Entscheidung von Arbeitnehmern genommen werde, ob sie einer Kirche angehören wollen.

Würdigung: Zum Stichwort "Mehrbedarf" ist auszuführen, dass das Arbeitslosengeld nicht be-darfsorientiert gezahlt wird, sondern einen bestimmten Anteil des vor dem Leis-tungsbezug erzielten Nettoentgeltes ersetzen soll. Mit einem etwaigen Mehrbedarf nicht kirchenangehöriger Leistungsempfänger kann daher nach Ansicht der 6. Kam-mer nicht argumentiert werden. Zu den Ausführungen "tatsächliche Zahlung an die steuerberechtigten Kirchen" ist zu sagen, dass es nach Ansicht der Kammer nur konsequent wäre, wenn die Bundesan-stalt für Arbeit das durch den fiktiven Kirchensteuerabzug Ersparte auch an die Reli-gionsgemeinschaften abführen würde, denn mit dem Argument "(fiktive) Kirchen-mitgliedschaft" wird es schließlich einbehalten. Eine solche tatsächliche Zahlung der Bundesanstalt für Arbeit ist keineswegs systemfremd. Auch im Stadium der Arbeits-losigkeit besteht bezüglich einer etwaigen Krankheit Versicherungsschutz. Die Bun-desanstalt für Arbeit zahlt für diesen Versicherungsschutz tatsächlich Beiträge für die Leistungsempfänger an die zuständigen Krankenversicherungsträger. Ebenfalls wer-den Zahlungen an die zuständigen Rentenversicherungsträger geleistet. Die Argumentation zur "Prämie" empfindet die 6. Kammer als unangemessen. Die Öffentlichkeit kann nach Ansicht der 6. Kammer durchaus nachvollziehen, dass der von den Klägern angestrebte höhere Leistungssatz auf der Kirchensteuerfreiheit be-ruht. Es darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass die Nichtmitglied-schaft in einer kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft die Kirchensteuer-freiheit zur Folge hat mit dem Resultat einer Erhöhung der Nettoeinkommen dieser kirchensteuerfreien Arbeitnehmer. Auch die Argumentation "Vermeidung eines Eindrucks der Einflussmaßnahme" überzeugt nicht. Überspitzt ausgedrückt hieße dies doch, dass die nicht kirchenange-hörigen Leistungsempfänger deshalb schlechter gestellt werden sollen, damit für die kirchenangehörigen Leistungsempfänger ein Anreiz vermieden wird, aus der Kirche auszutreten, um höheres Arbeitslosengeld zu erhalten. Genau dies bedeutet aber ge-rade eine Einflussnahme zu Gunsten der Kirche. Der Staat kann daher seiner Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität im Rahmen des Arguments "Vermeidung von Ein-flussnahme" nach Ansicht der 6. Kammer einzig dadurch begründbar genügen, dass er die Möglichkeit der Arbeitnehmer, durch die Nichtmitgliedschaft in einer Kirche das Nettoentgelt zu erhöhen, auch an die Leistungsempfänger weitergibt.

Im Folgenden stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG in der maßgeblichen Zeit (die Vorlage des Hessischen Landessozialge-richts stammt vom 30.01.1985) sowohl mit Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG als auch mit Artikel 4 Abs. 1 GG sowie Artikel 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.

1.3.4. In der Argumentation zu Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG führt das Bundesverfas-sungsgericht aus, es sei sachgerecht, für die Bemessung des Arbeitslosengeldes grundsätzlich an den Nettolohn anzuknüpfen. Dabei könne der Gesetzgeber sich aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität für eine Pauschalierung entscheiden, die ei-ne zügige Feststellung der Leistungshöhe ermöglicht. Auch bezüglich der Kirchen-steuer sei eine typisierende Regelung möglich. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehindert, bei der Berechnung des Nettolohnes auch Abgaben zu be-rücksichtigen, die an eine individuelle Entscheidung des Arbeitnehmers anknüpfen, solange er sich in den Grenzen zulässiger Typisierung hält. Das ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der Fall, wenn er aufgrund statistischer Erkenntnisse da-von ausgehen kann, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer die Abgabe zu zahlen hat und deren Abzug nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes lag diese Voraussetzung bei der Kirchensteuer vor, als der Gesetzgeber die zur Prüfung gestellte Vorschrift schuf. Knüpfe der Gesetzgeber bei einer typisierenden Regelung an statistische Erkenntnisse an, müsse er aber die weitere Entwicklung beobachten, um wesentlichen Veränderungen rechtzeitig Rech-nung tragen zu können. Dies erfordere das Gebot der Normenklarheit. Zu einer Überprüfung, ob die Kirchensteuer auch künftig noch als "gewöhnlich" anfallender Abzug anzusehen sei, dürfte nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerich-tes schon deshalb Anlass bestehen, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern keiner Kirche angehöre, die Kirchensteuer erhebt.

1.3.5. Der Schutzbereich des Artikel 4 Abs. 1 GG sei nicht berührt. Die Leistungs-sätze für das Arbeitslosengeld seien gleich hoch, ohne Rücksicht darauf, ob der Ar-beitslose in seinem früheren Beschäftigungsverhältnis Kirchensteuer entrichtet hat oder nicht. Die Regelung gebe also weder einen Anreiz, aus einer Kirche auszutreten, noch einen Anreiz, die Mitgliedschaft in einer Kirche anzustreben. Die Regelung des § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG berühre daher die Freiheit des religiösen Bekenntnis-ses nicht.

1.3.6. Zu Artikel 3 Abs. 1 GG führt das Bundesverfassungsgericht aus, es bleibe grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will. Allerdings müsse er die Auswahl sachgerecht treffen. Artikel 3 Abs. 1 GG sei dann verletzt, wenn für die gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte ein vernünfti-ger, einleuchtender Grund fehle. Danach sei die zur Prüfung gestellte Regelung nicht zu beanstanden. Sie habe zur Folge, dass die Versicherten - ohne Rücksicht auf ihre Kirchenzugehörigkeit - bei gleicher Beitragsleistung und gleicher Bedarfssituation gleiche Versicherungsleistungen erhalten. Das entspreche dem Beitrags- oder Versi-cherungsprinzip, also dem Grundsatz der Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung sei es allerdings nicht geboten, das Arbeitslo-sengeld in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen. Ein Versicherter, der keiner steuererhebenden Kirche angehört, habe zwar in der Zeit vor seiner Arbeitslo-sigkeit über höhere Geldmittel verfügt als ein vergleichbarer Kirchensteuer zahlender Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber sei aber nicht gezwungen, das die Arbeitslosenversi-cherung beherrschende Prinzip der Beitragsäquivalenz zu durchbrechen, um diesem Umstand Rechnung zu tragen. Das Lebensstandardprinzip sei kein Verfassungsge-bot. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehalten, dem Arbeitslosen durch die Bemessung des Arbeitslosengeldes die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards voll zu ermöglichen. So sei es beispielsweise auch nicht geboten, bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes zuvor geleistete Überstunden zu berück-sichtigen, um dem Versicherten die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstan-dards zu sichern. Hiernach sei das Prinzip der Beitragsäquivalenz ein hinreichender sachlicher Gesichtspunkt, um die zur Prüfung gestellte Regelung zu rechtfertigen.

Anmerkung: Hier überzeugt nach Ansicht der 6. Kammer nicht, dass das Bundesverfassungsge-richt das Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung - vom Bundesverfas-sungsgericht als Beitragsäquivalenz bezeichnet - als das die Arbeitslosenversiche-rung beherrschende Prinzip bezeichnet, gleichzeitig jedoch ausführt, dass es im Be-reich der Arbeitslosenversicherung nicht geboten sei, die Leistung Arbeitslosengeld in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen. Als Beispiel führt das Bundes-verfassungsgericht ins Feld, dass bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes zuvor geleistete Überstunden nicht zu berücksichtigen seien. Wenn schon das Prinzip der Beitragsäquivalenz im Bereich der Arbeitslosenversicherung nur aufgeweicht gilt, erscheint es zweifelhaft, dieses Prinzip der Beitragsäquivalenz als hinreichenden sachlichen Grund im Rahmen der Prüfung zu Artikel 3 Abs. 1 GG anzuführen. Schließlich spricht das - nach Ansicht der 6. Kammer mindestens gleich starke - Prinzip des Nettolohnersatzes für das Anliegen der Kläger. Die Argumentation zur vollen Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards ist nach Meinung der 6. Kammer ebenfalls nicht stringent. Die Leistungen der Bundes-anstalt für Arbeit haben nicht das Ziel, den vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erreichten Lebensstandard zu erhalten. Dafür reicht ein Betrag von etwa 2/3 des vorherigen Nettolohnes nach Ansicht der 6. Kammer nicht aus.

1.4. Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.09.1994, Az.: 11 RAr 97/93

In seinem Urteil vom 15.09.1994 führt das Bundessozialgericht aus, gemäß § 111 Abs. 2 Nr. 2 AFG seien als gesetzliche Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, vom Verordnungsgeber auch die hier streitigen Kirchensteuern zu berück-sichtigen. Nach Meinung des Bundessozialgerichts bestand für die dort streitige Zeit vom 01.01. bis 30.06.1992 keine Evidenz, die zu der Annahme zwinge, dass § 111 Abs. 2 Nr. 2 AFG mit dem vom Gesetzgeber gewählten Ansatz und dem Gebot der Normenklarheit inzwischen nicht mehr vereinbar sei. Diese Grundsätze gelten nach Ansicht des Bundessozialgerichts auch für die dort streitige Leistung "Altersüber-gangsgeld".

2. Die 6. Kammer des Sozialgerichts Chemnitz möchte nun ihren eigenen Ansatz verdeutlichen. Dieser besteht darin, dass § 111 Abs. 2 Satz 2 AFG lediglich eine Ausführungsvorschrift zu § 111 Abs. 1 AFG ist. Dementsprechend muss sich die Prüfung der Verfassungswidrigkeit auf § 111 Abs. 1 AFG konzentrieren.

Die Vorschriften des § 111 Abs. 1 und Abs. 2 AFG lauten wie folgt:

"Abs. 1: Das Arbeitslosengeld beträgt 1. für Arbeitslose, die mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 4 und 5 des Einkommensteuergesetzes haben, sowie für Arbeitslose, deren Ehegatte mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 4 und 5 des Einkommensteuergesetzes hat, wenn beide Ehegatten unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd ge-trennt leben, 67 vom Hundert 2. für die übrigen Arbeitslosen 60 vom Hundert des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, ver-minderten Arbeitsentgelts (§ 112).

Abs. 2: Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bestimmt die Leistungssätze jeweils für ein Kalenderjahr durch Rechtsverordnung. Dabei hat es zugrunde zu le-gen: 1. als Lohnsteuer a) die Steuer nach der allgemeinen Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse I ohne Kinderfreibetrag (Leistungsgruppe A) bei Arbeitnehmern, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse I oder IV eingetragen ist; b) die Steuer nach der allgemeinen Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse I ohne Kinderfreibetrag unter Berücksichtigung eines Freibetrages in Höhe des Haushalts-freibetrages nach § 32 Abs. 7 des Einkommensteuergesetzes (Leistungsgruppe B) bei Arbeitnehmern, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse II eingetragen ist; c) die Steuer nach der allgemeinen Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse III ohne Kinderfreibetrag (Leistungsgruppe C) aa) bei Arbeitnehmern, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse III eingetra-gen ist und bb) bei Arbeitnehmern, die von ihrem nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichti-gen Ehegatten nicht dauernd getrennt leben, wenn sie darlegen und nachweisen, dass der Arbeitslohn des Ehegatten weniger als 40 vom Hundert des Arbeitslohns beider Ehegatten beträgt; bei der Bewertung des Arbeitslohns des Ehegatten sind die Ein-kommensverhältnisse des Wohnsitzstaates zu berücksichtigen; d) die Steuer nach der allgemeinen Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse V (Leistungsgruppe D) bei Arbeitnehmern, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse V eingetragen ist sowie e) die Steuer nach der allgemeinen Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse VI (Leistungsgruppe E) bei Arbeitnehmern, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse VI eingetragen ist, weil sie noch aus einem weiteren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen; 2. als Kirchensteuer-Hebesatz den im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuer-Hebesatz; 3. als Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung die Hälfte des gewogenen Mit-tels der am 1. Juli des Vorjahres geltenden allgemeinen Beitragssätze; 4. als Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung die Hälfte des geltenden Beitrags-satzes der Rentenversicherung der Arbeiter und der Rentenversicherung der Ange-stellten; 5. als Leistungsbemessungsgrenze die nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 für den Beitrag zur Bundesanstalt geltende Beitragsbemessungsgrenze. Die Leistungssätze sind auf den nächsten durch 60 teilbaren Pfennig-Betrag zu run-den. Die Rechtsverordnung kann bestimmen, dass geänderte Leistungssätze vom Be-ginn des Zahlungszeitraumes (§ 122) an gelten, in dem sie in Kraft tritt. Sie kann fer-ner bestimmen, dass für Arbeitslose, die bei Inkrafttreten die Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllen, bisherige günstigere Leistungssätze wei-terhin maßgebend sind, soweit dies zur Vermeidung von Härten erforderlich ist. Än-derungsbescheide werden mit dem Tage wirksam, von dem an die geänderten Leis-tungssätze gelten."

Die 6. Kammer versteht die eben aufgeführte Regelung dahingehend, dass § 111 Abs. 1 AFG die Höhe des Arbeitslosengeldes prozentual festlegt und dabei vor-schreibt, dass hierbei diejenigen gesetzlichen Abzüge anzusetzen sind, die bei Ar-beitnehmern gewöhnlich im Sinne von "typischerweise" anfallen. Für diese in § 111 Abs. 1 AFG enthaltene typisierende Regelung enthält § 111 Abs. 2 Satz 2 AFG le-diglich Ausführungsbestimmungen.

Nach der Gesetzessystematik legen § 111 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AFG Berechnungs-grundsätze fest, die bei der Erstellung der Rechtsverordnung für das Bundesministe-rium für Arbeit und Sozialordnung verbindlich sind. § 111 Abs. 2 Sätze 4 und 5 AFG teilen demgegenüber mit, welche Regelungen in das Ermessen des Bundesministeri-ums für Arbeit und Sozialordnung gestellt sind. Nach Ansicht der 6. Kammer ist da-her zunächst gemäß § 111 Abs. 1 AFG zu prüfen, ob ein gesetzlicher Abzug bei Ar-beitnehmern gewöhnlich anfällt. Erst wenn diese Prüfung positiv ausfällt, ist dieser Abzug bei der jährlich neu zu erlassenden Rechtsverordnung zu berücksichtigen. Für die Berechnung des Abzuges Kirchensteuer gibt dann § 111 Abs. 2 Satz 1. Nr. 2 AFG in einer pauschalierenden Regelung die Art und Weise der Berücksichtigung des Abzuges "Kirchensteuer" verbindlich dahingehend vor, dass zur Vereinfachung nicht auf die in den Bundesländern unterschiedlich hohen Kirchensteuer-Hebesätze abzustellen ist, sondern auf den im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuer-Hebesatz.

Diese Auslegung wird durch die Begründung im Gesetzentwurf der Bundesregie-rung, Bundestagsdrucksache 7/2722 vom 31.10.1974, gestützt. Diese Begründung sah im Rahmen eines Entwurfes eines Einführungsgesetzes zum Einkommensteuer-reformgesetz, der in Artikel 23 Nr. 8 auch die wesentlichen Regelungen des heutigen § 111 AFG enthielt, als Begründung für § 111 Abs. 2 AFG vor, der Entwurf enthalte bei den gesetzlichen Abzügen eine weitgehende Pauschalierung. So werden bei-spielsweise als Krankenversicherungsbeitrag nicht der individuelle Beitrag des Ar-beitnehmers, sondern der durchschnittliche Krankenversicherungsbeitrag zugrunde gelegt. Daraus kann geschlossen werden, dass der damalige Entwurf der Bundesre-gierung die Pauschalierung für § 111 Abs. 2 AFG vorsah, nicht jedoch eine Typisie-rung.

Schließlich ist auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 03.08.1995, Az.: 7 RAr 28/95, hinzuweisen. Dort hat das Bundessozialgericht entschieden, dass bei der Fest-setzung der Leistungssätze im AFG in der AFG-Leistungsverordnung 1995 auch der Solidaritätszuschlag und der Beitrag zur Pflegeversicherung als gewöhnlich anfal-lende gesetzliche Abzüge zu berücksichtigen waren. Diese beiden Abzüge waren und sind im Gesetzestext des § 111 Abs. 2 AFG nicht enthalten. Dies ist jedoch nach An-sicht des Bundessozialgerichts unschädlich. § 111 Abs. 2 Satz 2 AFG enthalte keine abschließende Aufzählung der überhaupt zu berücksichtigenden Abzugsarten, sie ge-be dem Verordnungsgeber lediglich vor, nach welchen Maßstäben bzw. in welchem Umfang er bestimmte Abzugsarten bei der Erstellung der Leistungssätze zu berück-sichtigen habe. Bei gesetzlichen Abzügen sei allein entscheidend, dass diese unter den Begriff der "bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Abzüge" im Sinne der Grundregelung zu subsumieren seien. Diese Grundregel ist nach An-sicht der 6. Kammer eben der § 111 Abs. 1 AFG.

Die aufgezeigte Auslegung des § 111 AFG hat für die Prüfung der Verfassungsmä-ßigkeit wohl nur die Auswirkung, dass dem Bundesverfassungsgericht in einer et-waigen Vorlage nunmehr die Vorschrift des § 111 Abs. 1 AFG als zu prüfende Norm genannt werden müsste. Sie hat aber nach Ansicht der 6. Kammer entscheidende Auswirkungen für den Umfang der Prüfungspflicht des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung bei der Erstellung der jährlichen Rechtsverordnungen.

3. Im Gegensatz zu den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. oben 1.3.5.) sieht die 6. Kammer den Schutzbereich des Artikel 4 Abs. 1 GG durch § 111 Abs. 1 AFG insoweit als berührt - und verletzt - an, als § 111 Abs. 1 AFG auch für die Berücksichtigung der Kirchensteuer eine typisierende Betrachtungsweise vor-schreibt.

Artikel 4 Abs. 1 GG lautet:

"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und des weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Schmidt-Bleibtreu/Klein (Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage 1990) sprechen in Rdnr. 1 zu Artikel 4 GG dessen Absatz 1 eine überragende Bedeutung zu. Arti- kel 4 Abs. 1 GG gehöre zu den fundamentalen Grundrechten und sei Ausdruck der Menschenwürde. Mit diesem Grundrecht sei auch die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates garantiert. Jeder dürfe über sein Bekenntnis und seine Zuge-hörigkeit zu einer Kirche selbst und frei von staatlichem Zwang entscheiden. Arti- kel 4 Abs. 1 GG umfasse auch das Recht, nicht zu öffentlichen Abgaben herangezo-gen zu werden, die nur von Kirchenmitgliedern erhoben werden dürfen (Rdnr. 8 a).

Auch Herzog in Maunz-Dürig, Kommentar zum GG, spricht in Rdnr. 11 zu Artikel 4 GG davon, dass Artikel 4 GG ein unmittelbarer Ausfluss des in Artikel 1 Abs. 1 GG für unantastbar erklärten Prinzips der Menschenwürde sei. Die Rechte aus Artikel 4 Abs. 1 GG haben nach Herzog einen besonders großen Menschenrechtskern (Rdnr. 53 zu Artikel 4 GG). Artikel 4 GG gewähre nicht nur das Recht, von den dort verbürgten Freiheitsrechten Gebrauch zu machen, sondern ebenso - und in gleichem Umfang - auch das Recht, von ihnen nicht Gebrauch zu machen. (Rdnr. 54 zu Arti- kel 4 GG). Jedermann habe das Recht, keinem Glauben anzuhängen (Rdnr. 55 zu Ar-tikel 4 GG).

Wenn also Artikel 4 Abs. 1 GG jedem die Freiheit lässt, auch nicht zu glauben, dann sieht die 6. Kammer diese Freiheit als berührt an, wenn der Staat einen Leistungs-empfänger, der nicht Mitglied einer kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft ist, trotz dieses nach außen deutlich gemachten Umstandes so behandelt, als sei er gläubig und als sei er überdies Mitglied einer Kirche, denn damit unterstellt der Staat Gläubigkeit. Wenn sich jemand entschlossen hat, einer Kirche nicht anzugehören, muss er von einem weltanschaulich neutralen Staat auch so behandelt werden. Der Staat hat diese Grundentscheidung zu respektieren und darf nicht nach der Devise handeln: Wir nehmen deine Entscheidung zwar zur Kenntnis, behandeln dich aber trotzdem so, als ob du diese Entscheidung nicht getroffen hättest. Nach Ansicht der 6. Kammer umfasst die Freiheit des Glaubens auch die Freiheit davon, dass der Staat einen bestimmten Glauben unterstellt, die Freiheit davon, dass der Staat eine Kir-chenmitgliedschaft unterstellt, also eine bestimmte Glaubensbetätigung, sowie schließlich die Freiheit davon, dass der Staat nach diesen Unterstellungen sogar han-delt.

Nachdem Artikel 4 Abs. 1 GG - und auch hieraus ist die ganz zentrale Bedeutung des Artikel 4 Abs. 1 GG zu ersehen - keinen Gesetzesvorbehalt enthält, kann eine Ein-schränkung des in Artikel 4 Abs. 1 GG normierten Grundrechts vor dem Grundge-setz nur dann Bestand haben, wenn sie sich als Ausgestaltung einer Begrenzung durch die Verfassung selbst erweist (vgl. Leibholz-Rinck/Hesselberger, Kommentar zum GG, Rdnr. 93 zu Art. 4 GG). Eine solche aus dem Grundgesetz selbst resultie-rende Beschränkung, die ein Verhalten des Staates, eine bestimmte Glaubens- und Kirchenzugehörigkeit zu unterstellen und danach zu handeln, rechtfertigen könnte, ist für das Gericht nicht ersichtlich. Das Individualgrundrecht der Glaubensfreiheit geht daher nach Ansicht der 6. Kammer der in § 111 Abs. 1 AFG beschriebenen Ty-pisierung vor.

Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann die beschriebene Einschränkung der Glaubensfreiheit nicht rechtfertigen. Einer solchen Argumentation wäre schon des-wegen der Boden entzogen, weil das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 03.08.1995, Az.: 7 RAr 28/95, festgestellt hat, dass nach Auskunft des Bundesminis-ters für Arbeit und Sozialordnung vom 06.07.1995 bei der Einbeziehung des Solida-ritätszuschlags in die AFG-Leistungsverordnung 1995 die Vorschriften über die Nullzone und den Überleitungsbereich beachtet und dementsprechend ein Abzug grundsätzlich nur bei denjenigen Arbeitslosen berücksichtigt worden sei, die, falls sie Arbeitnehmer wären, der Abgabepflicht unterlägen. Mit dem gerne verwendeten Ar-gument der Verwaltungsvereinfachung und der im Interesse der Leistungsempfänger liegenden schnellen Feststellung der Leistungshöhe kann spätestens nach diesen Aus-führungen nicht mehr gearbeitet werden. Wenn schon beim Solidaritätszuschlag ein fiktiver Abzug nur bei denjenigen Leistungsempfängern vorgenommen wird, die als Arbeitnehmer einer Abgabepflicht unterlägen, muss diese Differenzierung erst recht im grundrechtsrelevanten Bereich der Kirchensteuer möglich sein.

4. Die 6. Kammer war nicht gehalten, gemäß Artikel 100 Abs. 1 GG die Frage der Verfassungswidrigkeit des § 111 Abs. 1 AFG dem Bundesverfassungsgericht vorzu-legen, denn die streitigen Bescheide waren auch dann aufzuheben, wenn man eine Verfassungsgemäßheit des § 111 Abs. 1 AFG unterstellt.

Nach der von der 6. Kammer vertretenen Auslegung des § 111 AFG hat der Bun-desminister für Arbeit und Sozialordnung bei Erlass der Rechtsverordnung des § 111 Abs. 2 Satz 1 AFG zunächst zu prüfen, welche Abzüge im Sinne des § 111 Abs. 1 AFG bei den Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen. Nachdem diese Rechtsverordnung jährlich neu zu erstellen ist, ist diese Prüfung dementsprechend ebenfalls jährlich vorzunehmen.

Nach Ansicht der 6. Kammer konnte der Bundesminister für Arbeit und Sozialord-nung schon zum 01.01.1991 nicht mehr ungeprüft davon ausgehen, dass Kirchen-steuer bei den Arbeitnehmern - bezogen auf das gesamte Bundesgebiet - noch ge-wöhnlich anfällt. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass die Kirchenaustritte gerade wegen der Kirchensteuerpflicht sehr stark wegen finanzieller Überlegungen vorge-nommen werden. Nachdem die Kirchensteuer an die Lohnsteuer gekoppelt ist, liegt nahe, dass die Kirchenaustritte zu einem sehr hohen Anteil von lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmern vorgenommen werden. Weiterhin ist zu bedenken, dass in der ehema-ligen DDR sehr wenige Menschen Kirchenmitglieder waren und dementsprechend zum 03.10.1990 der Anteil der kirchensteuerfreien Arbeitnehmer durch den Beitritt der ehemaligen DDR stark anstieg. Allein dieser Umstand musste den Bundesminis-ter für Arbeit und Sozialordnung nach den Ausführungen des Bundesverfassungsge-richts im Beschluss vom 23.03.1994 dazu veranlassen, eine solche Überprüfung vor-zunehmen.

Nach Ansicht der 6. Kammer verstößt damit die Leistungsverordnung ab dem Jahr 1991 insoweit gegen wesentliche verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Grundsätze, als auch für die Zeit ab 01.01.1991 noch ungeprüft unterstellt wird, dass Kirchensteuer bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfällt.

4.1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlichen Rang (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, 7. Auflage 1990, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, Rdnr. 2 am Ende). Der Grund-satz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich danach aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allge-meinen Freiheitsanspruches des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist.

Wie oben ausgeführt, erachtet die 6. Kammer eine Typisierung im Bereich der Kir-chensteuer nicht als erforderlich an. Durch die Umsetzung der Regelung zum Solida-ritätszuschlag weist der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung selbst nach, dass das Argument der Verwaltungsvereinfachung mittlerweile überholt ist. Dement-sprechend war es auch nicht erforderlich, die Typisierung bei der Kirchensteuer in die Leistungsverordnungen umzusetzen.

Die 6. Kammer hält die Leistungsverordnung ab 1991 auch nicht mehr für angemes-sen. Wie oben ausgeführt, erachtet die 6. Kammer den Schutzbereich des Artikel 4 Abs. 1 GG durch die Typisierung als berührt. Schon allein deswegen muss die Ab-wägung der Interessen hier zu Gunsten der Kläger ausgehen. Für die 6. Kammer ist nicht ersichtlich, welche Interessen des Staates dieses Abwägungsergebnis erschüt-tern könnten. Die Hinweise auf fehlende statistische Daten sowie den Zeitablauf rei-chen hierfür nach Ansicht der 6. Kammer keinesfalls aus.

4.2. Nach Ansicht der 6. Kammer verstoßen die Rechtsverordnungen ab 1991 inso-weit auch gegen das Günstigkeitsprinzip des Artikel 1 § 2 Abs. 2 SGB I, als sie einen fiktiven Kirchensteuerabzug enthalten, obwohl spätestens seit 03.10.1990 unklar war, ob Kirchensteuer überhaupt noch bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfällt.

Artikel 1 § 2 Abs. 2 SGB I lautet wie folgt:

"Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuches und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzu-stellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden."

Gemäß Artikel 2 § 1 Nr. 2 SGB I gilt das Arbeitsförderungsgesetz bis zur Einord-nung in das Sozialgesetzbuch als besonderer Teil des Sozialgesetzbuches mit der Folge, dass Artikel 1 § 2 Abs. 2 SGB I auch im Bereich des AFG anzuwenden ist. Mit Grüner, Kommentar zum SGB, Anmerkung III zu Artikel 1 § 2 SGB I, ist § 2 Abs. 2 als verbindliche Interpretationsrichtlinie anzusehen. Es gelte der Grundsatz "im Zweifel zu Gunsten des Leistungsberechtigten". Dies gelte auch, wenn den Bür-ger Belastungen treffen sollen. Insoweit sei im Zweifel eine für den Betreffenden günstige restriktive Gesetzesanwendung vorzunehmen.

Nachdem gemäß Artikel 1 § 3 Abs. 2 Nr. 4 SGB I auch die wirtschaftliche Sicherung bei Arbeitslosigkeit zu den sozialen Rechten zählt, ist die starken Zweifeln unterlie-gende Unterstellung der Kirchensteuer als bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen-der Abzug auch als Verstoß gegen das Günstigkeitsprinzip zu werten. Wenn es der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unterlässt, nach dem Sinn und Zweck des § 111 Abs. 1 AFG verlässliche Zahlen zu erheben, die den Ansatz der Kirchen-steuer als gewöhnlich anfallenden Abzug bei Arbeitnehmern rechtfertigen, dann darf entsprechend des Günstigkeitsprinzips die Kirchensteuer eben nicht mehr als ge-wöhnlich anfallender Abzug in die Rechtsverordnungen eingearbeitet werden. Dies muss solange gelten, als solche Zahlen für die Zeit ab 01.01.1991 nicht vorliegen.

5. Die angeführten Verstöße setzen sich auch in den angefochtenen Bescheiden fort. Darüber hinaus trägt die Bundesanstalt für Arbeit als Beklagte auch die objektive Beweislast dafür, dass Kirchensteuer als bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallender Abzug anzusehen ist. Wie oben ausgeführt, ist ein solcher Nachweis für die Zeit ab 01.01.1991 objektiv nicht zu führen. Diese Frage ist auch entscheidungserheblich, denn das Gericht ist aus den oben angeführten Gründen spätestens für die Zeit ab 03.10.1990 nicht davon überzeugt, dass Kirchensteuer bei Arbeitnehmern gewöhn-lich anfällt. Die Beweislastverteilung ergibt sich einerseits aus dem Grundsatz, dass jeder Partei der Nachweis der für sie günstigen Tatsachen obliegt, andererseits dar-aus, dass der einzelne Bürger zur Erhebung der notwendigen Zahlen gar nicht in der Lage ist.

Die Klage ist daher insgesamt begründet. Die angefochtenen Bescheide waren wie tenoriert abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Das vorliegende Urteil konnte die angesprochenen Problemkreise sicherlich nicht so vertieft behandeln, wie dies in einem wissenschaftlichen Aufsatz möglich ist. Die 6. Kammer hofft jedoch, mit den vorliegenden Ausführungen einerseits die Grundla-gen seiner Entscheidung deutlich gemacht und andererseits einige wesentliche Denkanstöße für die noch nicht beendete Diskussion um den fiktiven Kirchensteuerabzug gegeben zu haben.

Leitsatzartig zusammengefasst lauten die Grundgedanken dieses Urteils wie folgt:

1. § 111 Abs. 2 Satz 2 AFG enthält nur Ausführungsbestimmungen zu § 111 Abs. 1 AFG. Die Grundentscheidung hinsichtlich einer typisierenden Betrachtungsweise ist in § 111 Abs. 1 AFG enthalten.

2. § 111 Abs. 1 AFG verstößt gegen Artikel 4 Abs. 1 Grundgesetz, soweit er auch hinsichtlich des Fiktivabzuges von Kirchensteuer einen typisierenden Ansatz vor-schreibt. Es ist mit dem Individualgrundrecht der Glaubensfreiheit von Leistungs-empfängern, die nicht Mitglied einer kirchensteuererhebenden Religionsgemein-schaft sind, nicht vereinbar, bei der Leistungsberechnung so gestellt zu werden, als seien sie Kirchenmitglieder ("Individualschutz geht vor Typisierung").

3. Die jährlichen AFG-Leistungsverordnungen des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung verstoßen spätestes ab 01.01.1991 gegen tragende verfassungsrechtli-che und einfachgesetzliche Prinzipien, soweit sie auch nach dem Beitritt der ehema-ligen DDR noch ohne verlässliche Daten davon ausgehen, dass Kirchensteuer bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfällt.

4. Die objektive Beweislast für die Frage, ob Kirchensteuer auch nach dem 03.10.1990 bei Arbeitnehmern noch gewöhnlich anfällt, liegt bei der Bundesanstalt für Arbeit.

Das Urteil mit dem Az.: S 6 Al 847/95, aus dem die angeführte Begründung stammt, ist vom Sächsischen Landessozialgericht mit Urteil vom 25.10.1996, Az.: L 3 Al 72/96, in Anlehnung an die obergerichtliche Rechtsprechung aufgehoben worden. Zum Schutz-bereich des Grundrechts auf Religionsfreiheit ist in diesem Urteil des Sächsischen Landes-sozialgerichts angeführt, der Schutzbereich des Artikel 4 Abs. 1 GG sei durch die Rege-lung über den fiktiven Kirchensteuerabzug nicht berührt, weil diese Regelung keinen An-reiz gebe, die Mitgliedschaft in einer kirchensteuererhebenden Glaubensgemeinschaft an-zustreben oder aufzugeben.

D.

Im Urteil vom 27.01.2000, Az.: S 6 AL 287/97, hat die 6. Kammer der dortigen Klägerin aufgrund einer zahlenmäßigen Berechnung Recht gegeben. Im Rahmen des dortigen Ver-fahrens konnte das Statistische Bundesamt im Jahre 1999 die neuesten Ergebnisse aus der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 1995 übersenden. Danach lag der Anteil der kirchen-lohnsteuerpflichtigen Personen im Jahr 1995 bundesweit bei durchschnittlich 60,6 %. Nach dem Werkstattbericht Nr. 9 vom 21.08.1998 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung der Bundesanstalt für Arbeit, den die 6. Kammer in ihre Berechnungen einbezog, waren im Jahr 1995 im Bundesgebiet West 3,342 Millionen geringfügige Beschäftigungs-verhältnisse vereinbart, im Bundesgebiet Ost 0,184 Millionen. Sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren nach den Unterlagen des Statistischen Bundesamtes 29,676 Millionen Arbeitnehmer. 17,998 Millionen dieser sozialversicherungspflichtig Beschäftigten waren kirchenlohnsteuerpflichtig. Dies entspricht einem Anteil von 60,6 %.

Im Urteil vom 27.01.2000 hat die 6. Kammer auch die geringfügig Beschäftigten in ihre Berechnung einbezogen. Unter der Voraussetzung, dass die geringfügig Beschäftigten nicht kirchenlohnsteuerpflichtig sind, hat die 6. Kammer bei dann etwa 33 Millionen zu betrachtenden Beschäftigten einen Anteil von etwa 54,5 % kirchenlohnsteuerpflichtiger Beschäftigter errechnet.

E.

Auch für das vorliegende Urteil, S 6 AL 58/02 und S 6 AL 1602/03, bleibt die 6. Kammer bei ihrer Meinung, dass § 136 Abs. 1 SGB III die zunächst maßgebliche Regelung dar-stellt, die Vorschrift des § 136 Abs. 2 Satz 2 SGB III lediglich eine - Pauschalierungen enthaltende - Rechtsfolgenorm ist. Welche gesetzlichen Entgeltabzüge bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, ist daher danach eine Tatsachenfrage. Erst wenn also Kirchensteuer als Abzug beim Arbeitsentgelt gewöhnlich anfällt, erfolgt die Berechnung nach § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III, ansonsten entfällt der Abzug.

Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes errechnet sich für das Jahr 2001 nur noch ein Anteil von weniger als 55 % kirchenlohnsteuerpflichtige Arbeitnehmer, bezo-gen auf die Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Damit fällt ab 01.01.2001 Kirchensteuer bei Arbeitnehmern nicht mehr gewöhnlich an.

Schon deswegen war der Klage, wie tenoriert, stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

F.

Soweit man - entgegen der Ansicht der 6. Kammer - § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III als eine typisierende Regelung ansieht, verbleibt die 6. Kammer bei ihrer Meinung, dass eine solche typisierende Regelung nicht erforderlich war. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber in den maßgeblichen Vorschriften des SGB III und auch schon des AFG die prozentuale Höhe des Leistungssatzes für Arbeitslose mit mindestens einem Kind höher festgesetzt hat als für Arbeitslose ohne Kind. Eine solche Regelung hätte auch für die Un-terscheidung "konfessionsfrei oder konfessionsgebunden" getroffen werden können. Der Gesetzgeber hätte in einer pauschalierenden Weise den prozentualen Leistungssatz für konfessionsfreie Leistungsbezieher zum Beispiel um ein oder zwei Prozentpunkte im Ver-gleich zu den konfessionsgebundenen Leistungsbeziehern anheben können. Eine solche pauschalierende Behandlung hätte dann auch den Erfordernissen einer Massenverwaltung und einer zügigen Berechnung der Leistungshöhe entsprochen. Soweit man also § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III als eine typisierende Regelung ansieht, verstößt diese Rege-lung nach Ansicht der 6. Kammer gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rechtskraft
Aus
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