L 20 RJ 684/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 6 Ar 691/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 684/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.02.1996 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.05.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.1994 verurteilt, dem Kläger aufgrund eines im Dezember 1993 eingetretenen Leistungsfalles Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 01.01.1994 bis 31.07.2002 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bis 31.07.2002.

Der 1937 geborene Kläger hat in seiner Heimat Türkei von 1956 bis 1968 für 36 Monate Pflichtbeiträge entrichtet, in Deutschland war er in der Zeit vom 16.06.1969 bis 18.08.1980 99 Monate versicherungspflichtig beschäftigt. Für die anschließende Zeit bis 02.10.1982, in der er arbeitlos war, wurden ebenfalls Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung abgeführt. Er hat sich vorübergehend vom 03.03.1983 bis 15.07.1983 und vom 01.01.1984 bis 08.05.1984 in der Türkei aufgehalten; am 25.02.1985 ist er dorthin endgültig zurückgekehrt. Ab 01.12.1982 bezieht er eine türkische Invalidenrente, auf Grund des Bescheides der Beklagten vom 02.10.2002 auch eine Regelaltersrente aus der deutschen Rentenversicherung ab 01.08.2002.

Mit Bescheid vom 29.12.1983 stellte die Beklagte zwar fest, dass beim Kläger Berufsunfähigkeit (BU) auf Zeit vom 29.04.1983 bis 31.10.1984 bestehe, die Rente wegen des Aufenthalts des Klägers in der Türkei aber nicht gewährt werden könne. Mit den Bescheiden vom 05.11.1984 und 27.10.1985 bewilligte sie dem Kläger Rente wegen EU auf Zeit vom 29.10.1983 bis 31.10.1984.

Den Rentenantrag vom 01.07.1986 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.08.1986 und Widerspruchsbescheid vom 29.06.1987 ab, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Beitragsdichte) nicht mehr gegeben seien. Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Bayreuth (SG) mit Urteil vom 25.11.1987 ab. Auch den weiteren Rentenantrag des Klägers vom 18.01.1989 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.02.1989 aus versicherungsrechtlichen Gründen ab; die dagegen erhobene Klage nahm der Kläger im Termin vom 08.10.1990 zurück.

Wegen fehlender versicherungsrechtlicher Voraussetzungen lehnte die Beklagte auch den Rentenantrag des Klägers vom 13.12.1993 mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 20.05.1994 und Widerspruchsbescheid vom 06.10.1994 ab.

Das SG hat im anschließenden Klageverfahren zur Frage der Minderung der Erwerbsfähigkeit den Internisten und Sozialmediziner Dr.T. gehört. Dieser ist im Gutachten vom 14.06.1995 zu der Beurteilung gelangt, dem Kläger sei ab Dezember 1993 eine regelmäßige Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich, die zumutbare Gehstrecke betrage nur noch 400 m. Mit Gerichtsbescheid vom 27.02.1996 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei zwar nach den überzeugenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen ab 1993 erwerbsunfähig, bei Annahme des Leistungsfalles der EU im Dezember 1993 seien aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.

Das BayLSG hat im Urteil vom 26.08.1998 die ablehnenden Entscheidungen der Beklagten und den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger aufgrund eines im Dezember 1993 eingetretenen Leistungsfalles ab 01.01.1994 Rente wegen EU zu gewähren. Die Beklagte sei nämlich ihrer dem Kläger gegenüber obliegenden Beratungsverpflichtung nicht nachgekommen. Sie hätte spätestens nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils des SG vom 25.11.1987 darauf hinweisen müssen, dass der Kläger zur Aufrechterhaltung seiner Anwartschaft ab 01.11.1984 lückenlos freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten habe. Der Kläger habe die Berechtigung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge ab 01.11.1984 gehabt. Auch nach seiner endgültigen Rückkehr in die Türkei 1985 habe er das Recht zur freiwilligen Versicherung in Deutschland nicht verloren.

Das BSG hat auf die Revision der Beklagten hin dieses Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch für den Kläger, dessen sonstige Voraussetzungen (Pflichtverletzung, die sich der Sozialleistungsträger im Verhältnis zum Berechtigten zurechnen lassen muss, Eintritt eines rechtlichen Nachteils oder Schadens beim Berechtigten und Möglichkeit der Herstellung des Zustandes, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre) vom BSG als vorliegend angesehen wurden, sei nur dann gegeben, wenn auch ein Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem Schadenseintritt bestehe. Dies sei nicht hinreichend geklärt. Diesbezüglich sei zu ermitteln, ob der Kläger bei entsprechender Beratung bereit und in der Lage gewesen wäre, für die fragliche Zeit (11/84 bis 11/93) freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten. Dazu sei bei der Frage, ob der Kläger die notwendigen Mittel gehabt hätte, allen Möglichkeiten einer Mittelbeschaffung nachzugehen. Zu berücksichtigen sei, dass durch schwebende Rentenverfahren die Entrichtungsfristen des § 1418 RVO gemäß § 1420 Abs 2 RVO entsprechend gehemmt gewesen seien, eine Zahlung also hätte unterbleiben können. Bei einer Bereiterklärung des Klägers zu einer späteren Beitragsentrichtung hätte die Beklagte außerdem Zahlungsfristen einräumen können.

Der Senat hat den Kläger dementsprechend befragt. Dieser hat mitgeteilt, er hätte nach entsprechender Aufklärung durch die Beklagte vor seinem Wegzug aus Deutschland von der Möglichkeit der freiwilligen Beitragsentrichtung Gebrauch gemacht. Die Beiträge hätten von ihm auch durchaus in jedem Falle aufgebracht werden können. Seine Ehefrau beziehe seit 1983 eine Rente wegen BU in ausreichender Höhe, die es möglich gemacht hätte, die Beiträge aufzubringen. Im Übrigen sei er Eigentümer einer Appartementwohnung in der Stadtmitte von A. und eines Baugrund-stückes in Stadtnähe, die gegebenenfalls hätten beliehen werden können. Auf jeden Fall hätte er insofern finanzielle Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Töchter erfahren können. Insbesondere die in W. lebende Tochter und deren Ehemann (J. M.) wären bereit gewesen, ihm zur Wahrnehmung seiner Rentenansprüche Geldbeträge auch in größerer Höhe zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte macht dagegen geltend, dieses Vorbringen des Klägers erscheine nicht plausibel. Es stehe in Widerspruch zu seinen früheren Angaben. Seine bloßen Behauptungen reichten nicht aus, um die Kausalität zwischen einer unterbliebenen Beratung und der unterbliebenen Beitragsleistung nachzuweisen. Hinsichtlich der Kausalität im Falle eines Herstellungsanspruchs komme es auch nach der Rechtsprechung des BSG nicht zu einer Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten.

Der Senat hat als Zeugen den Schwiegersohn des Klägers, J. M. einvernommen; insoweit wird auf die Niederschrift vom 24.11.2004 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.02.1996 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.05.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.1994 zu verurteilen, ihm aufgrund eines im Dezember 1993 eingetretenen Leistungsfalles Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 01.01.1994 bis 31.07.2002 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren neben den Streitakten erster und zweiter Instanz die vom Senat beigezogenen Verwaltungsunterlagen der Beklagten sowie die Revisionsakte B 13 RJ 87/98 R und die früheren Klageakten des SG Bayreuth S 4 Ar 440/87, S 9 Ar 567/90 und S 6 Ar 691/94. Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).

Das Rechtsmittel des Klägers ist auch begründet. Auf den Antrag des Klägers waren der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 27.02.1996 und der Bescheid der Beklagten vom 20.05.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund eines im Dezember 1993 eingetretenen Leistungsfalles ab 01.01.1994 Rente wegen EU bis zum 31.07.2002, dem Beginn des Bezugs von Altersrente, zu gewähren.

Dieser Anspruch steht dem Kläger im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu, dessen Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind. Nach der Rechtsprechung des BSG ist ein solcher Anspruch zu bejahen, wenn eine Pflichtverletzung vorliegt, die sich der Sozialleistungsträger zurechnen lassen muss, wenn beim Berechtigten ein rechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten ist, ein Kausalzusammenhang besteht zwischen der Pflichtverletzung und dem Schadenseintritt und wenn die Möglichkeit zur Herstellung des Zustandes besteht, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

Im Fall des Klägers war im Anschluss an das Urteil des BSG vom 17.08.2000 nur noch zu prüfen, ob die Pflichtverletzung der Beklagten für den Nachteil des Klägers kausal war. Danach hatte der Senat zu ermitteln, ob der Kläger bei entsprechender Beratung bereit und in der Lage gewesen wäre, für die Zeit von November 1984 (dh ab Wegfall der EU-Zeitrente) bis November 1993 (dh bis zum Kalendermonat vor Eintritt der EU) fortlaufend freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten. Das BSG hatte insoweit bezüglich der finanziellen Verhältnisse des Klägers in der Türkei Zweifel. Bei der Frage, ob der Kläger die notwendigen Mittel gehabt hätte, sei allen Möglichkeiten einer Mittelbeschaffung nachzugehen.

Die sodann vom Senat eingeleiteten Ermittlungen haben ergeben, dass der Kläger bei entsprechender Beratung durch die Beklagte bereit und durchaus in der Lage gewesen wäre, die erforderlichen freiwilligen Beiträge im genannten Zeitraum zu entrichten, so dass letztlich die Voraussetzungen für die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches erfüllt sind.

Zur Frage der Bereitwilligkeit hat der Kläger auf entsprechende Anfrage des Senats mitgeteilt, dass er nach entsprechender Aufklärung durch die Beklagte vor seinem Wegzug aus Deutschland noch von der Möglichkeit der freiwilligen Beitragsentrichtung Gebrauch gemacht hätte, da er auf jeden Fall alle Möglichkeiten des deutschen Rentenversicherungsrechts in Anspruch nehmen wollte. Er hat weiter ausgeführt, dass er nach Rückkehr in die Türkei dort keinerlei Rentenanwartschaften aus der türkischen Rentenversicherung erwerben wollte. Er hätte vielmehr nach seiner Rückkehr weiterhin freiwillige Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet, wenn er die freiwillige Beitragsentrichtung in Deutschland nach entsprechender Beratung durch die Beklagte begonnen hätte.

Nicht gefolgt werden kann der Ansicht der Beklagten, es handele sich insoweit nur um bloße Behauptungen des Klägers, die nicht ausreichten, um die Kausalität zwischen einer unterbliebenen Beratung und der unterbliebenen Beitragsleistung nachzuweisen. Denn die Frage nach der Bereitwilligkeit einer Zahlung kann im Nachhinein nicht auf beweiskräftige Tatsachen gestützt werden. Der Senat ist vielmehr insoweit auf die Einlassungen des Klägers angewiesen, die aber nicht in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten stehen. Zudem trägt die Beklagte selbst im Schriftsatz 11.08.2004 vor, der Kläger habe weder Sozialhilfe noch Arbeitslosengeld bzw Arbeitslosenhilfe bezogen. Dies lässt nur den Schluss zu, dass dieser selbst über einen gewissen finanziellen Rückhalt verfügt hat. Da sich der Kläger selbst damals ja bereits für erwerbsunfähig hielt, wie seine Rentenanträge zeigen, ist davon auszugehen, dass er nur von einer kurzen Verpflichtung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge ausgegangen wäre und hierzu im Hinblick auf die von ihm alsbald erwartete Rente auch bereit gewesen wäre.

Der Kläger war auch finanziell in der Lage, freiwillige Beiträge zu entrichten. Dies ergibt sich für den Senat einmal aus dem Vorbringen des Klägers und zum anderen insbesondere aus der Einvernahme des Zeugen M ... Der Kläger selbst hat insoweit vorgebracht, seine Ehefrau beziehe seit 1983 eine - deutsche - BU-Rente in einer Höhe, die es ihm gestattet hätte, die Beiträge aufzubringen. Im Übrigen sei er Eigentümer einer Appartementwohnung in A. (Stadtmitte) und eines Baugrundstücks in Stadtnähe, die gegebenenfalls hätten beliehen werden können. Auf jeden Fall hätte er mit finanzieller Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Töchter rechnen können. Insbesondere die in W. lebende Tochter und deren Ehemann (der Zeuge M.) wären bereit gewesen, ihm zur Wahrung seiner Rentenansprüche in Deutschland Geldbeträge auch in größerer Höhe zur Verfügung zu stellen. Dazu wären auch die beiden anderen Töchter des Klägers in der Lage gewesen, zumindest hätten sie den Kläger bei der Entrichtung der freiwilligen Beiträge finanziell unterstützen können. Denn die älteste Tochter (Frau C.) arbeitete in Deutschland seit 1983, ihr Ehemann ab 1985; sie ist auch nicht mit ihrem Vater in die Türkei zurückgekehrt. Ebenso ist die mittlere Tochter des Klägers in Deutschland geblieben und verfügte über ein eigenes Einkommen. Schließlich war auch die jüngste Tochter des Klägers, die Ehefrau des Zeugen M. , später wieder in Deutschland berufstätig und hatte ein eigenes Einkommen.

Im Übrigen verfügte der Kläger selbst mit seinen Immobilien über einen finanziellen Rückhalt, auf den er gegebenenfalls hätte zurückgreifen können. Der Zeuge M. hat unter Vorlage der entsprechenden Grundbuchauszüge bekundet, dass der Kläger in A. nicht nur über eine Eigentumswohnung verfügte, sondern auch in der Peripherie von A. zwei unbebaute Grundstücke besitzt, die ihm ggf zur Absicherung von Bankkrediten hätten dienen können. Insgesamt hat der Senat keinen Zweifel daran, dass der Kläger Willens und in der Lage gewesen wäre, die entsprechenden notwendigen freiwilligen Beiträge zu entrichten. Damit ist die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung der Beklagten und dem Nachteil des Klägers gegeben.

Freiwillige Beiträge sind jedoch vom Kläger tatsächlich nicht zu entrichten. Denn der einschlägigen Rechtsprechung zufolge ist in Fällen wie dem Vorliegenden nur zu prüfen, ob der Versicherte in der durch Anwartschafterhaltungszeiten iS des § 241 Abs 2 SGB VI zu belegenden Zeit zur Beitragszahlung bereit und in der Lage gewesen wäre. Die Entrichtung muss nur zulässig gewesen sein (Kasseler Kommentar - Niesel - § 241 RdNr 21). Der Berufung war daher stattzugeben und dem Kläger die begehrte Rente wegen EU für die Zeit ab 01.01.1994 bis 31.07.2002 zuzusprechen.

Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass der Kläger obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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