L 2 U 152/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 20 U 14/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 152/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 90/05 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 28. Februar 2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1990 geborene Kläger macht die Folgen einer HIV-Infektion als Berufskrankheit geltend. Die Infektion ist während der Schwangerschaft von der infizierten Mutter übergegangen.

Die Mutter des Klägers war als Krankenschwester berufstätig und zog sich die Infektion in ihrer beruflichen Tätigkeit zu. Die Infektion wurde erstmals im Rahmen eines Schwangerschaftstests im November 1989 festgestellt. Die Mutter verstarb an den Folgen der Infektion am 14.12.1997.

Ein von der Beklagten eingeholtes Gutachten ergab, dass die Infektion bei der Arbeit mit HIV-Patienten in der Intensivstation zwischen Mai 1983 und August 1990 geschehen sei. Der Infektionszeitpunkt liege wahrscheinlich zwischen 1983 und 1985, ein späterer Infektionszeitpunkt sei jedoch möglich. Die Beklagte legte intern den Versicherungsfall auf den 05.12.1989.

Mit Schreiben vom 16.04.1998 wandte sich die Beklagte an den Witwer, Vater des Klägers und dessen gesetzlicher Vertreter, und führte zunächst aus, vorbehaltlich einer endgültigen Entscheidung des Rentenausschusses werde die HIV/AIDS-Erkrankung der zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau als Berufskrankheit anerkannt. Als Tag des Versicherungsfalles werde voraussichtlich der 05.12.1989 festgestellt werden. Damit zu seinen Hinterbliebenenansprüchen und denen des Klägers Stellung genommen werden könne, werde um Ausfüllung der beigefügten Vordrucke gebeten. Dem Vater des Klägers gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 27.04.1999 als Sonderrechtsnachfolger der Verstorbenen eine Dauerrente. Bei seiner Frau habe eine HIV-Infektion bestanden, diese Erkrankung sei eine Berufskrankheit. Maßgebender Zeitpunkt für die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes sei der 05.12.1989. Dies sei der Tag des Beginns der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung. Unterhalb des Briefkopfes und oberhalb des Entscheidungsausspruches war vermerkt: "Berufskrankheit: W. H. , geboren 1958, vom: 05.12.1989."

Dem Vater und gesetzlichen Vertreter des Klägers schrieb die Beklagte am 24.04.1998, dass für den Kläger kein Versicherungsschutz nach § 555a RVO bestanden habe. Die Zeugung des Klägers sei erfolgt, nachdem sich seine Mutter während ihrer versicherten Tätigkeit infiziert habe. Dies sei mit Wahrscheinlichkeit zwischen 1983 und 1985 gewesen. Die Festsetzung des Tages des Versicherungsfalls auf den 15.12.1989 im Schreiben vom 16.04. 1998 ergebe sich aus der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, nach der zwischen dem Zeitpunkt der Infektion und dem Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls zu unterscheiden sei. Der 05.12.1989 sei der festgestellte Termin des Leistungsfalles in der Erkrankungssache der Verstorbenen. Hiergegen legte der Vater des Klägers Widerspruch ein und wies darauf hin, dass im Schreiben der Beklagten vom 24.04.1998 der Versicherungsfall auf den 05.12.1989 festgesetzt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.1998 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte im Rahmen der Begründung unter anderem aus, dass der Leistungsfall im Schreiben vom 16.04.1998 versehentlich als Tag des Versicherungsfalls bezeichnet worden sei.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht ein Gutachten von dem Internisten Prof.Dr.G. vom 11.06.2001 über den Zeitpunkt der HIV-Infektion eingeholt. Der Sachverständige kommt bei unterschiedlichen Fragestellungen durch das Sozialgericht zu dem Ergebnis, über den Zeitpunkt der Infektion könne man nur spekulieren, ein späterer Zeitpunkt als 1985 sei nicht auszuschließen, der Verlauf spreche jedoch für eine Infektion deutlich vor der Schwangerschaft. Im Weiteren kommt der Sachverständige zunächst zu dem Ergebnis, es sei äußerst unwahrscheinlich, dass die Infektion erst während der Schwangerschaft aufgetreten sei, dann dazu, dass dies mit großer Sicherheit auszuschließen sei.

Das Sozialgericht München hat in seinem Urteil vom 28.02.2003 der Klage stattgegeben. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei die Infektion vor der Zeugung eingetreten. Die Beklagte habe den Versicherungsfall jedoch mit Bescheid vom 27.04.1999 auf den 05.12.1989 gelegt und diese Entscheidung habe Tatbestandswirkung für den Kläger.

Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen eine solche Tatbestandswirkung zu ihren Lasten und zu Gunsten eines Dritten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 28.02.2003 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 24.04.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 1998 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurüczuweisen.

Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.

Zum Verfahren beigezogen waren die Akten der Beklagten über die Anerkennung der Berufskrankheit und die Hinterbliebenenversorgung und die Akte des Sozialgerichts München in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Anerkennung der Berufskrankheit und zur Gewährung der gesetzlichen Leistungen verurteilt.

Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Entscheidung nach § 555a RVO richtet, die Berufskrankheit erst nach der Zeugung des Kindes bei der Mutter eingetreten sein darf und dies für den vorliegenden Fall nicht zutrifft. Insoweit wird nach § 153 Abs.2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen. Die Parteien sind insoweit auch nicht anderer Meinung.

Das Sozialgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass mit dem Bescheid der Beklagten vom 27.04.1999 der Versicherungsfall der Berufskrankheit auf den 05.12.1989 festgelegt wurde. Auch insoweit wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 153 Abs.2 SGG abgesehen.

Weiter ist das Sozialgericht zu Recht der Ansicht, dass die Feststellung des Versicherungsfalles im Bescheid vom 27.04.1999 auf den 05.12.1989 zu Gunsten des Klägers bei der Entscheidung über seinen Anspruch auf Anerkennung einer Berufskrankheit bindend war.

Hoheitliche Akte (im allgemeinen Verwaltungsakte) können in weiteren Verfahren Behörden und Gerichte binden. Unterschieden wird zwischen Tatbestands- und Feststellungswirkung. Eine Tatbestandswirkung im engeren Sinne wird angenommen, wenn nach materiellem Recht der Erlass eines hoheitlichen Aktes als solcher Voraussetzung (Tatbestandsmerkmal) für den Eintritt einer Rechtsfolge ist, ohne dass es auf seinen Inhalt ankommt. Eine Tatbestandswirkung im weiteren Sinn wird auch auf den Inhalt des Hoheitsaktes bezogen. Der Feststellungswirkung wird eine größere Reichweite zuerkannt. Hier erstreckt sich die Bindungswirkung nicht nur auf den Ausspruch des hoheitlichen Aktes, sondern auch auf die rechtlichen Beurteilungen und Sachverhaltsdarstellungen. Jede der beiden Drittwirkungsbindungen setzt eine gesetzliche Grundlage voraus, deren Reichweite sich immer nach der konkreten gesetzlichen Regelung und dem erkennbaren Regelungszweck bestimmt (vgl. BSG Urteil vom 04.10.1994, NZA 1995, 320, m.w.N.). Bei der Feststellungswirkung handelt es sich um ein Rechtsinstitut, das die Rechtsordnung zur Verhütung eines ständigen Wiederaufgreifens rechtlich geklärter Lebenssachverhalte und zur Vermeidung divergierender Entscheidungen entwickelt hat. Durch die Feststellungswirkung werden Gerichte und Verwaltungsbehörden gegenseitig und untereinander an Entscheidungselemente, an tatsächliche Feststellungen und rechtli- che Wertungen in Urteilen und Verwaltungsakten gebunden (Sehnert, NZS 2000, 437). Eine solche Drittbindungswirkung kann deshalb über die Maßgeblichkeit der Entscheidung einer Behörde für den unmittelbar dafür betroffenen Adressaten mit Drittbindungwirkung gegenüber einer anderen Behörde (vgl. BSG SozR 3-2500 § 95a Nr.2) hinaus bestehen und ein und dieselbe Behörde aus einem Verwaltungsakt zu Gunsten des einen Adressaten auch gegenüber einem anderen Adressaten binden, sofern die erste Entscheidung einen entsprechenden Tatbestands- oder Feststellungsinhalt hat und eine gesetzliche Regelung eine einheitliche Behandlung des Tatbestands oder der Feststellung gebietet.

Dies trifft für den vorliegenden Fall im Hinblick auf die Vorschrift des § 555a RVO zu. Danach stand, wer als Leibesfrucht durch einen Arbeitsunfall (oder eine Berufskrankheit, § 551 RVO) der Mutter während der Schwangerschaft geschädigt wurde, einem Versicherten gleich, der einen Arbeitsunfall erlitten hatte. Das Gesetz kennt damit keinen eigenen Versicherungsfall für das Kind während der Schwangerschaft (vgl. Ricke Kasseler Kommentar Stand Januar 1992 § 555a RVO Rdnr.5). Grund für diese gesetzliche Regelung war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, SozR 2200 § 539 Nr.35, wonach dem ungeborenen Kind Versicherungsschutz aus der Gleichheit der Gefahrenlage, die aus der natürlichen Einheit von Mutter und Kind entsteht, von Rechts wegen zu gewähren ist. Mit dieser gesetzlichen Regelung ist es nicht zu vereinbaren, dass ein Unfallversicherungsträger für die Frage, ob und wann während der Schwangerschaft ein Versicherungsfall eingetreten ist, bezüglich der Mutter und des Kindes unterschiedlich entscheidet. Das Sozialgericht hat deshalb zu Recht entschieden, dass der gegenüber dem Vater als Rechtsnachfolger der Mutter festgestellte Versicherungsfall der Berufskrankheit auch zu Gunsten des Klägers zugrundezulegen war.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass der Kläger in beiden Rechtszügen obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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