L 4 RA 42/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 5 RA 3458/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 RA 42/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2003 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob - wie von der Beklagten angenommen - für die Berechnung einer auf Dauer gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente der Leistungsfall zugrunde zu legen ist, der auch für die Berechnung einer unmittelbar davor gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit maßgeblich war.

Der 1946 geborene Kläger war von 1966 bis 1996 als Heimerzieher tätig. Im Wesentlichen aufgrund einer depressiven Erkrankung war er seit dem 14. September 1996 ununterbrochen arbeitsunfähig. Am 17. November 1997 beantragte der Kläger die Bewilligung einer Maßnahme medizinischer Rehabilitation; am 24. November 1997 beantragte er die Bewilligung einer Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit.

Mit Bescheid vom 21. August 1998 bewilligte die Beklagte dem Kläger auf seinen Antrag vom 17. November 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Beginn am 1. November 1997 und Wegfall mit dem 30. November 1999. Mit Schreiben vom 23. Juni 1999 beantragte der Kläger, ihm die Erwerbsunfähigkeitsrente über den 30. November 1999 hinaus ohne zeitliche Begrenzung zu gewähren. Nachdem sich aufgrund entsprechender medizinischer Ermittlungen herausgestellt hatte, dass das Leistungsvermögen des Klägers nach wie vor deutlich eingeschränkt war, bewilligte die Beklagte mit Bescheiden vom 14. Oktober 1999 und 9. Dezember 1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. November 1999 hinaus bis zum Ablauf des 31. März 2001. Für die Berechnung dieser Rente wurde der Rentenbescheid vom 21. August 1998 als weiterhin maßgebend angesehen. Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch vom 19. Dezember 1999 begehrte der Kläger die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne zeitliche Begrenzung und legte zur Begründung Atteste seiner behandelnden Ärzte vor, die seine depressive Erkrankung als Dauerzustand bezeichneten. Nach erneuter Prüfung des medizinischen Sachverhalts ging auch die Beklagte von einer dauerhaften Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers aus und half dem Widerspruch des Klägers ab; mit Bescheiden vom 31. August 2000 und 7. August 2002 anerkannte sie einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den 30. November 1999 hinaus auf unbestimmte Dauer. Für die Berechnung der Rente bleibe weiterhin der ursprüngliche Rentenbescheid vom 21. August 1998 unter Berücksichtigung der Anpassungen maßgebend. Hiergegen legte der Kläger am 8. September 2000 Widerspruch ein und begehrte, der Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente auf Dauer einen Leistungsfall im Dezember 1999 zugrunde zu legen; zur Begründung bezog er sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 zum Aktenzeichen 4 RA 31/96. Mit Bescheid vom 3. Mai 2001 wies die Beklagte diesen Widerspruch zurück. Es sei an einem am 14. September 1996 eingetretenen Versicherungsfall festzuhalten; zu diesem Zeitpunkt sei die Erwerbsunfähigkeit eingetreten. Eine Änderung der medizinischen Feststellungen habe sich nicht ergeben. Deshalb dürfe ein Leistungsfall im Dezember 1999 nicht angenommen werden. Das vom Kläger angeführte Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 könne nicht herangezogen werden, weil die Sachverhalte nicht vergleichbar seien.

Mit seiner am 13. Mai 2001 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung bezieht er sich nun zusätzlich auf einen Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 8. März 2002 zum Aktenzeichen L 16 RJ 13/01.

Im Rahmen des Gerichtsverfahrens sind Probeberechnungen zu den Akten gelangt, aus denen sich ergibt, dass bei Annahme eines Leistungsfalles im Dezember 1999 die Leistungen für den Kläger sowohl seitens der Beklagten als auch seitens der VBL höher wären.

Mit Urteil vom 8. April 2003 hat das Sozialgericht Berlin der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die laufende Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers ab dem 1. Dezember 1999 unter Änderung der entgegenstehenden Bescheide nach Maßgabe eines im Dezember 1999 liegenden Leistungsfalles neu zu berechnen. Zur Begründung, wegen deren Einzelheiten auf die Gerichtsakte Bezug genommen wird, hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt: Die Entscheidung habe sich an der auch vom Kläger angeführten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996, 4 RA 31/96, zu orientieren. Für die Berechnung der auf Dauer gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente sei ein Leistungsfall im Dezember 1999 zugrunde zu legen. Der "Leistungsfall” sei der Zeitpunkt, in dem alle im Gesetz geforderten Leistungsvoraussetzungen vorlägen. Davon zu unterscheiden sei der "Versicherungsfall”, zu dessen Zeitpunkt das versicherte Risiko eintrete. Im Falle des Klägers sei der Versicherungsfall im September 1996 eingetreten. Alle ärztlichen Bescheinigungen wiesen nämlich - auch zur Überzeugung der Beklagten - darauf hin, dass die beim Kläger diagnostizierte depressive Symptomatik seit Jahren bestehe und langanhaltender Natur sei. Dass der Gewährung der Dauerrente derselbe Versicherungsfall zugrunde zu legen war wie der zuvor gewährten befristeten Rente, führe jedoch nicht dazu, dass die ursprünglich befristete Rente lediglich fortgeschrieben werde. Vielmehr stelle jede Neubewilligung einer Rente auch einen neuen Leistungsfall dar. Eine befristete Rente sei nämlich datumsmäßig genau bezeichnet. Ihrer Gewährung liege eine bestimmte Prognose zugrunde. Bei der Entscheidung über eine erneute Bewilligung der Rente sei allein darauf abzustellen, inwiefern die Anspruchsvoraussetzungen - im Falle des Klägers ab dem 1. Dezember 1999 - erfüllt seien. Zwischen der befristeten Rente und der Dauerrente bestehe damit eine rechtliche Diskontinuität. Weil für den Kläger am 1. Dezember 1999 ein neues eigenständiges Recht auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit entstanden sei, sei zugleich eine neue Bestimmung des monatlichen Wertes, also der Leistungshöhe, erforderlich geworden.

Gegen das ihr am 4. Juni 2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Juni 2003 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: die Annahme des Sozialgerichts, dass auch bei der Verlängerung einer befristeten Rente das jeweils aktuelle Recht anzuwenden sei, sei unzutreffend. Ein solcher Grundsatz ergebe sich auch nicht aus § 302 b SGB VI. Aus dieser Vorschrift ergebe sich gerade, dass das der Rente ursprünglich zugrunde liegende Recht grundsätzlich fortgelte. Eine Auslegung im Sinne des Sozialgerichts hätte zur Folge, dass eine nicht zu vertretende Besserstellung des "Zeitrentners” gegenüber dem "Dauerrentner” entstünde. Bei der Weitergewährung einer Zeitrente handele es sich um eine durchgehende Leistung derselben Rentenart. Für eine Anwendung neuen Rechts bestehe im Rahmen der Weiterbewilligung kein Raum. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. Oktober 1996 (4 RA 31/96) sei auf den Fall des Klägers nicht übertragbar, denn in seinem Fall sei die Zeitrente schon vor Ablauf des ersten Bewilligungszeitraumes mit Bescheid vom 14. Oktober 1999 über den 30. November 1999 hinaus weitergewährt worden. Insoweit unterscheide sich der Fall des Klägers von dem Sachverhalt, der der Entscheidung des Bundessozialgerichts zugrunde gelegen habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das mit der Berufung angegriffene Urteil des Sozialgerichts für zutreffend und sieht es in Übereinstimmung mit anderen Entscheidungen des Landessozialgerichts Berlin sowie dem genannten Urteil des Bundessozialgerichts.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Rentenakte der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Die mit ihr angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2003 beurteilt die Sach- und Rechtslage zutreffend. Der Kläger hat Anspruch auf Berechnung seiner auf Dauer bewilligten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf der Grundlage eines im Dezember 1999 anzunehmenden Leistungsfalles bzw. nach den in diesem Zeitpunkt geltenden Rechtsvorschriften.

Für den Kläger ist unabhängig von der vorangegangenen Gewährung einer Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit mit dem 1. Dezember 1999 aufgrund eines neuen Leistungsfalles ein neues eigenständiges Recht auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit entstanden. Die Einheitlichkeit des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit bei einer Rente auf Zeit und einer – wie hier – nahtlos gewährten Rente auf Dauer (hier: 14. September 1996) schließt die Entstehung eines neuen eigenständigen Rechts auf (unbefristete) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht aus. Entscheidende Bedeutung erlangt dabei § 102 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, wonach eine befristete Rente längstens bis zum Zeitpunkt der Befristung geleistet wird und danach kraft Gesetzes wegfällt, ohne dass es eines Entziehungsbescheides bedarf. Dieser Gesetzeslage hatte die Beklagte in ihren die Zeitrente bewilligenden Bescheiden auch Rechnung getragen. Dort wurde ausdrücklich erklärt, dass der Rentenanspruch zeitlich begrenzt sei, dass die Rente mit dem 30. November 1999 bzw. 31. März 2001 wegfalle, ohne dass ein weiterer Bescheid erteilt werde, und dass die Rente nur auf Antrag weitergezahlt werde, wenn Erwerbsunfähigkeit weiterhin vorliege. Die die Zeitrente bewilligenden Bescheide enthalten nicht etwa die mit einer zeitlichen Befristung versehene Anerkennung eines unbefristeten Stammrechts auf Erwerbsunfähigkeitsrente, sondern lediglich die Zuerkennung eines Rentenstammrechts für einen bestimmten Zeitraum. Mit Ablauf der zeitlich begrenzten Geltung konnten die Bescheide keine Regelungswirkungen mehr entfalten. Sie konnten daher auch keinen Hinderungsgrund für eine neue Entscheidung über das Fortbestehen eines Rentenanspruchs des Klägers für die Zeit nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes darstellen. Insoweit bestand aufgrund des wiederholt vorgebrachten Begehrens des Klägers eine Verpflichtung der Beklagten, eine neue Entscheidung darüber zu treffen, ob die Anspruchsvoraussetzungen für eine unbefristete Rentengewährung nach dem 30. November 1999 erfüllt waren. Grundlage der von der Beklagten durchzuführenden Prüfung waren die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Verhältnisse und gültigen Rechtsvorschriften (vgl. maßgebend das vom Kläger und vom Sozialgericht zutreffend angeführte Urteil des BSG vom 24. Oktober 1996, 4 RA 31/96, SozR 3-2600 § 300 Nr. 8, sowie den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 8. März 2002, L 16 RJ 13/01). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Rentenversicherungsträger auch nach vorangegangener Zeitrentengewährung die nachfolgende Dauerrente auf der Grundlage des zuvor eingetretenen (einheitlichen) Versicherungsfalls nach der im Zeitpunkt des Beginns der Dauerrente geltenden Sach- und Rechtslage neu zu berechnen und festzusetzen hat. Die Beklagte hatte somit nicht nur zu prüfen, ob bei dem Kläger ab 1. Dezember 1999 weiterhin Erwerbsunfähigkeit vorlag und die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente dem Grunde nach erfüllt waren, sondern auch eine neue Rentenberechnung nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Berechnungsvorschriften vorzunehmen. Abweichende Spezialvorschriften, die diesem Ergebnis entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Die infolge der Änderung des Rechts auf Rente wegen Erwerbsminderung mit Wirkung zum 1. Januar 2001 geänderte Vorschrift des § 302 b Abs. 1 SGB VI, die Vertrauensschutzregelungen für Bezieher von Renten wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit nach den §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung bis 31. Dezember 2000 enthalten, vermag die Rechtsauffassung der Beklagten nicht zu stützen. Auch der Hinweis der Beklagten auf den mit der Rentenberechnung verbundenen Verwaltungsaufwand und die Erwägung, die Betrachtungsweise des BSG werde zu wenig den charakteristischen Gegebenheiten bei befristeten Renten gerecht, vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere kann die Zeitrente keineswegs als Vorstufe der Dauerrente und damit dieser akzessorisch angesehen werden. Vielmehr besteht, wie vom Bundessozialgericht und ihm folgend vom Sozialgericht hervorgehoben, rechtliche Diskontinuität zwischen den beiden auf einander folgenden Rentenarten. Sinn der Zeitrentengewährung ist es, den Berechtigten noch nicht für dauernd der Gruppe der Rentner zuzuordnen. Insbesondere soll er sich nicht innerlich auf die Rente einstellen, sondern nach gesundheitlicher Besserung und beruflicher Eingliederung streben. Erst die Dauerrentenbewilligung signalisiert das endgültige Ausscheiden des Versicherten aus dem Erwerbsleben, so dass es nicht ungerechtfertigt erscheint, eine erneute endgültige Rentenfeststellung vorzunehmen. Da die angefochtenen Bescheide vom 31. August 2000 bzw. 7. August 2002 eine neue Rentenberechnung nicht enthalten, sind sie unvollständig und damit fehlerhaft. Hierdurch ist der Kläger in seinen Rechten verletzt, weil die vorliegenden Probeberechnungen dafür sprechen, dass ihm ab 1. Dezember 1999 ein höherer Zahlbetrag zusteht. Die Berufung der Beklagten musste daher zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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