L 1 AL 100/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 29 AL 66/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 100/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10.04.2000 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte einen Teil der dem Kläger zustehenden Arbeitslosenhilfe (Alhi) zur Erfüllung seiner Unterhaltspflicht abzweigen durfte.

Der 1952 geborene Kläger steht seit 1986 mit nur unwesentlichen Unterbrechungen im Leistungsbezug der Beklagten. Seit dem 15.01.1987 erhält er Alhi. Der wöchentliche Leistungssatz belief sich ab dem 19.09.1995 auf 234,00 DM und ab dem 01.01.1996 auf 240,60 DM.

Der Kläger ist der Vater der am 00.00.1988 geborenen Beigeladenen zu 3). Am 23.12.1988 verpflichtete er sich vor der ermächtigten Urkundsperson des Kreises D in einer Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft und Verpflichtung zur Unterhaltsleistung, der Beigeladenen zu 3) ab dem 25.10.1988 den Regelunterhalt zu zahlen. Dieser betrug für die Zeit ab Vollendung des 6. Lebensjahres bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres 318,- DM monatlich (Beschluss des Amtsgerichts Lüdinghausen vom 11.09.1992 - Az. 4 H 201/92), ggf. abzüglich des hälftigen Kindergeldes.

Da der Kläger seinen Unterhaltspflichten nicht nachkam, zweigte die Beklagte auf Antrag des Kreisjugendamtes D, dem die Amtspflegschaft über die Beigeladene zu 3) übertragen war, von seiner Alhi 73,38 DM (318,- DM x 3: 13) wöchentlich zugunsten der Beigeladenen zu 3) ab (Bescheid vom 25.09.1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.1996). Zur Begründung führte sie aus, sie habe bei pflichtgemäßer Ermessensausübung die Unterhaltsverpflichtung nicht mehr prüfen müssen, weil ein für sie verbindlicher Unterhaltstitel vorliege. Daher komme es allein darauf an, ob sich die für den festgesetzten titulierten Unterhaltsbetrag maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse inzwischen wesentlich, d.h. um wenigstens 10 v.H. zu Lasten des Klägers verändert hätten. Das sei jedoch nicht der Fall.

Aufgrund dieses Bescheides wurden für die Zeit vom 19.09.1995 bis 29.04.1996 2.174,08 DM der Alhi des Klägers unmittelbar an den Kreis D ausgezahlt. Für die Zeit vom 30.04.1996 bis zum 31.07.1999 wurden 12.379,29 DM von der Alhi des Klägers abgezweigt, die bislang weder an den Kläger noch an einen der Träger der Jugendhilfe ausgezahlt worden sind. Seit dem 01.08.1999 erfolgt wegen nachgewiesener Sozialhilfebedürftigkeit keine Abzweigung mehr von den Leistungen des Klägers.

Mit der gegen die Abzweigung zum Sozialgericht (SG) Dortmund erhobenen Klage hat der Kläger der Beklagten die Unterschreitung des ihr gesetzlich eingeräumten Ermessens vorgeworfen, weil die Beklagte nicht berücksichtigt habe, dass sein Einkommen durch die Abzweigung unter den gesetzlichen Pfändungsfreibetrag sinke.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid vom 25.09.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.02.1996 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt.

Die vom SG beigeladenen Städte Selm und Bergkamen, die im Anschluss an den Kreis D für den Lebensunterhalt der Beigeladenen zu 3) aufgekommen sind, haben sich dem Antrag der Beklagten angeschlossen.

Das SG hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über die Abzweigung der Alhi des Klägers ab September 1995 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 10.04.2000). Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Mit der Berufung gegen dieses Urteil verweist die Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), aus der sich ergebe, dass rechtskräftige Unterhaltstitel den Umfang ihrer Abzweigungspflicht bestimmten. Das gelte für alle Unterhaltstitel, deren Änderung der Unterhaltsschuldner grundsätzlich nur im Rahmen der Abänderungsklage betreiben könne. Eine Verringerung des Abzweigungsbetrages könne der Kläger daher nur dann erreichen, wenn er die Voraussetzungen für eine Abänderung nachweise, was hier jedoch nicht geschehen sei.

Die Beklagte hat sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hinsichtlich der einzelnen aufgrund des angefochtenen Bescheides vorgenommenen Abzweigungen der rechtskräftigen letztinstanzlichen Entscheidung im vorliegenden Verfahren unterworfen. Der Kläger hat sich hiermit einverstanden und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10.04.2000 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für richtig.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sind beigezogen worden und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat den Bescheid vom 25.09.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.1996, der allein noch Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zu Recht aufgehoben. Denn dieser Bescheid ist rechtswidrig und beschwert den Kläger daher (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Der Bescheid ist rechtswidrig, weil die Beklagte das ihr im Rahmen der Entscheidung über die Abzweigung nach § 48 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) eingeräumte Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Vielmehr hat sie ihren Ermessensspielraum unterschritten, indem sie zu Unrecht angenommen hat, sie sei hinsichtlich der Höhe der Abzweigung an den ihr vorliegenden Unterhaltstitel gebunden und dürfe hiervon nur unter den Voraussetzungen abweichen, die eine Abänderungsklage gemäß § 323 Zivilprozessordnung (ZPO) begründeten.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I können laufende Geldleistungen, die der Sicherung des Lebensunterhalts zu dienen bestimmt sind, in angemessener Höhe an den Ehegatten oder an die Kinder des Leistungsberechtigten ausgezahlt werden, wenn er ihnen gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Abzweigung hat dabei den Charakter einer sozialrechtlichen "Soforthilfemaßnahme", die dem Unterhaltsberechtigten dazu verhelfen soll, seinen Unterhaltsanspruch zu verwirklichen, ohne hierzu zwingend den Weg vor die Zivilgerichte beschreiten zu müssen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil v. 20.06.1984 - 7 RAr 18/83 - BSGE 57, 59, 64 m.w.N.; BSG, Urteil v. 07.10.2004 - B 11 AL 13/04 R - zur Veröffentlichung in SozR 4 und BSGE vorgesehen).

Im Hinblick auf diesen Zweck haben die Behörden bei Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I auf der Tatbestandsseite zunächst festzustellen, ob eine laufende Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts vorliegt, ob der mögliche Empfänger der Abzweigung von dieser Leistung zu dem von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I geschützten Personenkreis (Ehegatte oder Kind des Leistungsberechtigten) gehört, ob der Leistungsberechtigte ihm gegenüber zum Unterhalt verpflichtet ist und ob er diese Unterhaltspflicht verletzt.

Eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I besteht dabei nur dann, wenn sich auf Grund der Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die gesetzliche Unterhaltspflicht ein konkreter Unterhaltsanspruch ergibt; eine "abstrakte" Unterhaltsverpflichtung des Leistungsberechtigten genügt nicht (BSGE 57, 59, 61; BSG, Urteil v. 23.10.1985 - 7 RAr 32/84 - SozR 1200 § 48 Nr. 10; BSG, Urteil v. 29.08.2002 - B 11 AL 95/01 R - SozR 3-1200 § 48 Nr. 4). Soweit ein rechtskräftiger Unterhaltstitel nicht besteht, sind hierzu der Unterhaltsbedarf des Berechtigten und die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten festzustellen (§§ 1602 Abs. 1, 1603 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Bei minderjährigen Kindern, die mit dem Unterhaltsschuldner nicht in einem Haushalt leben, bemisst sich der sog. Regelbedarf nach der Regelbedarfsverordnung (§ 1612a Abs. 1 BGB). Auch wenn der Bedarf hiernach bestimmt wird, ist hinsichtlich der Leistungsfähigkeit jedoch der konkrete notwendige Selbstbehalt des Leistungsberechtigten als des Unterhaltsschuldners festzulegen, der außerhalb des Beitrittsgebietes grundsätzlich nach der Düsseldorfer Tabelle bestimmt werden kann (BSGE 57, 59, 70; BSG SozR 1200 § 48 Nr. 10). Anders liegt es hingegen, wenn ein Unterhaltstitel vorliegt. Denn dieser stellt die Unterhaltspflicht dem Grunde und - zumindest im Sinne einer Obergrenze - der Höhe nach verbindlich auch gegenüber dem Sozialleistungsträger fest. Das ergibt sich unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung (BSG, Urteil v. 17.09.1991 - 4 RJ 105/80 - SozR 1200 § 48 Nr. 3). Wollen der Unterhaltsgläubiger oder der Unterhaltsschuldner hieran etwas ändern, sind sie auf die hierzu vorgesehenen zivilprozessualen Möglichkeiten, insbesondere die Abänderungsklagen nach §§ 323, 655 ZPO zu verweisen.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die Beklagte zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Abzweigung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I vorliegen: Alhi ist eine Leistung, die dem laufenden Lebensunterhalt zu dienen bestimmt ist. Die Beigeladene zu 3) gehört als Kind des Klägers grundsätzlich zu dem von der Vorschrift begünstigten Personenkreis. Der Kläger ist ihr gegenüber auch zum Unterhalt verpflichtet. Dies ergibt sich für den fraglichen Leistungszeitraum aus der vom Kläger unterzeichneten Urkunde über die Verpflichtung zur Unterhaltsleistung vom 23.12.1988, in der er sich der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hat, i.V.m. dem Beschluss des Amtsgerichts Lüdinghausen vom 11.09.1992, zumal der Kläger von der Möglichkeit der Abänderungsklage gemäß § 323 ZPO keinen Gebrauch gemacht hat. Schließlich steht zwischen den Beteiligten auch außer Streit, dass der Kläger die sich aus diesen Titeln ergebende gesetzliche Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt nicht erfüllt hat. Auch bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I muss der Leistungsträger jedoch nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Er hat dabei grundsätzlich die Wahl zwischen mehreren rechtlich möglichen Verhaltensweisen, die das Recht einschließen, von der an sich möglichen Abzweigung ganz abzusehen (BSG SozR 1200 § 48 Nr. 10; BSG, Urteil v. 29.10.1987 - 11b RAr 61/86 - SozR 1200 § 48 Nr. 13).

Dies gilt entgegen der Auffassung der Beklagten auch bei Vorliegen eines Unterhaltstitels (so bereits der erkennende Senat, Urteil v. 16.11.2004 - L 1 AL 101/03). Der Unterhaltstitel besagt lediglich, dass und in welcher Höhe ein Unterhaltsanspruch des Unterhaltsgläubigers gegenüber dem sozialleistungsberechtigten Unterhaltsschuldner besteht. Er regelt hingegen nicht, ob und in welcher Höhe die konkrete Sozialleistung zur Befriedigung des Unterhaltsanspruchs verwertet werden kann und ob dies gegebenenfalls im Wege der Abzweigung geschehen darf. Da es jedenfalls nicht gerechtfertigt ist, den Unterhaltsgläubiger schlechter zu stellen, als er im Falle der Zwangsvollstreckung aufgrund eines Unterhaltstitels in seinen Anspruch auf Sozialleistung stünde, sind daher als zwingende Ermessensgrenzen die Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850d, 850f ZPO zu beachten. Nur eine diesen Vorschriften entsprechende Abzweigung erweist sich als "angemessen" im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB I: Nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO ist dem Schuldner dabei so viel zu belassen, wie er für seinen notwendigen Unterhalt benötigt. Zudem kann ihm darüber hinaus gehend nach § 850f Abs. 1 ZPO ein höherer Betrag belassen werden, wenn er z.B. nachweist, dass er andernfalls sozialhilfebedürftig wird, oder wenn besondere persönliche oder berufliche Gründe dies rechtfertigen. Zur Darlegung solcher Umstände ist dem Sozialleistungsberechtigten seitens der Behörde im Rahmen der Anhörung nach § 24 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch eine angemessene Frist zu setzen (Hessisches Landessozialgericht [LSG], Urteil v. 21.06.2000 - L 6 AL 259/00 - E-LSG AL-208). Neben den vollstreckungsrechtlichen Gesichtspunkten kann der Leistungsträger darüber hinaus prüfen, ob von einer Abzweigung wegen der geringen Höhe des geschuldeten Unterhalts oder wegen der nur kurzen Dauer einer möglichen Abzweigung abgesehen werden darf (BSG SozR 1200 § 48 Nr. 10). Weiter unterliegt seinem Ermessen, wie er den zur Abzweigung verfügbaren Betrag in sog. Mangelfällen unter den konkurrierenden Unterhaltsgläubigern aufteilt (vgl. hierzu BSG, Urteil v. 07.10.2004 - B 11 AL 13/04 R). Schließlich hat er im Rahmen seines Ermessens zu entscheiden, ob er bei minderjährigen Unterhaltsgläubigern den abgezweigten Betrag unmittelbar an den Gläubiger oder an die ihm Unterhalt gewährende Person oder Stelle auskehrt (§ 48 Abs. 1 Satz 4 SGB I).

Diesen Anforderungen wird - soweit der Sachverhalt Anlass zu ihrer Prüfung gibt - der angegriffene Bescheid nicht gerecht. Die Beklagte hat nicht geprüft, welcher Anteil der Alhi dem Kläger nach Maßgabe des § 850d ZPO zu belassen ist. Sie ist auch seinem im Rahmen von § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu berücksichtigenden Einwand, er werde durch die Abzweigung hilfebedürftig, nicht nachgegangen. Der Senat ist dabei gehindert, sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Beklagten zu setzen. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt nämlich schon deshalb nicht vor, weil die Anwendung der §§ 850d, 850f ZPO Wertungen verlangt, denen der Senat nicht vorgreifen kann. Im Rahmen einer erneuten Entscheidung über die Abzweigung wird die Beklagte daher die unterbliebene Betätigung ihres Ermessens nachzuholen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfragen zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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