L 7 VG 25/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 3 VG 37/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 VG 25/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichtes Dortmund vom 28.04.2003 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.04.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.01.2002 verurteilt, bei der Klägerin wegen der Folgen der Gewalttat vom 12.03.2000 eine "Schädelhirnverletzung mit Funktionsstörungen der Arme und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen" anzuerkennen und Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v. H. ab März 2000 zu gewähren. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die am 00.00.1965 geborene Klägerin erlitt durch tätliche Einwirkungen ihres damaligen Lebensgefährten B V am 12.03.2000 schwere Hirnverletzungen, infolge derer sie geistig schwerstbehindert, pflege- und betreuungsbedürftig ist.

Der Schädiger V wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 03.11.2000 (25 Ks 45 Js 2/00 – 19/00 V) wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Des Weiteren wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Schädiger in der Zeit zwischen Oktober 1996 und Januar 1997 die Klägerin kennen, die sich ebenfalls wegen Alkohol- und Tablettenabhängigkeit zum wiederholten Male in ärztlicher Behandlung befand. Am 14.08.1999 wurde das gemeinsame Kind Q geboren. Bereits nach wenigen Wochen waren sie mit der Betreuung des Kindes überfordert. Sie waren fast ständig alkoholisiert und stritten miteinander, auch unter Einsatz körperlicher Gewalt. Am 05.09.1999 kam es zu einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Klägerin u. a. einen Handgelenksbruch, eine Platzwunde im Gesicht und zahlreiche Prellungen erlitt. Das eingeleitete Strafverfahren wurde gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt (Staatsanwaltschaft X, Aktenzeichen 000). Anlässlich eines Hausbesuches durch das Jugendamt der Stadt X am 20.10.1999 wurden beide stark alkoholisiert, im verwahrlosten Zustand und in ihren Exkrementen liegend angetroffen. Das Kind war unversorgt und verschmutzt. Der Schädiger und die Klägerin wurden zur Entgiftung in der Klinik für Suchtkrankheiten in W und das Kind in einer Bereitschaftspflegestelle untergebracht. Im Wege einer einstweiligen Anordnung entzog das Amtsgericht Wuppertal der Kindesmutter gegen ihren Willen mit Beschluss vom 21.10.1999 das Aufenthaltsbestimmungsrecht (Amtsgericht Mettmann, Aktenzeichen 65 F 313/99). Aufgrund der regelmäßigen und vereinbarungsgemäßen Zusammenarbeit der Eltern mit Frau X von der flexiblen Erziehungshilfe, des regelmäßigen, wöchentlichen Besuchs einer ambulanten Therapiegruppe in der Klinik für Suchtkrankheiten in W sowie des Besuchs einer Krabbelgruppe mit Q, kehrte Q am 24.01.2000 zu der Klägerin und dem Schädiger zurück. Die Familie wurde von Frau X bis zu deren Urlaubsbeginn am 24.02.2000 regelmäßig ein- bis zweimal wöchentlich aufgesucht. Sie konnte in dieser Zeit keine Auffälligkeiten, weder eine Alkoholisierung noch eine Verwahrlosung der Wohnung noch sonstige "Krisenzeichen" feststellen. In den letzten Tagen vor dem zum 13.03.2000 angekündigten Kontrollbesuch kam es zwischen der Klägerin und dem Schädiger erneut zu heftigen Auseinandersetzungen unter Alkoholeinfluss, da sie wegen der rückfälligen Alkoholisierung und des dadurch bedingten desolaten Zustandes der Lebensgemeinschaft eine endgültige Entziehung des Kindes durch das Jugendamt befürchteten. Nach einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung am 10.03.2000, einer solchen am Vormittag oder Mittag des 11.03.2000 und am Abend des 11.03.2000 flüchtete die Klägerin aus der Wohnung, verständigte die Polizei und begab sich mit deren Hilfe zu ihrer Schwester. Nach einem Telefonat mit dem Schädiger am Morgen des Tattages, in dem sie ihn aufforderte, die von ihr gemietete Wohnung in X zu verlassen, begab sie sich nach Aufenthalten in verschiedenen Wohnungen von Bekannten in die Wohnung des Zeugen U und schlief dort nach weiterem Alkoholkonsum ein. Gegen 21:00 Uhr verschaffte sich der Schädiger Zugang zu dieser Wohnung und wirkte unter anderem mit heftigen Schlägen und Stößen auf den Kopf der im Schlaf befindlichen Klägerin ein, wodurch es zu den Hirnverletzungen kam.

Mit Antrag vom 13.07.2000 begehrte die Klägerin rückwirkend ab dem 12.03.2000 Heilbehandlungskosten sowie eine laufende Rente nach dem OEG. In der Folgezeit zog der Beklagte u. a. den Entlassungsbericht der Klinik I von September 2000 sowie die Akte der Staatsanwaltschaft X (000) bei. Nach Auswertung der Unterlagen bezeichnete der Ärztliche Dienst des Beklagten in der Stellungnahme vom 13.03.2001 die schädigungsbedingten Leiden mit "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der Arme und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen" und bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.).

Mit Bescheid vom 30.04.2001 lehnte der Beklagte nach Auswertung der Akten der Staatsanwaltschaft X einschließlich des Urteils des Landgerichts Wuppertal vom 03.11.2000 den Antrag auf Leistungen nach dem OEG ab, da eine Entschädigung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig wäre. Die Klägerin sei vernunftwidrig und grob fahrlässig in der unheilvollen Lebensgemeinschaft mit dem Schädiger verblieben, die von gemeinsamen Alkohol- und Tablettenmissbrauch mit verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen geprägt gewesen sei. Aufgrund dieses sozialschädlichen Verhaltens sei eine Versorgung unbillig.

Mit Widerspruch vom 21.06.2001 machte die Klägerin geltend, sie habe die Ursache der Tat nicht zu vertreten. Sicherlich sei es während des Zusammenlebens mit dem Schädiger zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Sie habe jedoch die unheilvolle Lebenskonstellation mehrere Tage vor der Tat zum Anlass genommen, einen Schlussstrich zu ziehen und sich der Gegenwart des Schädigers zu entziehen. Ein sozialschädliches Verhalten sei nicht gegeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.01.2002, der Klägerin am 14.01.2002 zugegangen, wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 13.02.2002 vor dem Sozialgericht Dortmund (SG) Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, dass sie weder durch die Teilnahme an der unheilvollen Lebensgemeinschaft noch durch eigene körperliche Gewalt zu der Tat beigetragen habe. Sie habe sich verschiedentlich bemüht, die Beziehung auch zum Wohle des Kindes zu erhalten und positiv zu beeinflussen.

Das SG hat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Klage mit Urteil vom 28.04.2003 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 02.06.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 02.07.2003 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Ergänzend hat sie darauf hingewiesen, dass sie sich gerade nicht einer Gefahr ausgesetzt, sondern sich mit erheblichem Bemühen von dieser entfernt habe. Zudem habe sie den Schädiger am Vormittag des 12.03.2000 aufgefordert, ihre Wohnung zu verlassen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Dortmund vom 28.04.2003 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 30.04.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.01.2002 zu verurteilen, bei ihr wegen der Folgen der Gewalttat vom 12.03.2000 eine "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der Arme und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen" anzuerkennen und Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vom Hundert ab März 2000 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft X (000) beigezogen. Des Weiteren hat der Senat den Zeugen U vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 06.05.2004 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin ist durch die angefochtene Verwaltungsentscheidung beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Diese Voraussetzungen sind gegeben, weil die Klägerin infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Schädiger V ist wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.

Versagensgründe nach § 2 Abs. 1 OEG liegen nicht vor. Danach sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob das Opfer seine Schädigung mitverursacht hat, ist vor den Voraussetzungen des Versagensgrundes nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG zu prüfen (BSG, Urteil vom 15.08.1996, 9 RVg 6/94 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 5; BSG, Urteil vom 01.09.1999, B 9 VG 3/97 R = USK 99120). Die Mitverursachung stellt gegenüber dem Ausschlussgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall dar. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch zeitnah, eng verbundene Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernde Umstände, d. h. typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind (BSG, Urteil vom 01.09.1999, B 9 VG 3/97 R, a.a.O.).

Eine Mitverursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG liegt nicht vor. Die Mitverursachung erfordert, dass der Tatbeitrag des Opfers nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursache darstellt, sondern eine wesentliche, d. h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers ist (BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 3/00 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10; BSG, Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Ein Ursachenbeitrag der Klägerin gleicher Qualität in Bezug auf den Angriff des Täters liegt nicht vor. Der dominierende Ursächlichkeitsbeitrag für die schädigende Gewalttat war der Gewaltexzess des Schädigers an der im Zeitpunkt der schädigenden Gewalteinwirkung wehrlosen (schlafenden) Klägerin. Dahinter treten die Auseinandersetzungen am Vortage in den Hintergrund, selbst wenn diese den schweren Gewaltausbruch des Klägers am 12.03.2000 mitausgelöst haben sollten. Zudem ergibt sich die überragende Bedeutung des Gewaltaktes des Schädigers für die Verursachung der Schädigung auch aus dem Umstand, dass zwischen den Auseinandersetzungen und der eigentlichen Gewalttat am 12.03.2000 eine zeitliche und räumliche Zäsur dadurch gegeben war, dass die Klägerin den Schädiger nach der letzten Auseinandersetzung fluchtartig verließ, sich in eine andere Wohnung begab, zwischen der Auseinandersetzung und der Gewalttat fast 24 Stunden lagen und die Klägerin unmittelbar vor der Gewalttat nicht in Kontakt zu dem Kläger stand und zum Zeitpunkt der Gewalttat schlief.

Es liegt auch keine Mitverursachung in Form einer bewussten oder leichtfertigen Selbstgefährdung des Opfers vor. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG ist Entschädigung auch dann zu versagen, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d. h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch schuldhafte Herausforderung des Angriffs (BSG, Urteil vom 20.10.1999, B 9 VG 2/98 R = USK 99140). Dabei ist in Bezug auf die grobe Fahrlässigkeit ein subjektiver Maßstab entscheidend und damit zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten und den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte und mit einer Gewalttat rechnen musste.

Daran fehlt es. Die Klägerin hat sich weder leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen, insbesondere zeitlich eng zusammenhängenden Förderung der Tat der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt noch leichtfertig einer konkret erkannten Gefahr nicht entzogen. Vielmehr hat sie den Schädiger nach der letzten Auseinandersetzung fluchtartig verlassen und sich in eine andere Wohnung begeben. Zudem lagen zwischen der Auseinandersetzung und der Gewalttat fast 24 Stunden.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Gewährung von Versorgung an die Klägerin auch nicht aus sonstigen Gründen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass Leistungen wegen Unbilligkeit gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG u. a. dann zu versagen sind, wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

Hat der Tatbeitrag des Opfers die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, so kann er im Rahmen der 2. Alternative jedoch nicht allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen Gründen, zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen (BSG, Urteil vom 6.12.1989, 9 RVg 2/89 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Eine Opferentschädigung wegen Unbilligkeit ist ausgeschlossen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine staatliche Hilfe zur Opferentschädigung als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen lassen (BSG, Urteil vom 07.11.1979, 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104 - 114). Nach dem Normzweck des OEG werden Entschädigungsleistungen gewährt, weil die staatliche Gemeinschaft für die Folgen einer Gesundheitsschädigung einsteht, die durch die Gewalttat verursacht wurde. Dies folgt aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass der Staat ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung hat. Er ist für den Schutz der Bürger vor kriminellen Handlungen verantwortlich. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung. Stellt sich jemand jedoch bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und realisiert sich die damit verbundene Gefahr in Schädigungen durch eine Gewalttat, so widerspräche es dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung, zum Ausgleich der Schädigungsfolgen staatliche Leistungen zu verlangen (BSG, Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, a.a.O.). Als typische Konstellationen derartiger Selbstgefährdungstatbestände werden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts neben der Zugehörigkeit zu kriminellen oder gewaltbereiten Strukturen (vgl. zur Milieuzugehörigkeit das Urteil des BSG vom 24.03.1993, 9/9a RVg 3/91 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 2) unheilvolle Lebensgemeinschaften, die eine besondere Dauergefährdung durch andauernde Auseinandersetzungen und Gewalttätigkeiten begründen, angesehen (vgl. BSG, Urteil vom 03.10.1984, 9a RVg 6/83 = SozR 3800 § 2 Nr. 5). Eine Entschädigung ist insbesondere ausgeschlossen, wenn das Opfer sich, ohne sozial nützlich oder gar von der Rechtsordnung gewünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar möglich wäre (BSG, Urteil vom 14.08.2001, B 9 VG 3/00 R, a.a.O.).

Diese Voraussetzungen treffen nach Auffassung des Senates auf die Klägerin nicht zu. Ein grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin liegt nicht vor. Zwar war die Lebensgemeinschaft der Klägerin und des Schädigers V geprägt von den häufig und oft anhaltenden Alkohol- und Tablettenexzessen. Dabei traten immer wieder erhebliche Kontrollverluste auf, die sich nach den Feststellungen des Landgerichts Wuppertal teils in außergewöhnlicher Verwahrlosung des Wohnungs- und körperlichen Zustandes beider, so z. B. bei der Kontrolle des Jugendamtes am 20.10.1999, teils in den immer wieder auftretenden heftigen verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen äußerte. Die dabei von dem Schädiger eingesetzte Gewalt hatte erkennbar eine erhebliche Ausprägung. So trug die Klägerin bei einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen Prellungen und Schlagwunden davon. Aufgrund von Gewalteinwirkung erlitt sie am 05.09.1999 u. a. einen Handgelenksbruch.

Andererseits trat aber Ende Januar 2000 eine Konsolidierung in der Lebensgemeinschaft ein. Beide zeigten in nüchternen Phasen, vor der Tat zuletzt im Februar 2000, ein geordnetes und auf eigenständige Willensbildung hindeutendes Verhalten, indem sie etwa ordentliche Wohnverhältnisse schafften, sich mit ihrer Situation in der Therapie auseinandersetzten und sich mit der flexiblen Erziehungshilfe arrangierten, solange Letztere mit einer regelmäßigen Kontrolle verbunden war. Erst als für sie erkennbar war, dass aufgrund der urlaubsbedingten Abwesenheit von Frau X eine Kontrolle für ca. zwei Wochen nicht durchgeführt wird, nahmen beide ihre Trinkgewohnheiten wieder auf.

Nach Auffassung des Senats hat sich die Klägerin durch die Aufrechterhaltung der Lebensgemeinschaft nicht leichtfertig selbst gefährdet. Zum einen konnte die Klägerin nach den gesamten Umständen ihrer Beziehung zu dem Schädiger nicht davon ausgehen, dass das Verbleiben in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Lebensgefahr verbunden war. Die Folgen der Gewalteinwirkung am 12.03.2000, die die schweren Hirnschäden der Klägerin verursachten, gingen weit über die bis dahin durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen realisierten Gesundheitsschäden hinaus. Zum anderen durfte das Kind Q aufgrund der regelmäßigen und vereinbarungsgemäßen Zusammenarbeit seiner Eltern mit der flexiblen Erziehungshilfe in der Person von Frau X, dem regelmäßigen, wöchentlichen Besuch einer ambulanten Therapiegruppe in der Klinik für Suchtkrankheiten in W sowie des Besuchs einer Krabbelgruppe mit Q, am 24.01.2000 in den Haushalt der Klägerin und des Schädigers zurückkehren. Damit ging auch das Jugendamt nicht von einer (gravierenden) Gefährdung des Kindes und/oder der Klägerin aus; ansonsten hätte das Kind sicherlich nicht zu seinen Eltern zurückkehren dürfen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Klägerin eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht vorwerfbar.

Des Weiteren haben die Zeugen S H und X V (Vater des Schädigers) in ihrer Vernehmung durch die Polizei die Angabe der Klägerin bestätigt, dass diese am Vormittag des 12.03.2003 den Schädiger noch aufgefordert hatte, ihre Wohnung zu verlassen. Weitere Maßnahmen konnten der Klägerin am 12.03.2003 nicht abverlangt werden. Das nochmalige Einschalten der Polizei war zu diesem Zeitpunkt unzweckmäßig, weil eine konkrete Gefährdungslage noch nicht vorlag. Zudem hat sich die Klägerin der drohenden Gefahr durch Flucht entzogen, indem sie sich in eine andere Wohnung begab, in der sie unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen U davon ausgehen konnte, dass ihr am Abend des 12.03.2000 keine Gefahr drohte. Der Zeuge U hat hierzu bekundet, dass er seine Haustür nicht geöffnet hätte, wenn er gewusst hätte, dass der Schädiger V vor der Tür stand. Seine Ausführungen sind auch glaubhaft. So wusste er von der Klägerin, dass sie Angst vor dem Schädiger hatte und deshalb in seiner Wohnung übernachten wollte.

Die zu leistende Versorgung der Klägerin ist unter Berücksichtigung der vom Beklagten ermittelten Schädigungsfolgen "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der Arme und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen" in Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.03.2001 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.) zu gewähren.

Die Berechtigung der rückwirkenden Leistungserbringung ab dem 12.03.2000 ergibt sich aus § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 60 BVG. Danach ist Versorgung auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag, wie hier, innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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