L 6 U 2063/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 2077/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 2063/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Im Falle der Verurteilung zur Neubescheidung durch das SG ist die Frage nach der Beschwer des Klägers aufgrund eines Vergleichs zwischen der vom Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren vertretenen und der im Urteil des SG zum Ausdruck gekommenen Rechtsauffassung zu beantworten. Hat das SG den Unfallversicherungsträger verurteilt, den Antrag des Klägers auf Abfindung einer Rente gem. §78 SGB VII neu zu bescheiden, so ist der Unfallversicherungsträger berechtigt, seit Erlass des letzten (aufgehobenen) Bescheids eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtlage zu berücksichtigen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. April 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Abfindung seiner Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der 1947 geborene Kläger, welcher seit dem 01.02.1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, zog sich im Rahmen seiner Tätigkeit als Zimmermann am 11.09.1980 u.a. diverse Rippenfrakturen und eine Contusionspneumonie beiderseits zu. Im Rahmen einer stationären Behandlung (mit Bluttransfusionen) wurde eine Hepatitis B-Infektion festgestellt. Die Beklagte lehnte zunächst die Anerkennung des Zustandes nach Gelbsucht als Unfallfolge ab und bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 27.01.1983 (nachfolgend Widerspruchsbescheid vom 24.11.1983) Rente ab dem 01.03.1981 bis zum 10.06.1981 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 45 v. H. und ab dem 11.06.1981 nach einer MdE um 30 v. H. (anerkannte Unfallfolgen: Brustfellverwachsungen mit Ventilationsstörungen der Lunge). Im anschließenden Klageverfahren (S 8 U 4078/83) vor dem Sozialgericht Stuttgart (SG) anerkannte die Beklagte auch die Posttransfusionshepatitis Non A Non B in Form einer Minimalhepatitis als mittelbare Unfallfolge bei gleichbleibender Gesamt-MdE (Schriftsatz vom 21.03.1985) und erklärte sich bereit, die MdE auf 40 v. H. ab dem 11.06.1981 festzusetzen (Schriftsatz vom 29.07.1985). Die Beklagte entzog die Verletztenrente mit Bescheid vom 27.10.1986 mit Ablauf des Monates November 1986 mit der Begründung, die anerkannte Posttransfusionshepatitis Non A - Non B in Form einer Minimalhepatitis bedinge lediglich eine MdE von 10 v. H. Im gerichtlichen Vergleich 30.04.1987 verpflichtete sich die Beklagte, dem Kläger Verletztenrente vom 11.06.1981 bis zum 30.11.1986 nach einer MdE von 40 v. H. zu gewähren. Der Kläger verzichtete auf "weitergehende Rentenansprüche".

Den Antrag des Klägers vom Februar 1989 auf erneute Gewährung einer Verletztenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.07.1989 ab. Auf den weiteren Verschlimmerungsantrag des Klägers vom Februar 1991 holte die Beklagte das internistische Gutachten von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. O. (Klinik W.) vom 14.10.1991 mit der ergänzenden Stellungnahme vom 04.12.1991 ein und bewilligte mit Bescheid vom 16.01.1992 Verletztenrente ab dem 01.01.1991 nach einer MdE von 20 v. H. Als Folgen des Arbeitsunfalles anerkannte die Beklagte chronisch persistierende Virushepatitis C (als Posttransfusionshepatitis). Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte das Gutachten von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. O. vom 21.05.1993 ein, die internistische Stellungnahme nach Aktenlage von Dr. L. und Dr. G. (Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik M.) vom 20.12.1993 und bewilligte mit Bescheid vom 01.09.1994 Verletztenrente ab dem 28.03.1993 nach einer MdE von 30 v. H. Sie anerkannte als Folge des Arbeitsunfalles eine deutlich aktive Virushepatitis C (Grenzbefund zwischen chronisch-persistierender und chronisch-aggressiver Hepatitis). Im übrigen wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.02.1995 zurück.

Zur Rentennachprüfung schätzte Prof. Dr. O. im Gutachten vom 08.07.1997 die unfallbedingte MdE ab dem 24.06.1997 auf 50 v. H. Er beschrieb als Unfallfolge eine stark entzündlich aktive chronische Virushepatitis C mit mäßiger Fibrose, weswegen er eine einjährige Interferon-Behandlung empfahl. Dieser Empfehlung schloss sich Dr. G. (Krankenhaus Nordwest in F.) im internistischen Gutachten vom 27.07.1997 an.

Mit Bescheid vom 06.10.1997 bewilligte die Beklagte dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. ab dem 26.06.1997 und anerkannte als Unfallfolge eine deutlich aktive chronische Virushepatitis C mit mäßiger Fibrose und zum Teil hochaktiver Begleitpankreatitis.

Nach stationärer Einleitung der Interferon-Therapie vom 09. bis 13.11.1997 in der Klinik W. beschrieb Prof. Dr. O. im Abschlussbericht vom 19.11.1997 (neben der unfallabhängigen Gesundheitsstörung (stark entzündlich aktive chronische Virushepatitis C mit mäßiger Fibrose)) u.a. auch eine aktive (unfallunabhängige) chronische Pankreatitis.

In Juli 2001 beantragte der Kläger "die Auszahlung seiner Rente für die nächsten 10 Jahre in kapitalisierter Form" (zwecks Hausbau in seiner Heimat) und gab u.a. an, dass er nicht verpflichtet sei, an seine geschiedene Ehefrau oder an seine Kinder Unterhalt zu zahlen.

Im hieraufhin von der Beklagten eingeholten Gutachten vom 01.12.2001 führte Prof. Dr. O. u. a. aus, dass es gegenüber der maßgeblichen Begutachtung des Jahres 1997 zu keiner wesentlichen Änderung der anerkannten Unfallfolgen gekommen sei. Die Gesamt-MdE sei weiterhin und unverändert mit 50 v. H. einzuschätzen. Zwar beinhalte sowohl die Leber- wie auch die Bauchspeicheldrüsenerkrankung selbstverständlich das Risiko einer Verschlimmerung, aber bei strikter Meidung aller Noxen für Leber und Bauchspeicheldrüse (insbesondere Alkohol) sollte der Kläger aber nach menschlichem Ermessen die nächsten 10 Jahre überleben. Die Teilabfindung der Rente für 10 Jahre erscheine vertretbar.

Nach Einholung der beratungsärztlichen Stellungnahme des Arztes für Arbeitsmedizin H. H. vom 21.02.2002 (" ... der medizinische Befund ist nicht geeignet, eine nach objektiven Kriterien gesicherte Aussage über die Lebenserwartung des Versicherten abzugeben ...") lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.03.2002 die Gewährung einer Abfindung ab. Im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessensentscheidung sei u. a. zu prüfen, ob die Lebenserwartung des Versicherten nach der besonderen Schwere des Gesundheitszustandes und der Entwicklungstendenz der Leiden den Ablauf des Abfindungszeitraums mit hoher Wahrscheinlichkeit übersteige. Beim Kläger sei eine wissenschaftlich begründete Prognose über die Lebenserwartung aufgrund des Krankheitsbildes nicht möglich. Wegen der erheblichen medizinischen Risikofaktoren müsse man die Abfindung der Rente ablehnen.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 12.03.2002 Widerspruch ein. Die Begründung der Beklagten sei nicht nachvollziehbar, da Prof. Dr. O. eine Teilabfindung der Rente für 10 Jahre für vertretbar erachtet habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11.04.2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Sachverständige habe nicht über die Abfindung einer Rente zu entscheiden, sondern die Beklagte habe nach pflichtgemäßen Ermessen über den Antrag zu befinden. Es bestehe ein öffentliches Interesse dahingehend, dass mit annähernder Sicherheit die Lebenserwartung des Versicherten über das Ende des Abfindungszeitraums hinaus gehen müsse. Beim Kläger könne aufgrund der schwerwiegenden Lebererkrankung keine gesicherte Aussage über die Lebenserwartung getroffen werden. Der weitere Verlauf der Hepatitis - C - Erkrankung müsse abgewartet werden.

Am 02.05.2002 erhob der Kläger Klage zum SG. Er trug vor, die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Die Voraussetzungen des § 78 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) seien erfüllt, denn Prof. Dr. O. sei zum Ergebnis gelangt, dass er nach menschlichem Ermessen die nächsten 10 Jahre überleben werde. Für den streitgegenständlichen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung sei maßgebend der Zeitpunkt der Erlass des Widerspruchsbescheides, somit eine Prognose entsprechend der gutachterlichen Feststellung des Prof. Dr. O. Im Gegensatz zum Beratungsarzt habe Prof. Dr. O. ihn umfassend und ausführlich untersucht. Aufgrund der eindeutigen Feststellungen des Prof. Dr. O. sei eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben. Er benötige die Abfindung, um einen Hausbau in seiner Heimat (Bosnien-Herzegowina) zu finanzieren, was ebenfalls seiner Altersvorsorge diene.

Auf Veranlassung des SG holte die Beklagte bei Prof. Dr. O. die gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage vom 16.08.2002 ein. Der Sachverständige führte u.a. aus, dass die Lebenserwartung eines heute 55-jährigen Mannes etwa bei 75 bis 78 Jahren liegen dürfte. Selbst wenn der Kläger aufgrund seiner bisherigen bekannten Erkrankungen eine 10 Jahre geringere Lebenserwertung haben sollte als der Durchschnitt der gleichaltrigen männlichen Personen, so müsste er zumindest 65 Jahre alt werden. Der Kläger könne trotz seiner Erkrankung durchaus ein normales Alter erreichen, andererseits sei aber durch eine plötzliche Exazerbation einer der beiden oder beider Erkrankungen ein mittelfristig vorzeitiges Versterben möglich.

Die Beklagte legte dem SG die internistische Stellungnahme nach Aktenlage des Dr. K. (Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik F.) vom 07.11.2002 vor. Dr. K. führte u. a. aus, dass wegen der beim Kläger bereits leberhistologisch nachgewiesenen zirrhotischen Umbauvorgänge eine dringliche Behandlungsindikation (neuartige Interferon-Behandlung) bestehe. Bei weiterem Fortschreiten einer virusinduzierten Leberzirrhose könnten vital bedrohliche Komplikationen entstehen sowie in hohem Maße eine Karzinominduktion im Sinne eines hepatozellulären Karzinoms entstehen.

Auf Veranlassung des SG holte die Beklagte die gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage des Dr. K. vom 11.03.2002 ein. Dr. K. führte u.a. aus, dass die bessere Einschätzung der Lebenserwartung des Klägers vom Ansprechen der jetzt laufenden Therapie abhänge. Bei Therapieversagen sei die Wahrscheinlichkeit einer reduzierten Lebenserwartung um mehr als 10 Jahre als möglich zu erachten und umgekehrt sei bei erfolgreicher Viruselimination unter Umständen mit einer normalen bzw. nur gering erniedrigten Lebenserwartung zu rechnen. Das SG holte bei Prof. Dr. O. die sachverständigen Zeugenauskunft vom 21.05.2003 ein, welcher den Zwischenbericht des Dr. H. (Internist und Hausarzt des Klägers) vom 09.05.2003 beifügte.

Die Beklagte legte die beratungsärztliche Stellungnahme vom 17.06.2003 vor und entzog mit Bescheid vom 18.08.2003 die Verletztenrente mit Ablauf des Monates August 2003 mit der Begründung, es sei eine wesentliche Verbesserung eingetreten. Aufgrund der Interferon-Behandlung seien nunmehr keine Hepatitiserreger nachzuweisen. Es bestehe auch keine Begleitpankreatitis mehr, so dass lediglich eine MdE um 10 v. H. vorliege. Auf den Widerspruch des Klägers holte die Beklagte das Gutachten des Prof. Dr. O. vom 19.11.2003 ein (die MdE sei weiterhin bei unveränderten Befunden mit 50 v. H. einzuschätzen, denn die von Januar bis November laufende anitvirale Kombinationstherapie sei ineffektiv gewesen; als Unfallfolgen lägen eine stark entzündliche aktive chronische Virushepatitis C mit mäßiger Fibrose und eine chronische Begleitpankreatitis vor) und nahm anschließend mit Bescheid vom 09.12.2003 die Entziehung der Rente (Bescheid vom 18.08.2003) zurück.

Das SG holte bei Prof. Dr. O. die Auskunft vom 26.02.2004 ein, in welcher Prof. Dr. O. über typische pektanginöse Beschwerden bei Belastung und zum Teil auch in Ruhe infolge jahrzehntelangem Nikotinabusus berichtete. Beim Kläger sei zwischenzeitlich am 02.10.2003 eine erfolgreiche PTCA mit Stent durchgeführt worden, womit die Einschätzung der Lebenserwartung noch sehr viel problematischer geworden sei. Die neu diagnostizierte schwere koronare Herzerkrankung beinhalte das Risiko, auch durchaus kurzfristig einen Herztod zu erleiden. Aus diesem Grund ändere sich die ursprüngliche Einschätzung der Lebenserwartung. Er sei (nun) eher skeptisch, dass der multimorbide Patient die nächsten 10 Jahre überleben werde.

Hierzu trug der Kläger ergänzend vor, dass die nun geänderte Einschätzung nichts daran ändere, dass zum fraglichen Zeitpunkt die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Auch für die einem Bescheidurteil zugrunde zu legende Auffassung des Gerichts sei eine ex tunc-Betrachtung und keine ex nunc-Betrachtung vorzunehmen.

Die Beklagte trat der Klage weiterhin entgegen und legte dem SG den Bericht des Dr. H. vom 19.04.2004 vor ("insgesamt zeigt sich klinisch nach definitiver Beendigung der antiviralen Therapie ein klinisch wie laborchemisch stabiler Verlauf").

Mit Urteil vom 21.04.2004, dem Kläger zugestellt am 29.04.2004, verurteilte das SG die Beklagte - entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gestellten Klageantrag - unter Aufhebung des Bescheides vom 08.03.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2002 den Antrag des Klägers auf Abfindung seiner Verletztenrente erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig, denn die Beklagte habe den Antrag des Klägers ermessensfehlerhaft abgelehnt. Die Beurteilung der Lebenserwartung sei als Prognoseentscheidung ohne Beurteilungsspielraum des Beklagten vom Gericht voll überprüfbar. Nach den zum damaligen Entscheidungszeitpunkt (11.04.2002) maßgebenden gutachterlichen Stellungnahmen von Prof. Dr. O. und H. H. sei die Ablehnung der Gewährung einer Abfindung ermessensfehlerhaft gewesen. Die Beklagte habe allerdings bei einer Neubescheidung zu beachten, dass zwischenzeitliche Änderungen zu berücksichtigen seien, so dass geprüft werden müsse, ob auch aus heutiger Sicht anzunehmen sei, dass der Kläger die nächsten 10 Jahre überleben werde. Hieran habe die Kammer aufgrund des im gerichtlichen Verfahrens nachermittelten Sachverhalts erhebliche Zweifel. Prof. Dr. O. habe in seiner Stellungnahme vom 26.02.2004 seine im Jahr 2002 abgegebene Einschätzung aufgrund der hinzugetretenen schweren koronaren Herzerkrankung revidiert. Demnach sei es nun nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Beklagte die Gewährung einer Abfindung ablehne. Zwar komme die Ablehnung nur dann in Betracht, wenn die Lebenserwartung des Versicherten deutlich geringer sei als der Abfindungszeitraum, aufgrund der Aussagen von Prof. Dr. O. seien dies vorliegend aber der Fall.

Am 28.05.2004 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt vor, die Berufung sei zulässig, denn bei einem Bescheidungsurteil liege eine Beschwer des an sich obsiegenden Klägers vor, wenn die dem Bescheidungsurteil zugrunde liegende Rechtsauffassung von der Rechtsauffassung des Klägers abweiche. Das Urteil des SG sei abzuändern, weil das SG seinem Bescheidungsurteil eine falsche Rechtsauffassung zugrundegelegt habe. Die Auffassung des SG - bezüglich der Neubescheidung und damit bezüglich das Bestehens eines Rechtsanspruches sei grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen und zwar unabhängig davon, ob der Behörde in der Sache ein Ermessensspielraum zukomme - sei rechtsfehlerhaft. Zwar möge es im Grundsatz so sein, dass es bei kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankomme, allerdings sei der Versicherte immer so zu stellen, als wenn von vornherein rechtmäßig entschieden worden wäre. Wenn durch nachträgliche Änderungen Nachteile entstanden seien, komme es für die Begründetheit auf den Zeitpunkt an, in dem der Anspruch zunächst entstanden sei. Bei Ermessensentscheidungen sei dies immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also des Widerspruchsbescheides, denn dieser Zeitpunkt stelle eine Zäsur dar (Binder/Bolay/Castendieck, Kommentar SGG, § 54, RndNr. 61). Andernfalls hätte es die Verwaltung in der Hand, durch diverse Verzögerungen des Gerichtsverfahrens eine für sie günstigere Tatsachen- und Rechtslage zu erreichen und darüber hinaus könne es nicht zu Lasten des Versicherten gehen, wenn der Zeitraum ab Erlass des Widerspruchsbescheides bis zum erstinstanzlichen Urteil mehr als zwei Jahre betrage.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.04.2004 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.03.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2002 zu verurteilen, den Antrag auf Abfindung erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden mit der Maßgabe, dass bezüglich des Zeitpunkts für die Ausübung des Ermessens auf den 11.04.2002 abzustellen ist, hilfsweise festzustellen, dass die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 08.03.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2002 rechtswidrig war, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 14.05.2004 erneut den Antrag des Klägers auf Abfindung seiner Rente abgelehnt. Das diesbezüglich anhängige Widerspruchsverfahren haben die Beteiligten ruhend gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Akte des SG und die Akte des Senats verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gem. § 144 SGG liegen nicht vor.

Insbesondere ist der Kläger auch beschwert, obwohl die Urteilsformel des SG mit dem klägerischen Antrag voll übereinstimmt. Zwar ist der Kläger durch die gegen ihn wirkende Rechtskraft in der Regel nicht beschwert, wenn das von ihm angefochtene, seinem Antrag voll stattgebende Urteil auf andere Gründe gestützt ist, als er zur Begründung seines Antrages vorgebracht hatte (Eyermann Kommentar VwGO, 11. Auflage § 124, RndNr. 29; BVerwGE 17, 352; BSG Urt. vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74). Allerdings erfordert die Beurteilung, ob dem Kläger im konkreten Fall etwas versagt worden ist, was er beantragt hat, einen Vergleich zwischen dem rechtskraftfähigen Inhalt der Entscheidung und der vom Kläger im vorinstanzlichen Verfahren zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung. Der Senat braucht die Frage nicht zu entscheiden, was allgemein zum rechtskraftfähigen Inhalt des Urteils gehört, insbesondere nicht, ob und inwieweit allgemein die Entscheidungsgründe an der Rechtskraft teilnehmen oder lediglich zur Auslegung der Urteilsformel heranzuziehen sind. Die Rechtskraftwirkung im Sinne des § 141 Abs. 1 SGG und ihre Grenzen können nämlich - jedenfalls bei einer nach § 131 Abs. 3 SGG ergehenden Entscheidung - nicht allein der Urteilsformel entnommen werden. Wird nach § 131 Abs. 3 SGG ein Bescheid aufgehoben und die Verurteilung zur Erteilung eines neuen Bescheides "unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts" ausgesprochen, so bestimmen vielmehr erst die das Urteil tragenden Gründe - die im Urteil zum Ausdruck gebrachte, für die Entscheidung maßgebende Rechtsauffassung des Gerichts - den Umfang und die Grenzen der Rechtskraftwirkung (Zeihe, Komm. SGG, Anm. 3 zu § 131 Abs. 3; BVerwGE 29, 1; 69,256,258; Eyermann, aaO, § 124 Rdnr. 30; Redeker/von Oertzen, Kommentar VwGO, 13. Auflage, § 131 RndNr. 41; BSG Urt. vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74). Ein Bescheidungsurteil beschwert also den Kläger, wenn sich die vom Gericht für verbindlich erklärte Rechtsauffassung nicht mit seiner eigenen deckt und für ihn ungünstiger ist, wenn also bei Anwendung der Rechtsauffassung des Gerichts durch die Behörde mit einem dem Kläger ungünstigeren Ergebnis zu rechnen ist als bei Anwendung seiner eigenen Rechtsauffassung; denn eine Beschwer des Rechtsmittelführers liegt immer dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung, soweit sie für die Beteiligten verbindlich werden kann, hinter seinem Begehren zurückbleibt (VGH Bad.-Württ. Urt. vom 09.12.1993 - 5 S 1409/93; Beschluss vom 22.03.1999 - 10 S 2950/98; OVG Münster NVwZ-RR 1998, 627). Gemessen hieran ist der Kläger beschwert. Zwar hat der Kläger in erster Instanz ein Bescheidungsurteil erlangt, welches vollumfänglich seinem Klageantrag entsprochen hat, jedoch hat das SG der Beklagten rechtliche Maßgaben für die ausstehende Ermessensausübung mitgegeben, welche nicht mit der klägerischen Rechtsauffassung übereinstimmen. Die Rechtsauffassung des SG, dass bezüglich des neu zu erlassenden Verwaltungsaktes die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Neubescheidung maßgebend ist und somit die Beklagte zwischenzeitliche Änderungen der Sach- und Rechtslage berücksichtigen kann bzw. berücksichtigen muss, kann in Rechtskraft erwachsen und beschwert insoweit den Kläger. Der Kläger hat in erster Instanz seine Rechtsauffassung explizit dargelegt und ausgeführt, dass bezüglich der Neubescheidung im Rahmen einer Ermessensentscheidung für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides, maßgebend sei; insofern bleibt das angefochtene Urteil des SG hinter dem Begehren des Klägers zurück.

Die Berufung des Klägers ist aber unbegründet.

Zunächst ist festzuhalten, dass der Senat - aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte gegen das Urteil des SG keine Berufung eingelegt hat - nicht darüber zu entscheiden hat, ob das SG die Beklagte zu Recht zur Neubescheidung wegen Ermessensfehlgebrauchs verurteilt hat. Streitgegenständlich ist im vorliegenden Berufungsverfahren allein die vom Kläger angegriffene, in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils dargelegte Rechtsauffassung des SG, dass die Beklagte bei einer Neubescheidung grundsätzlich auf den Zeitpunkt der (neuen) Entscheidung abzustellen hat. Der Senat hat somit allein über die Rechtsfrage zu befinden, ob die Beklagte bei Erlass des neuen Bescheides etwaige Änderungen der Sach- und Rechtslage nach Erlass des aufgehobenen Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2002 berücksichtigen kann.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist dies zu bejahen. Die Beklagte kann den Antrag des Klägers auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes - d. h. auf Gewährung einer Abfindung - ein zweites Mal (nach Verurteilung zur Neubescheidung) zurückweisen, wenn das aus anderen Gründen gerechtfertigt ist, insbesondere aus Gründen, die neu eingetreten sind (Meyer-Ladewig, Komm. SGG, 7. Auflage, § 131 RndNr. 16; BSG Urt. vom 25.03.2003 - B 1 KR 33/01 R). Die Behörde soll nicht sehenden Auges dazu verpflichtet werden, einen aus heutiger Sicht rechtswidrigen Verwaltungsakt zu erlassen. Der Hinweis des Klägers auf Binder/Bolay/Castendieck u. a., Handkommentar SGG, 1. Auflage, § 54 RndNr. 61 geht insoweit fehl, denn hierin wird lediglich ausgeführt, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtlage bei Ermessensentscheidungen immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ist. Dies ist in der Regel zutreffend und dementsprechend hat auch das SG die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung der Beklagten bezüglich des Zeitpunkts des Erlasses des Widerspruchsbescheides (11.04.2002) geprüft und festgestellt, dass der Verwaltungsakt nicht unter Ausübung sachgerechten Ermessens ergangen ist. Der allgemein geltende Grundsatz, dass bei Ermessensentscheidungen der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit immer der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung; so auch Meyer-Ladewig aaO § 54 Rdnr. 33a) ist, steht aber nicht dem (auch) allgemein geltenden Grundsatz entgegen, dass die Beklagte bei Erlass des neuen Verwaltungsaktes (nach Verurteilung zur Neubescheidung durch das SG) etwaige Änderungen (auch bezüglich des medizinischen Sachverhalts) berücksichtigen muss. Bei einer Änderung der zugrunde liegenden Sach- oder Rechtslage entfällt dementsprechend die Bindung an etwaige tragende Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung (Meyer-Ladewig, § 131 RndNr. 16; VGH Hessen DVBL 1999, 1666; Bolay in HK - SGG § 131 RndNr. 24; Kopp - Schenke, VwGO, 13. Aufl. Rdnr. 214 zu § 113). Die Rechtmäßigkeit des etwaigen neuen Verwaltungsaktes, den die Beklagte aufgrund der Verurteilung zur Neubescheidung erlässt, ist dann wiederum unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt dieser Verwaltungsentscheidung, gegebenenfalls der nachfolgenden Widerspruchsentscheidung zu prüfen.

Der Verwaltungsakt vom 14.05.2004 mit dem die Beklagte - nach Verurteilung zur Neubescheidung - erneut die Gewährung einer Abfindung abgelehnt hat, ist nicht gem. § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Der neue Bescheid vom 14.05.2004 ändert den vom SG aufgehobenen Bescheid vom 08.03.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2002 nicht ab und ersetzt diesen auch nicht. Vielmehr wurde der Verwaltungsakt vom 14.05.2004 in Ausführung des die Beklagte verurteilenden Urteils des SG erlassen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats werden Ausführungsbescheide, d. h. Verwaltungsakte, die ausschließlich das erstinstanzliche Urteil ausführen, nicht gem. § 96 SGG Gegenstand des bezüglich der erstinstanzlichen Entscheidung anhängigen Berufungsverfahrens. Deshalb entscheidet der Senat auch nicht über die Rechtmäßigkeit der (erneuten) Ablehnung der Gewährung einer Abfindung. Ob die Beklagte ihr Ermessen im Rahmen der neuen Entscheidung vom 14.05.2004 diesmal entsprechend § 39 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) sachgerecht ausgeübt hat, kann gegebenenfalls nach Durchführung des entsprechenden Vorverfahrens in einem nachfolgenden Klageverfahren geprüft und entschieden werden.

Die hilfsweise erhobene Festsstellungsklage (§ 55 SGG) ist mangels Rechtschutzinteresses des Klägers unzulässig. Das SG hat im insoweit rechtskräftigen Urteil vom 21.04.2004 (die Beklagte hat gegen ihre Verurteilung zur Neubescheidung keine Berufung eingelegt) den Bescheid vom 08.03.2002 in der Gestalt der Gestalt des Widerspruchsbescheides von 11.04.2002 mit der Begründung aufgehoben, dass dieser Verwaltungsakt rechtswidrig ist und in den Entscheidungsgründen weiter ausgeführt, dass die Beklagte eine ermessensfehlerhafte Entscheidung getroffen hat. Im Hinblick auf einen etwaigen Amtshaftungsanspruch kann der Kläger somit das fehlerhafte/rechts-widrige Verwaltungshandeln der Beklagten bereits durch dieses rechtskräftige Urteil des SG darlegen bzw. nachweisen.

Nach alledem war die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch weicht der Senat ersichtlich von einer Entscheidung des LSG, des BSG oder sonstiger in § 144 Abs. 2 SGG genannter Gerichte ab.
Rechtskraft
Aus
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