S 11 AS 19/05 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 19/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller über den 05.04.2005 hinaus 80 Prozent der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie die vollen Leistungen für Unterkunft und Heizung bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides vom 06.04.2005 zu erbringen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Antragstellers zu erstatten.

Gründe:

Der Antragsteller wehrt sich gegen den Entzug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Mit Bescheid vom 06.04.2005 hob die Antragsgegnerin die vorherigen Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf. Sie führte aus, der Antragsteller habe selbst angegeben, sich vor kurzem vorübergehend bei seinen Eltern in K aufgehalten zu haben. Darüber hinaus sei seine B Wohnung nur spärlich eingerichtet (keine Küchenmöbel, keine üblichen Elektrogeräte) und befinde sich in einem Zustand, der auf eine nur spärliche Nutzung schließen lasse (keine Nahrungsmittel und Waschutensilien und nur wenig Bekleidung, Bettwäsche und persönliche Gegenstände, starke Verschmutzungen). Angesichts dessen könne nicht von der Wohnung als gewöhnlichem Aufenthaltsort des Antragstellers ausgegangen werden. Da aber der gewöhnliche Aufenthalt nicht bekannt sei, könne die Antragsgegnerin erstens ihre örtliche Zuständigkeit nicht länger annehmen. Zweitens könne sie nicht mehr von der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers ausgehen, denn sie könne - mangels Kenntnis des gewöhnlichen Aufenthalts - nicht prüfen, ob sich der Antragsteller nicht vielleicht bei Dritten aufhalte und von diesen Zuwendungen erhalte.

Der Antragsteller hat - aufgrund einer Vorankündigung des Aufhebungsbescheides - bereits am 00.00.0000 einstweiligen Rechtsschutz beantragt.

Er führt aus, er habe sich für ungefähr drei Wochen bei seinen Eltern in K aufgehalten, um einer polizeilichen Festnahme zu entgehen. Inzwischen sei die Angelegenheit aber geklärt und er halte sich wieder in B auf. Den Zustand seiner Wohnung erklärt er damit, dass er nur wenige persönliche Dinge besitze.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm über den 05.04.2005 hinaus Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen und führt aus, angesichts der zugegebenen Abwesenheit des Antragstellers aus ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich sei auch von weiteren Abwesenheitszeiträumen in Vergangenheit und Zukunft auszugehen.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte verwiesen.

II.

Der zulässige Antrag ist begründet.

Der Antrag ist zulässig. Das Gericht ist an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs des Antragstellers gegen den Aufhebungsbescheid nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB III) gehindert, denn der Antragsteller hat bislang nicht Widerspruch erhoben. Ausgehend vom Begehren des Antragstellers ist daher die Auffangvorschrift in § 86 b Abs. 2 SGG einschlägig, denn der alleinige Umstand, dass ein Widerspruch bisher nicht vorliegt, kann nicht zur Verweigerung von gerichtlichem Rechtsschutz führen. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass das geltend gemachte Begehren im Rahmen der beim einstweiligen Rechtsschutz allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung begründet erscheint (Anordnungsanspruch) und erfordert zusätzlich die besondere Eilbedürftigkeit der Durchsetzung des Begehrens (Anordnungsgrund). Zudem darf eine Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache nicht endgültig (d.h. irreversibel) vorweg genommen werden (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 86 b, Rn. 31 und 40 m.w.N.).

Der Antrag ist auch begründet.

Anordnungsanspruch (dazu sogleich) und Anordnungsgrund (dazu sodann) sind gegeben. Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 06.04.2005 erweist sich anhand der hier allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung und unter besonderer Berücksichtigung der materiellen Beweislastverteilung jedenfalls als nicht derart eindeutig rechtmäßig, dass dies den Entzug von Grundsicherungsleistungen und somit jeglicher Hilfe zur Sicherung der elementaren Bedürfnisse rechtfertigt.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die materielle Beweislast für den Eintritt einer wesentlichen Änderung liegt im vorliegenden Fall nach allgemeinen Grundsätzen bei der Antragsgegnerin, da sie sich auf das Vorliegen der Änderung beruft.

Beide Punkte, auf die die Antragsgegnerin den Aufhebungsbescheid stützt, bedürfen weiterer Sachaufklärung, die das Gericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht leisten kann und nicht zu leisten hat. Auch wenn die Schilderungen der Antragsgegnerin über den Zustand der Wohnung des Antragstellers zutreffen sollten, kann nicht ohne weitere Sachaufklärung unterstellt werden, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 36 SGB II) nicht in B hat. Vielmehr kann der Zustand der Wohnung ebensogut den allgemeinen Lebensgewohnheiten und der üblichen Lebensführung des Antragstellers entsprechen. Es ist nach Auffassung der Kammer allgemeinbekannt, dass gerade jüngere alleinstehende Männer ihren Haushalt oft nur in minimalem Umfang und mit sehr wenig Sorgfalt besorgen und sich auch häufig nur wenig in ihren Wohnungen aufhalten. Soweit sich die Antragsgegnerin im Übrigen darauf beruft, angesichts des unbekannten Aufenthalts könne die Bedürftigkeit des Antragstellers nicht geprüft werden, kann bereits nicht allein aus der (hier: keineswegs erwiesenen) Tatsache eines möglicherweise ungeklärten gewöhnlichen Aufenthalts automatisch auf fehlende Bedürftigkeit geschlossen werden. Dies wäre erst dann möglich, wenn der Antragsteller z.B. Angaben zum Aufenthalt und zu möglicher Unterstützung durch Dritte verweigert oder seine Angaben nicht plausibel sind.

Ob eine Umdeutung des Aufhebungsbescheides in einen Bescheid nach § 45 SGB X auch angesichts § 43 Abs. 3 SGB X möglich ist, kann dahinstehen, da die Zweifel an den tatsächlichen Grundlagen des Aufhebungsbescheides auch hier durchgreifen würden.

Auch der Anordnungsgrund ist gegeben. Hier ist besonders die Stellung der Grundsicherung für Arbeitsuchende innerhalb des Systems der sozialen Sicherung zu berücksichtigen, die auch die im Rahmen von § 86 SGG anzustellende Interessenabwägung beeinflusst. Die Grundsicherung hat den Charakter einer "letzten" Hilfsmöglichkeit, der keine weitere subsidäre Leistung mehr nachgeordnet ist. Der Antragsteller ist nach seinen Angaben, an denen zu zweifeln das Gericht keinen Anlass sieht, mittellos und hat daher ein Interesse an weiterer Hilfegewährung. Das Interesse der Antragsgegnerin, Leistungen nur an wirklich Bedürftige zu erbringen, muss im vorliegenden Einzelfall schon deswegen zurücktreten, weil die Antragsgegnerin nach § 105 SGB X einen Erstattungsanspruch gegen den oder die örtlich zuständigen Grundsicherungsträger hätte, wenn der Antragsteller tatsächlich anderweitig aufenthältlich wäre. Ob die Antragsgegnerin neben ihrer örtlichen Zuständigkeit auch die Hilfebedürftigkeit verneinen durfte, ist derzeit ungeklärt und auch im Rahmen eines sozialgerichtlichen Eilverfahrens nicht mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln. Hier ist den Interessen der Antragsgegnerin durch die Verpflichtung zu nur 80 Prozent der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts hinreichend Rechnung getragen.

Eine mögliche rückwirkende Aufhebung und Rückforderungen der Leistungen für den Zeitraum, während dessen sich der Antragsteller nach eigener Aussage nicht im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin aufgehalten hat, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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