S 9 AS 21/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 21/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller, 24 Jahre alt und arbeitsloser Schweißer, zuletzt gegen eine monatliche Bruttovergütung von 500,- EUR in einer Altenpflegeeinrichtung tätig, beantragte am 25.02.2005 Leistungen nach dem SGB II. Dies lehnte die Antragsgegnerin ab (Bescheid vom 08.04.2005), da der Antragsteller in Haushaltsgemeinschaft mit seinen ausreichend leistungsfähigen Eltern lebe und deshalb zu vermuten sei, dass er von diesen Leistungen erhalte (§ 9 Abs. 5 SGB II).

Dem widersprach der Antragsteller. Es sei richtig, dass er bei seinen Eltern in deren Haus wohne. Diese seien ihm gegenüber nicht unterhaltspflichtig, da er eine abgeschlossene Ausbildung habe und volljährig sei. Er erhalte von ihnen auch keine Leistungen. Da er § 9 Abs. 5 SGB II kenne, habe er schon bei Antragstellung die Haushaltsgemeinschaft bestritten und dies damit begründet, dass - Eltern und Sohn getrennte Bankkonten hätten - ihre Lebensrhythmen völlig unterschiedlich seien, z. B. auch die Essenszeiten; er nehme die Mahlzeiten meist allein in seinem Zimmer ein; teilweise bereite er sie auch selbst zu - das von ihm bewohnte, 22 qm große Zimmer und die Verpflegung erhalte er nicht kostenlos, sondern gegen pauschal 125,- EUR für Verpflegung und 75,- EUR für Unterkunft und Nebenkosten monatlich; dafür würden die notwendigen Einkäufe getätigt und er dürfe Bad und Küche mitbenutzen.

Inhaltsgleiche Erklärungen gaben auch die Eltern des Antragstellers ab. Der Antragsteller gibt an, derzeit mittellos zu sein.

Er beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für April 2005 80 % der Regelleistung des Alg II und der Unterkunftskosten, insgesamt 336,- EUR zu zahlen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie trägt vor, die Unterhaltsvermutung des § 9 Abs. 5 SGB II greife hier ein. Der Gesetzgeber gehe grundsätzlich davon aus, dass das Zusammenleben von Verwandten und verschwägerten Personen in einer Haushaltsgemeinschaft dazu führt, dass sie ihr Einkommen und Vermögen zur gegenseitigen Bedarfsdeckung zur Verfügung stellen. Diese Erwartung bestehe auch ohne eine bürgerlichrechtliche Unterhaltspflicht aus sittlichen Beweggründen heraus. Die Unterhaltsvermutung folge aus dem Nachrangprinzip. Danach solle eine gegenseitige Hilfs- und Unterstützungsgemeinschaft, die eine Familie in der Regel sei, Vorrang vor einer Leistung aus öffentlichen Mitteln haben. Die Allgemeinheit könne nicht verpflichtet sein, einzuspringen, wenn der Hilfebedürftige mit leistungsfähigen Angehörigen in Haushaltsgemeinschaft lebt. Eine Wohn- und Wirtschaftgemeinschaft mit den Eltern liege vor. Von den Eltern könne aufgrund des väterlichen Bruttoeinkommens von 4.103,72 EUR, das auch unter Berücksichtigung der Schuldentilgung für das Eigenheim deutlich über dem entsprechenden Bedarfssatz liege, erwartet werden, dass er Leistungen an den Antragsteller erbringe. Auf die subjektiven Einstellungen komme es dabei nicht an; vielmehr sei die Erwartung gerechtfertigt, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung die Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt an den Antragsteller angenommen werden könne. Die gesetzliche Vermutung sei nicht durch bloßes Bestreiten zu widerlegen.

II.

Der zulässige Antrag ist nicht begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gemaß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.

Vorliegend ist kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, denn nach gegenwärtigem Sachstand und der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Betrachtung wird der Antragsteller im Hauptsacheverfahren unterliegen.

Die vom Antragsteller beantragten Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die u. a. hilfebedürftig sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer seinen Unterhalt nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, z. B. von Angehörigen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Der Antragsteller gibt an, keine Unterstützung von seinen Eltern zu erhalten und hierauf auch keinen Anspruch zu haben.

Unabhängig hiervon steht aber § 9 Abs. 5 SGB II dem Anspruch des Antragstellers entgegen. Danach wird bei Hilfebedürftigen, die mit Verwandten in Haushaltsgemeinschaft leben, vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Bloße entgegenstehende Behauptungen des Antragstellers oder seiner Eltern reichen zur Widerlegung der Vermutung nicht aus (vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.11.1997, 24 A 2780/94).

Eine Haushaltsgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinen Eltern besteht. Sie setzt gemeinsames Wohnen und Wirtschaften voraus (Bundestagsdrucksache – BT-Drs. 15/1516, Begründung zu § 9 Abs. 4 SGB II), was hinsichtlich des Wohnens unproblematisch vorliegt, da der Antragsteller ein Zimmer in einer gemeinsamen Wohnung bewohnt, deren Gemeinschaftsräume allen Bewohnern offen stehen. Auch gemeinsames Wirtschaften liegt vor, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller ein eigenes Konto hat. Jedoch gibt der Antragsteller zu Hause "Kostgeld" ab, das einem gemeinsamen Topf zufließt, aus dem die Eltern Einkäufe tätigen, um die Ernährung aller Hausbewohner sicherzustellen. Nach Angaben des Antragstellers erfolgt in der Regel auch die Zubereitung des Essens durch ein Elternteil. Dass Zeit und Ort des Essens beim Antragsteller und seinen Eltern häufig nicht gleich sind, ist schon bei Halbwüchsigen nicht ungewöhnlich und für die Frage, ob gemeinsam gewohnt und gewirtschaftet wird, unerheblich. Auch sonst erbringen die Eltern Leistungen für den Antragsteller, wie sie im Rahmen des Zusammenlebens zwischen Eltern und Kindern durchaus üblich sind. Beispielsweise wird der Antragsteller – da selbst ohne Auto und Führerschein – zu Terminen beim Arbeitsamt regelmäßig von einem Elternteil gefahren, wie sich aus der Leistungsakte ergibt.

Bei der Anwendung der Unterhaltsvermutung sind im Anschluss an die früher zu § 16 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ergangene Rechtsprechung, die Umstände des Einzelfalls und die Verkehrsanschauung nach allgemeiner Lebenserfahrung zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 26.11.1997, 24 A 2780/94; VG Karlsruhe, Urteil vom 27.05.2003, 2 K 2864/01). Je näher die Verwandtschaft, also insbesondere im Verhältnis von Eltern und Kindern, desto schwerer ist die Vermutung des § 9 Abs. 5 zu widerlegen.

Der Antragsteller wohnt im Hause der Eltern wie ein in Berufsausbildung oder am Anfang der beruflichen Laufbahn stehendes – volljähriges – Kind, das sich mit dem noch geringen eigenen Einkommen (solange solches noch vorhanden war) symbolisch an den sicher über 200,- EUR liegenden Wohn- und Verpflegungskosten beteiligte und dem zugleich ein Taschengeld zur eigenen Verfügung belassen wurde. Objektiv betrachtet handelt es sich daher um das typische Bild einer Einstandsgemeinschaft zwischen Eltern einerseits und privat noch nicht eigenständigem sowie beruflich noch nicht abgesichertem Kind andererseits, für die der Gesetzgeber des SGB II anordnet, dass finanzielle Lebensrisiken vorrangig durch diese Einstandsgemeinschaft und erst nachrangig durch öffentliche Leistungen abgesichert werden sollen.

Die zusätzlich notwendige Leistungsfähigkeit auf Seiten der Eltern wird nicht in Abrede gestellt und ist nach Aktenlage von der Antragsgegnerin in vertretbarer Weise berechnet und bejaht worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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