S 11 AL 1/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AL 1/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 91/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 09.12.2004 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 17.12.2004 verurteilt, der Klägerin ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 30.11. bis 16.12.2004 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Minderung des an sie ausgezahlten Arbeitslosengeldes (Alg) wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend.

Die am 00.00.1968 geborene Klägerin war zuletzt vom 27.02.2002 bis zum 30.04.2003 beim Land Nordrhein-Westfalen, Fachhochschule B, beschäftigt. Vom 01.05.2003 bis zum 26.09.2003 bezog sie zunächst Alg und anschließend vom 27.09.2003 bis 31.01.2004 Mutterschaftsgeld. Vom 04.11.2003 bis 03.11.2004 bezog sie Erziehungsgeld aufgrund des Bescheides des Versorgungsamts Aachen vom 30.03.2004.

Am 30.11.2004 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Alg. Mit Bescheid vom 09.12.2004 gewährte die Beklagte ihr Alg ab dem 30.11.2004 und nahm zugleich eine Minderung des Anspruchs um 210.- Euro vor, da sich die Klägerin um 118 Tage zu spät gemeldet habe. Die Beklagte führte aus, die Klägerin habe seit dem 02.04.2004 Kenntnis von der Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses gehabt; sie habe sich spätestens am 04.08.2004 arbeitsuchend melden müssen. Als Minderungszeitraum nahm die Beklagte die Zeit vom 30.11. bis 16.12.2004 an.

Den am 15.12.2004 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 17.12.2004 mit der Begründung zurück, im vorliegenden Fall habe sich die Klägerin spätestens 3 Monate vor Ende des Bezugs von Erziehungsgeld arbeitsuchend melden müssen.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Die Klägerin führt aus, sie habe nicht gewusst, dass sie sich hätte melden müssen, zumal sie nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden, sondern Erziehungsgeld bezogen habe.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 09.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2004 zu verurteilen, ihr ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 30.11. bis 16.12.2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch der Klägerin nicht wegen verspäteter Meldung mindern.

Die §§ 37 b und 140 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) als gesetzliche Grundlagen der Minderung sind verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine Minderung zumindest dann unterbleibt, wenn der Betroffene seine Obliegenheit zu frühzeitiger Meldung als arbeitsuchend weder kennt noch aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kennt und auch keine allgemein bekannten Verhaltenserwartungen der Versichertengemeinschaft missachtet hat.

Die Beklagte zahlt nach Maßgabe der §§ 117 ff SGB III Alg. Dass die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen hierfür erfüllt, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Beklagte durfte den Alg-Anspruch auch nicht nach § 140 SGB III mindern. Nach Satz 1 dieser Vorschrift mindert sich der Anspruch auf Alg, wenn sich der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitsuchend gemeldet hat. Nach § 37 b Satz 1 SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet, verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden.

Die Meldeobliegenheit aus § 37 b SGB III gilt grundsätzlich auch für die Klägerin, denn sie stand zuletzt - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - in einem Versicherungspflichtverhältnis i.S.d. §§ 37 b Satz 1, 26 Abs. 2 a SGB III.

Die Klage ist nicht bereits wegen der erheblichen Bedenken gegen § 37 b Satz 2 SGB III als Ermächtigungsgrundlage für eine Minderung begründet, denn der vorliegende Fall beurteilt sich - entgegen der Auffassung der Beklagten - allein nach § 37b Satz 1 SGB III, nicht auch nach § 37 b Satz 2 SGB III: Die Klägerin befand sich nicht - wie § 37 b Satz 2 SGB III es voraussetzt - in einem Arbeitsverhältnis, sondern einem sonstigen Versicherungspflichtverhältnis (§ 26 SGB III). Zwar erscheint es sinnvoll, diejenigen sonstigen Versicherungspflichtverhältnisse, deren Ende von vorn herein absehbar ist, einer ähnlichen Regelung wie in § 37 b Satz 2 SGB III zu unterwerfen, denn auch hier fördert es die Vermittlung des Betroffenen in Arbeit, wenn der Versicherungspflichtige die Beklagte rechtzeitig an die baldige Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses "erinnert". Diese Analogie lässt sich jedoch gerade angesichts der eindeutigen gesetzlichen Differenzierung zwischen Beschäftigung (§§ 24 f SGB III) und sonstigem Versicherungspflichtverhältnis (§ 26 SGB III) nicht mit dem Wortlaut von § 37 b Satz 1 und 2 SGB III in Einklang bringen.

Die Beklagte kann sich jedoch nicht auf § 140 Satz 1 SGB III als Ermächtigungsgrundlage für die Minderung berufen, da die Klägerin - unter Zugrundelegung der gebotenen verfassungskonformen Auslegung der §§ 37 b, 140 SGB III - den Tatbestand dieser Vorschrift nicht verwirklicht hat.

Entgegen seinem Wortlaut enthält § 37 b Satz 1 SGB III keine echte Rechtspflicht, sondern eine Obliegenheit (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.09.2004 - L 1 AL 51/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2004 - L 12 AL 2249/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.06.2004 - L 3 AL 1267/04), denn die Vorschrift verlangt dem Versicherten bereits im Stadium vor dem eigentlichen Leistungsverhältnis ein Verhalten ab, das die Versichertengemeinschaft vor dem vermeidbaren Schaden bewahren soll, der durch verzögerte Aufnahme der Vermittlungsbemühungen typischerweise entsteht (SG Berlin, Urteile vom 26.03.2004 - S 58 AL 6603/03 und 108/04, info also 2004, S. 111 f und 112 (113 f); Geiger, SGB 2004, 342, 343). Gemeinsam ist Rechtspflicht und Obliegenheit, dass ein Verstoß gegen sie nur bei vorwerfbarem Handeln sanktioniert ist und demgemäß eine nicht vorwerfbare Unkenntnis der Obliegenheit die Sanktion nicht auslöst (hierzu und zum Folgenden LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., unter Verweis auf BSG, NZS 2004, 275). Auch § 37 b Satz 1 SGB III weicht von diesem Grundsatz nicht ab: Erstens verweist bereits der Wortlaut auf eine verschuldete Meldungsverzögerung, denn "unverzüglich" bedeutet nach der - auch im Sozialrecht gültigen (SG Freiburg i. Br., Gerichtsbescheid vom 15.04.2004 - S 9 AL 3989/03; Heinrichs, in: Palandt, BGB, 63. Aufl., 2004, § 121, Rn. 3; Jauernig, in: Jauernig, BGB, 11. Aufl., 2004, § 121, Rn. 1; a.A. Coseriu/Jakob, in: Praxiskommentar SGB III, § 37 b, Rn. 8) - gesetzlichen Definition in § 121 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) "ohne schuldhaftes Zögern" (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2004 - L 5 AL 1986/04 - Az des Revisionsverfahrens: B 7 AL 80/04 R; SG Mannheim, Urteil 14.05.2004 - S 11 AL 3775/03; einschränkend Kruse, in: Gagel, SGB III, § 37b Rn. 4). Zweitens muss bei der Auslegung von § 37 b SGB III auch § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III mitgelesen werden, wonach der Arbeitgeber "über die Verpflichtung unverzüglicher Meldung ( ...) informieren" soll. Solange die Obliegenheit zur unverzüglichen Meldung noch nicht zum allgemein präsenten Wissen eines Arbeitnehmers gehört, setzt die Minderung nach § 140 SGB III daher einen entsprechenden Hinweis voraus (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.).

Ein solcher Hinweis ist nicht in den Aufklärungskampagnen der Beklagten und der entsprechenden Presseberichterstattung zu sehen. Erstere dürfte den einzelnen Arbeitnehmer nur in geringem Maße erreicht haben (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.) und letztere ersetzt einen individuellen Hinweis bereits deswegen nicht, weil das Arbeitsförderungsrecht keine Obliegenheit des Arbeitnehmers enthält, die Presseberichterstattung über Rechtsänderungen zu verfolgen, auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und das Ergebnis dieser Prüfung dergestalt vorzuhalten, dass er im Bedarfsfall jederzeit darauf zurückgreifen kann (vgl. auch SG Mannheim, a.a.O.).

Es ergibt sich aus dem gesamten Akteninhalt keinerlei Hinweis darauf, dass die Klägerin auf die Obliegenheit nach § 37 b Satz 1 SGB III hingewiesen worden ist.

Der Regelungsgehalt des § 37 b SGB III gehört auch nicht zum allgemein präsenten Wissen eines Arbeitnehmers. Dies käme dann in Betracht, wenn die Vorschrift bereits zuvor bestehende und allgemein bekannte Verhaltserwartungen der Versichertengemeinschaft kodifizierte (SG Berlin, Urteil vom 26.03.2004 - S 58 AL 6603/03, a.a.O.). Statt dessen bricht § 37 b SGB III gerade mit der bisherigen Rechtslage und dem hierauf basierenden überkommenen Rechtsbewußtsein (ausführlich LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., SG Berlin, a.a.O., S. 112). So erklärt § 122 Abs. 1 Satz 2 SGB III eine vor Eintritt der Arbeitslosigkeit (§ 119 SGB III) erfolgte Arbeitslosmeldung unter den bestimmten Voraussetzungen für zulässig, aber gerade nicht für erforderlich, während der Bezug von Alg nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB III grundsätzlich gegenwärtige (und nicht zukünftige) Arbeitslosigkeit voraussetzt.

Im Fall der Klägerin kommt hinzu, dass sie sich zuletzt nicht in einem Beschäftigungsverhältnis, sondern in einem sonstigen Versicherungspflichtverhältnis befunden hat. Ein Anlass für die Annahme einer eigenen Meldeobliegenheit ist nicht ersichtlich.

Die vorangehende Auslegung der §§ 37 b, 140 SGB III hält das Gericht schließlich auch aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Eine gesetzliche Regelung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht verfassungswidrig, solange eine nach den anerkannten Grundsätzen über die Interpretation von Gesetzen zulässige Auslegung möglich ist, die mit dem Grundgesetz (GG) in Einklang steht (BVerfGE 69, 1, 55 m.w.N.). Die §§ 140 Satz 1 i.V.m. 37 b Satz 1 SGB III ordnen eine Minderung des von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erfassten Anspruchs auf Alg (BVerfGE 72, 9; BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 - 1 Bvl 15/83; ganz h.M.) an. Sie fungieren somit als Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. nur SG Aachen, Urteil vom 18.06.2004 - S 8 AL 82/04; SG Frankfurt an der Oder, Beschluss vom 01.04.2004 - S 7 AL 42/04, h.M.) und müssen als solche zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks geeignet und erforderlich sein. Schließlich darf sich der Grundrechtseingriff für den Betroffenen auch nicht übermäßig belastend auswirken, d.h. die Belastung und der mit ihr verfolgte gesetzgeberische Zweck müssen in einem wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, vgl. BVerfGE 72, 66, 77 f.). Eine Minderung des Alg nach den §§ 37 b, 140 SGB III ist in Fällen wie dem vorliegenden zumindest unverhältnismäßig im engeren Sinne (bereits gegen Geeignetheit und Erforderlichkeit SG Frankfurt an der Oder, a.a.O.). Der durch die §§ 37 b, 140 SGB III angestrebte Zweck liegt in einer möglichst frühzeitige Vermittlung der demnächst Arbeitslosen und im Idealfall in der Vermeidung von Arbeitslosigkeit überhaupt, weswegen in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/25 S. 31) von der Minderung als pauschalem Schadensausgleich zugunsten der Versichertengemeinschaft die Rede ist. Ein grobes Mißverhältnis zwischen diesem Zweck und der gesetzlich angeordneten Sanktion liegt nach Auffassung der Kammer aber jedenfalls dann vor, wenn der demnächst Arbeitslose seine Obliegenheit nicht wenigstens grob fahrlässig verkennt und aus seiner Sicht alle erforderlichen Schritte unternimmt, um seine baldige Vermittlung zu fördern. Dies ist dann der Fall, wenn die Meldung als arbeitsuchend bereits vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erfolgt und der Versichertengemeinschaft kein besonderer Schaden entstanden ist.

Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin erst nach dem Ende des Bezugs von Erziehungsgeld arbeitsuchend gemeldet. Hierin allein ist kein solch erheblicher Verstoß gegen die Interessen der Versichertengemeinschaft zu sehen, dass dies eine Minderung von Alg rechtfertigen könnte. Die Klägerin musste bei der Meldung nach Ablauf des Erziehungsgeldbezugs lediglich davon ausgehen, Alg nicht auch für die inzwischen verstrichene Zeit zu erhalten. Zumindest angesichts der zeitlichen Nähe zum Auslaufen des Erziehungsgeldes und dem "Wiedereintritt" der Klägerin in die Arbeitsuche lässt sich auch bei der vom Gesetzgeber vorgegebenen pauschalierenden Betrachtungsweise nicht feststellen, dass die Klägerin ihre Vermittlungschancen in vorwerfbarer Weise wesentlich verschlechtert hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung auf § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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