L 2 U 48/02

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 366/01
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 48/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 26.02.2002 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Nr. I des Tenors des Gerichtsbescheides wie folgt gefasst wird: I. Der Bescheid der Beklagten vom 18.10.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2001 wird geändert. Es wird festgestellt, dass der Kläger seit 29.11.1995 an einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung leidet. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v H. ab 17.04.1996 zu gewähren.
II. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK Nr. 2108 BKV) und, ob dem Kläger eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40. v. H. zu gewähren ist.

Der am ...1941 geborene Kläger absolvierte von September 1956 bis August 1958 eine Lehre als Maurer und war danach bis zum 28.11.1995, insgesamt mehr als dreißig Jahre, als Maurer beschäftigt. Ab dem 29.11.1995 war er wegen eines akuten Wurzelreizsyndroms mit neurologischen Ausfällen im linken Bein arbeitsunfähig erkrankt. Sein Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber mit Schreiben vom 01.12.1995 zum 01.01.1996 wegen Auftragsmangels gekündigt, ab dem 02.01.1996 erhielt er Krankengeld. Ab 17.04.1996 bezog der Kläger eine Rente wegen Berufs- und seit 01.06.1996 bezieht er eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) in Form von Lumbalgien traten beim Kläger erstmals Ende der sechziger Jahre auf, ab 1978 strahlten sie in das linke Bein bis zum Fuß aus. Im November 1995 kam es zu einer erheblichen Verschlechterung der radikulären Symptomatik linksseitig mit Lähmungserscheinungen des gesamten linken Beines, das Fußheben links war unmöglich.

Am 23.01.1996 wurde der Kläger an der LWS operiert, da mittels Computertomogramm (CT) eine Spinalkanalstenose im Bereich L2 bis L4 festgestellt worden war. Ausweislich des Operationsberichtes erfolgte eine Laminektomie (Entfernung eines Wirbelbogens mit Dornfortsatz) von L 2 und 3 über der größten Stenosierung. Die Operateure fanden Knochen, die "außerordentlich kompakt und dick" waren, die interspinalen und gelben Bänder waren erheblich hypertrophiert.

Eine weitere Operation der LWS wurde am 02.07.1996 durchgeführt. Im Operationsbericht wird beschrieben, dass die Fensterung des Bereichs L4/5 und L5/S1 und eine Ausräumung des Bandscheibenvorfalles L4/5 erfolgt sei, wobei die Verhältnisse durch degenerative Veränderungen außerordentlich eng seien. Auch die gelben Bänder seien ganz erheblich verdickt.

Im Mai 1996 beantragte der Kläger die Feststellung einer Berufskrankheit, am 20.05.1996 wurde von der Fachärztin für Orthopädie Dr. L1 ... eine Berufskrankheit ärztlich angezeigt. Die Beklagte leitete daraufhin Ermittlungen sowohl in arbeitstechnischer als auch medizinischer Hinsicht ein.

Nach einer Untersuchung am 16.07.1999 wurde von Prof. Dr. D1 .../Dr. W1 ... am 15.08.1999 ein ärztliches Gutachten erstellt, in dem zunächst ausgeführt wurde, dass, nachdem infolge der Operationen 1996 Instabilitätsbeschwerden und im Oktober 1997 Schmerzen in beiden Beinen mit Lähmungen des linken Beines aufgetreten seien, im Juni 1998 eine Versteifungsoperation der Segmente L2 bis L4 erfolgt sei. Darauf hätten sich die Lähmungserscheinungen etwas gebessert, seien jedoch teilweise bestehen geblieben. Arbeitsfähigkeit sei nicht mehr eingetreten, die Pflegestufe 1 sei zuerkannt worden. Die Gutachter fanden schwere Osteochondrosen der gesamten LWS, im Bereich der HWS geringe und im Bereich der BWS an einem Segment degenerative Veränderungen. Es liege eine Erkrankung der LWS vor, die das typische Bild einer durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten verursachten Erkrankung zeige. Die degenerativen Veränderungen der LWS seien schwer, wobei neurologische Ausfälle und ein weiter bestehendes klinisches Einengungssyndrom des Rückenmarkkanales bestünden. Die MdE werde mit 40 v. H. geschätzt. Das Engesyndrom des Rückenmarkkanales führe zu einer erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit; teilweise sei das Verlassen der Wohnung deshalb nicht mehr möglich.

Am 11.01.2000 wurde von den Dres. E1 ... und M1 ... eine gutachtliche Stellungnahme nach Aktenlage erstellt, in der zunächst beschrieben wird, dass sich bei der kernspintomographischen Untersuchung der LWS am 08.12.1995 eine langstreckige Einengung des Rückenmarkkanales durch Bandscheibenvorwölbungen und rückenseitige Randzackenausziehungen gefunden habe, wobei ein Kompressionseffekt auf den Rückmarkskanal von außen her durch eine Verschleißumformung der Wirbelgelenke ausgeübt worden sei. Vom Vorliegen einer BK Nr. 2108 sei nicht auszugehen, da kein belastungskonformes Schadensbild vorliege. Das unterste freie LWS-Segment zeige die geringsten Veränderungen, obowhl man hier die ausgeprägtesten Veränderungen erwarten könne. Ursächlich für die Erkrankung sei wahrscheinlich die rechtskonvexe Seitausbiegung der LWS, hierfür spreche auch der frühe Beschwerdebeginn 1962. Zudem sei die MdE mit 40 v. H. zu hoch angesetzt, da an neurologischen Ausfallserscheinungen nur eine Fußheberschwäche beschrieben werde.

Mit Bescheid vom 18.10.2000 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Zwar lägen die arbeitstechnischen Voraussetzungen vor, es fehle jedoch an einem für eine BK Nr. 2108 BKV typischen Schadensbild, da das Segment L5/S1 die geringsten Verschleißerscheinungen aufwiese, während diese im oberen Bereich der LWS weitaus stärker ausgeprägt seien. Dieser Befund und der frühe Beschwerdebeginn nach nur sechsjähriger Tätigkeit sprächen für eine endogene Verursachung der Erkrankung.

Nachdem der Kläger hiergegen Widerspruch eingelegt hatte, wurde am 28.02.2001 von Dr. F1 ... ein weiteres Gutachten nach einer Untersuchung des Klägers erstellt. Der Kläger könne etwa 10 Minuten sitzen, der Alleingang an zwei Unterarmstützen sei etwa 500 m möglich. In der Wohnung könne auf einen Stock verzichtet werden, wenn die Möglichkeit des Anhaltens an Gegenständen möglich sei. Der Barfußgang wirke nicht harmonisch (angedeuteter Steppergang links). Das Bein werde beim Gehen mit einer Unterarmstütze nach außen zirkumdiziert und leicht stampfend aufgesetzt. Insgesamt bestehe eine Geh- und Stehunsicherheit. Das Röntgenbild der LWS zeige eine angedeuetete rechtskonvexe Seitausbiegung mit Scheitel bei L3 und spondylotischen Ausziehungen am Segment L3/4, der Bandscheibenraum L2/3 sei deutlich verschmälert. Die beiden untersten Bandscheibenräume seien vor allem dorsal verschmälert, die Grund- und Deckplatten sklerosiert. Der Befund der Myelographie vom 01.07.1996 belege eine Bandscheibendegeneration vor allem der Segmente L2 bis L5. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung bestehe ohne Zweifel. Es liege eine polysegmentale lumbale Spinalkanalstenose auf Grund erheblicher Bandscheibenverschleißzeichen vor, vor allem der oberen und mittleren LWS. Alle LWS-Segmente zeigten teilweise deutliche Verschleißumformungen, wobei die Proximalisierung der Spondylose in den oberen Wirbelsäulensegmenten überwiege und L3 abwärts vorwiegend eine Verschmälerung der Zwischenwirbelräume gegeben sei. Nur der lumbosakrale Übergang zeige geringere Verschleißzeichen. Die belastungsadaptiven Veränderungen seien als Positivkriterium für eine BK Nr. 2108 BKV zu werten. Gerade die Proximalisierung der Spondylose mit dem Sprungsegment L3/4 und die darunterliegende Osteochondrose seien typische Veränderungen, hervorgerufen bei körperlicher Arbeit in extremer Rumpfbeuge. Wesentliche anlagebedingte Schäden der Wirbelsäule als konkurrierende Ursachen kämen nicht in Betracht. Die MdE werde wie im Vorgutachten mit 40 v. H. eingeschätzt. Der Kläger habe deutliche neurologische Ausfälle im linken Bein als Folge der Bandscheibenerkrankung der LWS. Hinzu komme das weiterhin bestehende Engpass-Syndrom des Rückenmarkkanales mit der lumbalen Segmentversteifung, das zu einer erheblichen allgemeinen Belastungseinschränkung, insbesondere hinsichtlich der Gehfähigkeit, geführt habe. Die Selbstversorgung sei zum Teil eingeschränkt. Der Kläger sei auf Hilfsmittel und Pflege angewiesen.

Am 09.08.2001 erstellte Dr. P1 ... für die Beklagte ein neurologisches Gutachten, in dem ausgeführt wird, dass sich sowohl klinisch als auch neurophysiologisch radikuläre Ausfallerscheinungen als Folge der LWS-Erkrankung im Bereich des linken Beines fänden. Es fänden sich auch klar zu messende neurologische Defizite. Die MdE werde ebenfalls mit 40 v. H. geschätzt.

Nachdem Dr. O1 ... in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 12.09.2001 zu den eingeholten Gutachten die Auffassung vertreten hatte, dass eine BK Nr. 2108 BKV nicht vorliege, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2001 der Widerspruch zurückgewiesen.

Auf die hiergegen am 01.11.2001 vor dem Sozialgericht Dresden (SG) erhobene Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 26.02.2002 die Beklagte wegen der Folgen einer BK Nr. 2108 BKV zur Gewährung einer Verletztenteilrente nach einer MdE von 40 v. H. ab dem 29.11.1995 verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass sich aus den Gutachten von Prof. Dr. D1 ..., Dr. F1 ... und Dr. P1 ... zur vollen Überzeugung des Gerichtes ergebe, dass eine rechtlich wesentliche Kausalbeziehung zwischen den beruflichen Belastungen, denen der Kläger während seines Erwerbslebens ausgesetzt gewesen sei und der bandscheibenbedingten Erkrankung seiner LWS bestehe. Der Beginn der Rente habe wegen der Vorschrift des § 580 Abs. 3 Nr. 2 RVO mit dem 29.11.1995 festgestellt werden müssen.

Die Beklagte hat gegen den ihr am 28.03.2002 zugestellten Gerichtsbescheid am 29.04.2002, einem Montag, Berufung eingelegt und zur Begründung insbesondere ein Gutachten nach Aktenlage vom 20.02.2002 von Dr. T1 .../Dr. S1 ... vorgelegt, in dem zum einen ausgeführt wird, dass kein belastungskonformes Schadensbild vorliege und zum anderen, dass die MdE lediglich mit 30 v. H. zu beziffern sei. Des Weiteren hat sie ausgeführt, dass der Gerichtsbescheid des SG hinsichtlich der Einschätzung der MdE nicht den Anforderungen entspreche, die das BSG an die Bemessung einer MdE stelle. Die Höhe der MdE sei individuell zu schätzen, hierbei habe man sich einerseits nach der Schwere des noch vorhandenen akuten Krankheitszustandes und andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens zu richten. Eine Bezugnahme auf tabellarische oder MdE-Erfahrungswerte sei nicht möglich.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 26.02.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat sich im Wesentlichen auf die Gründe der Entscheidung des SG bezogen und im Termin zur mündlichen Verhandlung ergänzend erklärt, dass sein Gesundheitszustand unverändert schlecht sei und er nach wie vor kaum in der Lage sei, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Er benötige zwei Unterarmstützen, um sich fortzubewegen; kürzere Strecken könne er auch mit einer Unterarmstütze zurücklegen. Die Gewährung einer Verletztenrente begehre er erst für die Zeit ab dem 17.04.1996, dem Beginn der Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des SG ist jedenfalls in dem Umfang, in dem der Kläger nunmehr noch Leistungen begehrt hat, rechtmäßig; insoweit waren der Bescheid der Beklagten vom 18.10.2000 und der Widerspruchsbescheid vom 24.10.2001 zu ändern.

Soweit der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung erklärt hat, er begehrte die Gewährung einer Verletztenrente erst für die Zeit ab 17.04.1996, liegt hierin eine teilweise Klagerücknahme, die gemäß § 102 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bis zur Rechtskraft des Urteils möglich ist. Über die Gewährung einer Verletztenrente für vor dem 17.04.1996 liegende Zeiträume war daher nicht (mehr) zu entscheiden (§ 102 S. 2 SGG).

Auf das Verfahren ist das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, da der Versicherungsfall nur nach dem 31.12.1991 und vor dem 01.01.1997 eingetreten sein kann. Die Vorschriften der RVO, insbesondere die Vorschriften über Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§§ 547 ff. RVO) wurden durch das Renten-Überleitungsgesetz vom 25.07.1991 (Bundesgesetzblatt I, S. 1606) im so genannten Beitrittsgebiet mit Wirkung vom 01.01.1992 in Kraft gesetzt und sind auch nach Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 grundsätzlich weiterhin anzuwenden, wenn der Versicherungsfall vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist (§ 212 SGB VII).

§ 547 RVO bestimmt, dass der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalles nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere Verletztenrente gewährt. Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKV mit den so genannten Listenkrankheiten vor.

Eingetreten ist der Versicherungsfall Berufskrankheit zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Gefährdungen realisiert haben, vor denen die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll, also zum Zeitpunkt des Eintritts jedes Gesundheitsschadens, der die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale einer Berufskrankheit erfüllt (Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung/BKV, Kommentar, Stand: August 2002, E § 9 SGB VII Randnr. 42 S. 97 ff. m. w. N.). Diese sind gegeben, wenn die schädigende Einwirkung einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand verursacht hat, der die Krankheitsmerkmale eines Berufskrankheitentatbestandes erfüllt und wenn gegebenenfalls erforderliche besondere Merkmale, insbesondere die Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten, vorliegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand: Mai 2002, § 9 SGB VII Rdnr. 7).

Das Merkmal des Unterlassens aller gefährdenden Tätigkeiten setzt in der Regel voraus, dass die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden soll, und dass der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich objektiv aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass das Merkmal der Aufgabe der belastenden Tätigkeit erst dann erfüllt ist, wenn alle belastenden Tätigkeiten in vollem Umfange aufgegeben worden sind (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 22.08.2000, B 2 U 34/99 R). Das Merkmal der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung hat nämlich den Zweck, ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge einer erhöhten Entschädigungsleistung zu verhüten. Um diesem Präventionszweck zu genügen, muss jede mögliche Gefährdung vermieden werden. Der Kläger hat die schädigende Tätigkeit letztmalig am 28.11.1995 ausgeführt,so dass das Merkmal des Unterlassungszwanges ab dem 29.11.1995 erfüllt war, weil ihm wegen seiner Wirbelsäulenbeschwerden ab diesem Zeitpunkt Tätigkeiten im Sinne der BK Nr. 2108 BKV nicht mehr zumutbar und auch physisch nicht mehr möglich waren.

Der Kläger leidet an einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können -.

Er war langjährig (über dreißig Jahre) als Maurer beschäftigt und hat somit langjährig schwere Lasten gehoben und getragen. Dass die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen vorliegen, hat auch die Beklagte bereits in ihrem Bescheid vom 18.10.2001 bejaht.

Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS lag beim Kläger jedenfalls ab November 1995 vor. Auch das weitere Tatbestandsmerkmal des so genannten Unterlassungszwanges ist erfüllt, da der Kläger gehalten war, die schädigende Tätigkeit aufzugeben und dies auch tatsächlich getan hat (s. o.).

Die berufliche Tätigkeit hat die bandscheibenbedingte Erkrankung auch rechtlich wesentlich verursacht.

Hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers und seinen Wirbelsäulenbeschwerden ist keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich; bloße Wahrscheinlichkeit ist ausreichend. Das bedeutet, dass beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (z.B. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand: Mai 2002, § 8 Rdnr. 10.1 m. w. N.).

Sofern ein Kausalzusammenhang unter Anwendung dieser Grundsätze zu bejahen ist, ist weiter zu beachten, dass eine Berufskrankheit nur dann infolge einer versicherten Tätigkeit eingetreten und als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen sein kann, wenn die beruflichen Belastungen auch in rechtlich wesentlicher Weise bei der Krankheitsentstehung mitgewirkt haben. Die Wertung als rechtlich wesentliche Ursache erfordert nicht, dass der berufliche Faktor die alleinige oder überwiegende Bedingung ist. Haben mehrere Ursachen (in medizinisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht) gemeinsam zum Entstehen der Erkrankung beigetragen, sind sie nebeneinander (Mit-)Ursachen im Rechtsinne, wenn beide in ihrer Bedeutung und Tragweite beim Eintritt des Erfolges wesentlich mitgewirkt haben. Der Begriff "wesentlich" ist hierbei nicht identisch mit den Beschreibungen überwiegend, gleichwertig oder annähernd gleichwertig. Auch eine verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung kann für den Erfolg wesentlich sein. Ein mitwirkender Faktor ist nur dann rechtlich unwesentlich, wenn er von einer anderen Ursache ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Deshalb ist es auch zulässig, eine rein naturwissenschaftlich betrachtet nicht gleichwertige Ursache rechtlich als wesentlich anzusehen, weil gerade und nur durch ihr Hinzutreten zu der anderen wesentlichen Ursache der Erfolg eintreten konnte: Letztere Ursache hat dann im Verhältnis zur ersteren keine überragende Bedeutung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., § 8 SGB VII Rdnr. 8.2.3).

Hiernach ist entscheidend, ob die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS auch ohne die berufliche Tätigkeit zu ungefähr demselben Zeitpunkt in ungefähr dem gleichen Ausmaß aufgetreten wäre. Die berufliche Exposition war nur dann keine rechtlich wesentliche Ursache für die Entstehung des Krankheitsbildes, wenn nicht ausreichend wahrscheinlich ist, dass sie ursächlich für die Erkrankung geworden ist und wenn andere, insbesondere anlagebedingte Faktoren für die Entstehung der Erkrankung von so überragender Bedeutung waren, dass die berufliche Belastung daneben praktisch nicht ins Gewicht fiel. Davon konnte sich der Senat jedoch nicht überzeugen.

Nicht ersichtlich ist insbesondere, aufgrund welcher konkurrierender Erkrankungen bzw. anlagebedingter Faktoren die Erkrankung rechtlich wesentlich allein verursacht worden sein könnte. Prof. Dr. D1 .../Dr. W1 ... haben im Gutachten vom 15.08.1999 insoweit ausgeführt, dass ein sog. Morbus Scheuermann, der grundsätzlich eine konkurrierende Erkrankung in diesem Sinne sein kann, nicht nachgewiesen werden könne. Das Ausmaß von Veränderungen im Sinne einer Coxarthrose sei so geringfügig, dass diese Veränderungen ebenfalls keine wesentliche konkurrierende Ursache darstellten. Das beim Kläger bestehende Engesyndrom im Bereich des Rückenmarkkanales ist von den Gutachtern ebenfalls nicht als konkurrierende Erkrankung angesehen werden. Auch Dr. F1 ... hat im Gutachten vom 28.02.2001 die Spinalkanalstenose nicht als berufskrankheitenunabhängig bezeichnet, sondern - insoweit deutlicher als die Vorgutachter - ausgeführt, diese sei "auf Grund erheblicher Bandscheibenverschleißzeichen" entstanden und darüber hinaus dies bestätigend ausgeführt, dass wesentliche anlagebedingte Schäden der Wirbelsäule als konkurrierende Ursachen nicht in Betracht kämen.

Soweit die Dres. E1 ... und M1 ... in ihrer gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 11.01.2001 ausgeführt haben, dass zum einen die rechtskonvexe Seitausbiegung der LWS als ursächlich für die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS angesehen werden müsse und zum anderen die Veränderungen im LWS-Bereich nicht durch Bandscheiben, sondern durch Verdickungen der Bänder, die zu einer Spinalkanalstenose geführt hätten, verursacht worden seien und dass deshalb das Vorliegen einer BK zu verneinen sei, überzeugt dies den Senat nicht. Die rechtskonvexe Seitausbiegung der LWS ist von Dr. F1 ... als nur leicht bezeichnet worden; Prof. Dr. D1 ... fand keine Seitabweichung der Wirbelsäule. Dass eine Seitabweichung der Wirbelsäule im LWS-Bereich vorgelegen hat, die die Erkrankung verursacht haben könnte, steht deshalb jedenfalls nicht zur vollen Überzeugung des Senates fest. Hinsichtlich der beim Kläger vorliegenden Spinalkanalstenose ist jedenfalls Dr. F1 ... - und wohl auch Prof. Dr. D1 ... - davon ausgegangen, dass diese Folge der (aufgrund beruflicher Einflüsse entstandenen) Bandscheibenveränderungen war. Der Senat hält es insoweit zwar für möglich, dass auch anlagebedingte Faktoren bei der Entstehung der Rückenmarkskanalstenose mit eine Rolle spielten. Er konnte sich jedoch angesichts der Ausführungen der Gutachter Dr. F1 ... und Prof. Dr. D1 ... nicht davon überzeugen, dass die berufliche Tätigkeit des Klägers die bei ihm vorliegende Spinalkanalstenose in rechtlich wesentlicher Weise nicht wenigstens mitverursacht hat.

Soweit Dres. E1 ... und M1 ... darauf hingewiesen haben, dass sich die ausgeprägtestens Veränderungen nicht im untersten Bereich der LWS fänden, wo sie am ehestens zu erwarten seien, ist zum einen zu berücksichtigen, dass weder Dr. F1 ... noch Prof. Dr. D1 ... hierin ein gewichtiges Argument gegen die berufliche Verursachung der Erkrankung gesehen haben. Zudem war möglicherweise infolge der leichten Skoliose bzw. des Baastrup-Phänomens im Bereich L2/L3 hier eine "Schwachstelle" vorhanden, an der sich die beruflichen Belastungen früher bzw. ausgeprägter in Form von degenerativen Veränderungen manifestierten.

Auch ein früher Beschwerdebeginn kann nicht als Begründung für eine endogene Verursachung der LWS-Erkankung herangezogen werden. Der Kläger hat 1956 im Alter von 14 Jahren eine Maurerlehre begonnen, erste WS-Beschwerden, aufgrund derer der Kläger auch arbeitsunfähig erkrankt war, traten im Jahr 1969 auf. Insgesamt war der Kläger von 1969 bis 1978 lediglich ca. acht Mal wegen Wirbelsäulenbeschwerden arbeitsunfähig erkrankt. Auch wenn ab 1978 immer wieder radikuläre Beschwerden auftraten, war der Kläger immerhin bis Ende 1995 in der Lage, als Maurer tätig zu sein. Hieraus kann nur geschlossen werden, dass eine endogene Veranlagung zur Ausprägung von bandscheibenbedingten Erkrankungen jedenfalls nicht so ausgeprägt war, dass sie als alleinige Ursache für die Entstehung der Erkrankung in Betracht kommt.

Da zudem sowohl Prof. Dr. D1 ... als auch Dr. F1 ... die Veränderungen an der LWS des Klägers als typisch für eine durch schweres Heben und Tragen entstandene Erkrankung bezeichnet haben, ist im Ergebnis davon auszugehen, dass die berufliche Belastung zwar möglicherweise nicht die alleinige Ursache für die Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS war. Jedoch ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die vom Kläger langjährig ausgeübte und belastende berufliche Tätigkeit rechtlich wesentlich im oben dargelegten Sinne die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS verursacht hat.

Die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS war somit für die Zeit ab 29.11.1995 als Berufskrankheit anzuerkennen.

Die Beklagte hat dem Kläger wegen der Folgen der Berufskrankheit in Anwendung des § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO eine Verletztenrente nach einer MdE von 40 v. H. ab 17.04.1996 zu gewähren.

Gemäß § 580 Abs. 1 RVO erhält der Geschädigte eine Rente, wenn die zu entschädigende Minderung der Erwerbsfähigkeit über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert. § 580 Abs. 3 Nr. 2 RVO regelt weiter, dass die Rente dann, wenn mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist, mit dem Tag beginnt, an dem zu übersehen ist, dass der Verletzte insbesondere wegen der Art oder Schwere der Verletzung auch durch weitere Maßnahmen der Heilbehandlung oder Berufshilfe beruflich nicht eingegliedert werden kann, jedoch nicht vor dem Ende der stationären Behandlung. Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO setzt die Gewährung einer Verletztenteilrente voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit ist als die Fähigkeit des Versicherten zu umschreiben, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich hier nach seinen Kenntnissen, körperlichen und geistigen Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens (so genannter allgemeiner Arbeitsmarkt) bieten, einen Erwerb zu verschaffen (Bereiter/Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Loseblatt, § 56 SGB VII Rdnr. 10 - entsprechend der seit der Einführung des SGB VII geltenden gesetzlichen Definition im § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist die Herabsetzung dieser so definierten Erwerbsfähigkeit. Sie drückt aus, in welchem Umfang der Versicherte durch die vom Versicherungsfall verursachten Funktionsbeeinträchtigungen die Fähigkeit verloren hat, sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld einen Erwerb zu verschaffen.

Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 22 und 23 m.w.N.; Brackmann/Burchardt, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 12. Aufl. § 56 Rdnr. 67 f).

Der Senat hat keine Bedenken, hinsichtlich der Höhe der MdE der Einschätzung von Prof. Dr. D1 ... und Dr. F1 ... zu folgen. Diese Gutachter haben den Kläger persönlich untersucht und ihre Einschätzung überzeugend begründet. Insbesondere wegen der erheblichen neurologischen Ausfälle bzw. der Lähmungserscheinungen im linken Bein des Klägers mit erheblicher Gehbehinderung und einer ausgeprägten Beweglichkeitseinschränkung der LWS hält auch der Senat eine MdE in einer Höhe von 40 v. H. für angemessen. Da spätestens mit dem Zeitpunkt der Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit zu übersehen war, dass der Kläger nicht mehr beruflich eingegliedert werden konnte, war die Beklagte wie vom Kläger beantragt zur Gewährung der Verletztenrente ab dem 17.04.1996 zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Soweit im Termin zur mündlichen Verhandlung am 01.04.2004 eine Kostenentscheidung dahin verkündet worden ist, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien, beruhte dies auf einem Versehen. Ziff. II des Urteilstenors war deshalb gem. § 138 Satz 1 SGG wegen offenbarer Unrichtigkeit zu berichtigen (vgl. Hennig, Sozialgerichtsgesetz, Stand Februar 2004, § 138 Rdnr. 30 f.).

Gründe für eine Zulassung der Revsion liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG). -
Rechtskraft
Aus
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