L 2 KN 160/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 24 KN 2/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 160/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.08.2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Halbwaisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus.

Der im Oktober 1981 geborene Kläger ist der jüngste Sohn des am 00.00.1937 geborenen und am 00.00.1991 in Marokko verstorbenen N X (im Folgenden: Versicherter). Der Versicherte war in Deutschland von 1964 bis 1971 im Steinkohlenbergbau und danach außerhalb des Bergbaus beschäftigt. 1986 kehrte er nach Marokko zurück. Der Kläger besuchte vom 16.09.1988 bis 16.09.1991 eine Schule. Er hat keinen Beruf erlernt.

Die Beklagte gewährte der Witwe große Witwenrente ab dem 01.11.1996 (Bescheid vom 14.05.1998) und dem Kläger Halbwaisenrente ab 01.11.1996, befristet bis zum 31.10.1999 (Bescheid vom 14.05.1998). Bereits im September 1998 beantragte der Kläger, ihm Halbwaisenrente auch über den 31.10.1999 hinaus zu zahlen, da er arm und krank sei.

Die Beklagte stellte die gewährten Renten endgültig fest (Bescheide vom 18.11.1998) und wies die gegen die Rentenhöhe gerichteten Widersprüche zurück (Widerspruchsbescheide vom 23.02.1999). Dagegen erhoben der Kläger und die Witwe erfolglos Klage zum Sozialgericht Dortmund (SG), (Aktenzeichen (Az) S 24 KN 105/99, Urteil vom 17.10.2000).

Zum Antrag, Halbwaisenrente über den 31.10.1999 hinaus zu zahlen, holte die Beklagte ein Gutachten von Dr. N aus O/Marokko ein. Dieser fand keine Normabweichungen. Lediglich die Anamnese weise auf intermittierende epileptische Anfälle hin (Gutachten vom 25.12.1998). Beratende Ärztin X meinte, es fehle ein krankhafter Befund und deshalb Gebrechlichkeit (13.05.1999). Die Beklagte lehnte es ab, Halbwaisenrente über den 31.10.1999 hinaus zu gewähren (Bescheid vom 27.05.1999). Mit seinem Widerspruch vom 23.07.1999 trug der Kläger vor, er sei arm und krank. Er könne und dürfe nicht arbeiten. Die Beklagte entschied erneut, Halbwaisenrente über den 31.10.1999 hinaus nicht zu zahlen (Bescheid vom 10.09.1999). Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27.05.1999 verwarf sie als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 20.09.1999). Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.09.1999, gestützt auf die Bescheinigung von Dr. N1 aus E/Marokko (09.08.1999), wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 08.05.2000).

Zur Begründung seiner Klage zum SG auf Weitergewährung der Halbwaisenrente hat der Kläger vorgetragen, er sei weiter krank und dürfe nicht arbeiten. Er sei gehbehindert, habe Kinderlähmung, sei ein Krüppel. Er liege zu Hause und könne nicht gehen, weil er manchmal umfalle. Er verweise auf die Bescheinigungen des Dr. N1 (09.08.1999 und 09.02.2001).

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten. Die ärztlichen Bescheinigungen enthielten keine neuen Gesichtspunkte.

Das SG hat Beweis durch den Sachverständigen Dr. T aus T/Marokko erhoben (24.12.2001). Er hat ausgeführt, es bestehe kein krankhafter Befund. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.08.2002).

Dagegen hat der Kläger Berufungsschreiben sowohl an das Landessozialgericht (LSG) als auch an das SG gesandt. Das LSG hat das Schreiben als Berufung gegen das Urteil vom 17.10.2000 angesehen (Az L 18 KN 117/02). Diese Berufung hat der Kläger nach Hinweis zurückgenommen. Das SG hat die Berufung an das LSG weitergeleitet.

Der Kläger hat vorgetragen, es sei weiter Waisenrente zu zahlen. Er sei arm und krank.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich zur Begründung auf eine Stellungnahme der Nervenärztin Raczenski (Stellungnahme vom 11.12.2003).

Der Senat hat Beweis durch den Sachverständigen Neurologe Dr. N2 aus S/Marokko erhoben. Er hat angeführt, nach der Anamnese bestehe wahrscheinlich eine primäre generalisierte Epilepsie sowie eine psycho-kognitive Unreife im Zusammenhang mit dem fehlenden Schulbesuch und der übermäßigen mütterlichen Fürsorge. Trotz fehlender motorischer oder sensorischer Behinderungen seien die Fähigkeiten, mit einer beruflichen Tätigkeit vollständig für den Unterhalt aufzukommen, vermindert (Gutachten vom 03.09.2003). Der sodann als Sachverständiger befragte Dr. W, Chefarzt des Instituts für Neurologie und Psychiatrie der Kliniken St. B in W, hat gemeint, ein epileptisches Anfallsleiden sei nicht sicher festzustellen, jedoch nach Lage der Akten zumindest wahrscheinlich. Massiv ausgeprägte Gesundheitsstörungen seien nicht anzunehmen (Gutachten vom 02.04.2004). Der Senat hat daraufhin eine einwöchige Untersuchung in Deutschland durch den Sachverständigen Prof. Dr. F, Chefarzt der Klinik für Epileptologie der Universität C, veranlasst. Der Sachverständige ist zum Ergebnis gelangt, der Kläger leide an nicht-epileptischen Anfällen (z.B. in Form psychogener Anfälle) und einer allenfalls mittelgradigen kognitiven Leistungseinschränkung. Trotz seiner Behinderung könne er seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen (Gutachten vom 18.10.2004).

Wegen der Einzelheiten verweist der Senat auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten des SG (Az S 24 KN 105/99). Sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann verhandeln und entscheiden, obwohl für den Kläger niemand zum Termin erschienen ist. Auf die Möglichkeit ist in der ordnungsgemäßen Terminsmitteilung hingewiesen worden.

Der Kläger begehrt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23.08.2002 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 10.09.1999 und 08.05.2000 zu verurteilen, ihm ab 01.11.1999 Halbwaisenrente zu zahlen.

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger nur die Berufung im Verfahren L 18 KN 117/02, nicht aber im vorliegenden Verfahren zurückgenommen. Begründet ist die Berufung jedoch nicht. Angegriffen sind nur die Bescheide vom 10.09.1999 und 08.05.2000. Diese haben in der Sache die vorangegangene Entscheidung (Bescheide vom 27.05. und 20.09.1999) ersetzt (§§ 86, 96 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die angegriffene Entscheidung beschwert den Kläger nicht, § 54 Abs 2 Satz 1 SGG. Sie ist nicht rechtswidrig, weil ein Anspruch auf Gewährung von Halbwaisenrente über den 31.10.1999 hinaus nicht besteht. Die Voraussetzungen des Anspruchs sind nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme nicht erfüllt. Der Kläger ist nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten.

Da die Voraussetzungen von § 48 Abs. 4 Nr. 2 a) - c) Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) erkennbar nicht gegeben sind, kommt als Anspruchsgrundlage nur § 48 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 d) SGB VI in Betracht. Danach besteht der Anspruch auf Halb- oder Vollwaisenrente bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn die Waise wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Begriff des Außerstandeseins, sich selbst zu unterhalten, entsprechend den von der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zu § 1602 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auszulegen (vgl BSG SozR 2200 § 1268 RVO Nr 20; zustimmend Kassler Kommentar-Gürtner, § 48 SGB VI Rdnr 46; abweichend zu § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG BSG SozR 5870 § 2 Nr 35). Danach muss ein volljähriges Kind für seinen Lebensbedarf grundsätzlich selbst aufkommen (BGHZ 93, 123ff, 127 = NJW 1985, 806ff). Es hat zunächst seine Arbeitskraft zu verwerten, bevor es einen Verwandten auf Unterhalt in Anspruch nimmt. Insoweit besteht eine Erwerbsobliegenheit. Beachtet es diese nicht, ist auf fiktive Einkünfte abzustellen (vgl zur Einkommensfiktion zB BGHZ 75, 272; BGH NJW 1981, 1609; zur verfassungsrechtlicher Zulässigkeit BVerfG NJW 1985, 1211). Eine Ausnahme greift hierzu ua, wenn das Kind wegen einer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Daran fehlt es.

Eine Behinderung, die die Erwerbsfähigkeit mindert, ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme das nicht-epileptische Anfallsleiden. Ob die allenfalls mittelgradige kognitive Leistungseinschränkung eine geistige Behinderung oder eine auf einem Ausbildungsdefizit beruhende Normvariante ist (vgl zum den Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt limitierenden Analphabetismus: BSG SozR 4 - 2600 § 44 Nr 1; BSG SozR 3 -2200 § 1246 Nr 62), bedarf keiner Entscheidung. Selbst wenn es sich um eine berücksichtigungsfähige Behinderung handelt, hindern sie und das Anfallsleiden den Kläger nicht, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein. Das ergibt sich aus den klaren und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. Danach ist der Kläger trotz seiner Behinderungen in der Lage, einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig zu verrichten. Den Auswirkungen des Anfallsleidens (rezidivierende Bewusstseinsverluste) ist dadurch Rechnung zu tragen, dass er keine Tätigkeiten auf Leitern oder Treppen, in Stresssituationen oder an laufend zu überwachen Maschinen verrichten darf; außerdem darf er nicht mit Säuren, Strom oder anderen gefährlichen Materialien in Berührung kommen. Die allenfalls mittelgradige kognitive Leistungseinschränkung hindert ihn nicht, einfache Lohnarbeiten mit einfacher Anforderung an die geistige Leistungsfähigkeit ohne Notwendigkeit der Kulturtechniken Rechnen, Schreiben und Lesen zu verrichten. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, die noch möglichen Tätigkeiten zB eines ungelernten (Land-)Arbeiters seien nicht mehr vollschichtig zu verrichten. Die Beurteilung von Prof. Dr. F überzeugt, da sie auf einer einwöchigen, eingehenden stationären Untersuchung beruht, nachvollziehbar, lebensnah und in sich widerspruchsfrei ist. Sie steht in Einklang mit derjenigen der Sachverständigen Dr. T und Dr. W sowie - urkundsbeweislich verwertbar - von Dr. N. Dass Dr. N2 von einer weitergehenden Einschränkung ausgeht, lässt sich seinem Gutachten nicht entnehmen.

Nichts anderes gilt, wenn man entsprechend der Rechtsprechung des BSG zum Kindergeld (BSG SozR 5870 § 2 Nr 35) den Begriff des Außerstandeseins "sich selbst zu unterhalten" im Einklang mit dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 44 Abs 2 SGB VI (in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF)) auslegt. § 44 SGB VI aF ist insoweit anzuwenden, auch wenn die Norm mit Ablauf des 31.12.2000 aufgehoben worden ist. Nach § 300 Abs 2 SGB VI sind aufgehobene Vorschriften und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. So aber liegt es hier. Nach § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI aF sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erziehen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße (ab 01. April 1999 monatlich 630 Deutsche Mark; Gesetz vom 24. März 1999, BGBl I 388) übersteigt. Nach § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 3 SGB VI aF, neugefasst mit Wirkung ab 08. Mai 1996 durch das 2. SGB VI-ÄndG vom 02. Mai 1996 (BGBl, S 659), ist nicht erwerbsunfähig, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Der Kläger kann, wie dargelegt, etwa vollschichtig die Tätigkeit eines ungelernten Landarbeiters verrichten. Er ist zu körperlich schweren Arbeiten mit geringfügigen Einschränkungen zur Vermeidung einer Gefährdung (vgl oben) fähig, die einfache geistige Anforderungen stellen.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht unter Beachtung der ab 1. Januar 2001 geltenden Neuregelung mit der Umstellung auf die neuen Renten wegen teilweiser (§ 43 Abs 1 SGB VI nF) oder voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs 2 SGB VI nF) durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, S 1827), weil die entsprechenden Voraussetzungen dieser Renten noch enger als die der Erwerbsunfähigkeit nach altem Recht gefasst sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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