S 10 P 89/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 89/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 42/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 6/03 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 1. Dezember 2000 laufend Leistungen nach der Pflegestufe I in Höhe von 400,00 DM monatlich zu zahlen. Die Nachzahlung ist ab der jeweiligen Fälligkeit mit 4 % zu verzinsen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zur Hälfte.

Tatbestand:

Der am 1928 geborene Kläger begehrt Leistungen nach der Pflegestufe I gemäß §§ 14, 15 und 37 des Sozialgesetzbuches - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) in Verbindung mit dem "MB/PPV 1996" der Beklagten in ihrer Eigenschaft als privater Pflegeversicherer.

Ausweislich der beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des Amtes für Versorgung und Familienförderung Augsburg sind bei dem Kläger mit zuletzt maßgeblichem Bescheid vom 10.02.1994 folgende Funktionsstörungen im Sinne von §§ 3, 4 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) anerkannt:

1. Hüftgelenksendoprothesenimplantation beidseits, Funktionsbehinderung des linken Hüftgelenks nach Prothesenwechsel und anschließender Infektion, Krampfadern bds. (Einzel-GdB 80).
2. Chronische Emphysembronchitis mit Asthma bronchiale, Rechtsherzbelastung (Einzel-GdB 50).
3. Sehminderung bds., Linsenlosigkeit beider Augen (Einzel-GdB 40).
4. Schmerzsyndrome der Lendenwirbelsäule, Cortison- osteoporose (Einzel-GdB 30).
5. Chronische Nebenhöhlenentzündung (Einzel-GdB 10).
6. Teilverlust des Dünndarms (Einzel-GdB 10).

Der Grad der Behinderung (GdB) ist wie bisher mit 100 bewertet worden. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B", "G" und "aG" sind zuerkannt worden.

Der Kläger hat mit Schreiben vom 30.11.1999 Pflegegeldleistungen von seinem privaten Pflegeversicherer beantragt. Gestützt vor allem auf das Obergutachten von Herrn Dr. med. F. vom 08.04.2000 ist das Begehren abgelehnt worden: Die notwendigen Hilfen im Bereich der Körperpflege würden 15 Minuten täglich umfassen; im Bereich der Ernährung sei der Kläger noch selbstständig; an Mobilitätshilfen würden durchschnittlich täglich 16 Minuten benötigt (2 x pro Woche sei eine Begleitung zur Massage bzw. zur Krankengymnastik erforderlich). Dies sei noch nicht anspruchsbegründend, da der Gesamt-Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege lediglich 31 Minuten im Tagesdurchschnitt umfasse.

Die hiergegen gerichtete Klageschrift vom 04.09.2000 ging am 05.09.2000 im Sozialgericht Augsburg ein. Parallel hierzu ist ein Neufeststellungsantrag bei der Beklagten eingereicht worden. Das Verschlimmerungs-Gutachten von m. (Dr. med. Sch.) vom 07.11.2000 wies einen anrechenbaren Zeitbedarf für die Grundpflege von nur noch 28 Minuten kalendertäglich aus.

Mit Klagebegründung vom 04.09.2000 hoben die Bevollmächtigten des Klägers dagegen hervor, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers zwischenzeitlich verschlechtert habe. So sei es bei dem Kläger am 03.07.2000 auf der Toilette des Volksfestes in M. zu einer Verletzung gekommen. Dies verdeutliche, dass er auch eine Pflegehilfe zum Aufsuchen der entsprechenden Örtlichkeiten benötige. Im Übrigen komme der Kläger selbst im Rahmen seiner von ihm gefertigten Aufstellung auf einen Pflegebedarf von durchschnittlich etwa 325 Minuten und somit auf mehr als 5 Stunden pro Tag.

Vonseiten des Gerichts wurden die Unterlagen der Beklagten, die Schwerbehinderten-Akten des Amtes für Versorgung und Familienförderung Augsburg sowie die Röntgenaufnahmen der H.-Klinken und die medizinischen Unterlagen der behandelnden Ärzte Dres. med. K. und Kollegen beigezogen. - Mit Beweisanordnung vom 17.01.2001 bestellte das Sozialgericht Augsburg Herrn R. gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum pflegekundigen Sachverständigen. Dieser führte mit Gutachten vom 02.03.2001 zusammenfassend aus, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nunmehr 51 Minuten täglich umfasse. Dabei sei zu berücksichtigen, dass es dem Kläger nach eigenen Angaben seit Weihnachten des Jahres 2000 schlechter gehe.

Dem Vergleichsvorschlag des Sozialgerichts Augsburg vom 07.03.2001 trat die Beklagte mit Nachricht vom 28.03.2001 entgegen. Vor allem sei im Bereich der oberen Extremitäten eine ganz erhebliche Schwäche bzw. Reduzierung der Feinmotorik noch nicht festgestellt worden. Deswegen könnte eine Notwendigkeit für eine Reihe von Hilfemaßnahmen im Bereich der Hygiene (vor allem: Zahnhygiene) sowie für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung noch nicht anerkannt werden. - Besonders verwahre sich die Beklagte dagegen, dass die im September 2000 erhobene Klage gleichsam als "Dauer-Antragstellung" gewertet werde; sollte sich der gesundheitliche Zustand des Klägers zu Weihnachten 2000 tatsächlich verschlechtert haben, hätte es dem Kläger freigestanden, einen erneuten Antrag auf Leistungen aus der privaten Pflegepflichtversicherung zu stellen.

Im Folgenden hielten die Beteiligten mit wechselseitigen Schriftsätzen an ihren jeweiligen Auffassungen fest.

In der mündlichen Verhandlung vom 25.06.2001 stellt der Bevollmächtigte des Klägers den Antrag,

die Beklagte zu verurteilen, beginnend ab 01.12.1999, monatlich laufend 400,00 DM zuzüglich 4 % Zinsen hieraus ab der jeweiligen Fälligkeit an den Kläger zu zahlen.

Für die Beklagte ist wie vorab mitgeteilt niemand erschienen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten und den der beigezogenen Unterlagen Bezug genommen, vor allem auf die darin enthaltenen ärztlichen und pflegekundigen Stellugnahmen.

Entscheidungsgründe:

Die zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Augsburg formgerecht erhobene Klage ist gemäß §§ 51 ff. des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig.

Die Klage erweist sich jedoch nur zum Teil als begründet. Dem Kläger stehen Leistungen nach der Pflegestufe I gemäß §§ 13, 14 und 37 des Sozialgesetzbuches - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) in Verbindung mit den allgemeinen Versicherungsbedingungen des privaten Pflegepflichtversicherers (MB-PPV 1996) nicht beginnend ab 01.12.1999, sondern beginnend ab 01.12.2000 zu.

Die allgemeinen Versicherungsbedingungen des privaten Pflegepflichtversicherers "MB-PPV 1996" entsprechen gemäß § 23 SGB XI den Leistungsvoraussetzungen und dem Leistungsumfang der gesetzlichen Pflegeversicherung (vgl. §§ 14, 15 und 37 SGB XI).

Somit muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder (wie hier) eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege im Sinne von § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XI mehr als 45 Minuten entfallen. - Zur Grundpflege zählen:

1. Im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasen- entleerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppen- steigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Hiervon ausgehend sind die Gutachten von Herrn Dr. med. F. vom 08.04.2000 und Herrn Dr. med. Sch. vom 07.11.2000 in sich schlüssig. Zu den genannten Zeitpunkten hat im Bereich der Grundpflege ein Hilfebedarf von etwa 30 Minuten im Tagesdurchschnitt bestanden. Dies ist, wie die Beklagte zutreffend entschieden hat, nicht anspruchsbegründend gewesen.

Vor allem ausweislich der eigenen Angaben des Klägers gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Herrn R. ist es seit Weihnachten 2000 zu einer nennenswerten Verschlechterung der Gesamtsituation gekommen. Der gerichtlich bestellte Sachverständige Herr R., der als Leiter der Fachschule für Pflegekräfte in I. gerichtsbekannt erfahren ist, hat mit Gutachten vom 02.03.2001 ebenfalls schlüssig und überzeugend hervorgehoben, dass sich der Gesamt-Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auf nunmehr 51 Minuten täglich erhöht hat. Dies ergibt sich vor allem aus den zunehmenden Beschwerden im Bereich der oberen Extremitäten: Im Bereich der rechten Schulter liegt nach den Ausführungen von Herrn R. nunmehr eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung vor, wobei Nacken- und Schürzengriff nicht mehr möglich sind; die Kraft in der rechten Hand ist schwächer als links, auch wenn die linke Schulter frei beweglich ist.

Nachdem die Pflegeperson Frau G. entsprechend ihren eigenen Bekundungen gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Herrn R. deswegen verstärkt auch Hilfeleistungen erbringt (vgl. vor allem den Bereich der Zahnhygiene und den Bereich der mundgerechten Zubereitung der Ernährung), ist es insgesamt überzeugend, wenn entsprechend dem Votum von Herrn R. zumindest ab Dezember 2000 Leistungen nach der Pflegestufe I als zustehend erachtet worden sind.

Soweit sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 28.03.2001 dagegen verwahrt hat, die Klage gleichsam als eine "Dauer-Antragstellung" zu werten, ist zu entgegnen, dass es für die Entscheidung des Gerichts auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (hier: 25.06.2001) ankommt. Außerdem hat das Bayer. Landessozialgericht in einer Reihe von nicht publizierten Entscheidungen ausgeführt, dass es Klägern grundsätzlich freistehe, ob sie den Weg eines Neufeststellungsantrages beschreiten oder den der Klage; gegebenenfalls könnten sogar beide Wege parallel bzw. zeitgleich verfolgt werden.

Im Übrigen spiegelt sich die nämliche Problematik im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 SGG wieder. Die Frage der anteiligen Kostenüberbürdung bei einer anspruchsbegründenden Sachverhaltsänderung während des laufenden Gerichtsverfahrens ist in der Vergangenheit äußerst uneinheitlich beantwortet worden. Nunmehr scheint sich die Rechtsprechung des Bayer. Landessozialgerichts dahingehend zu festigen, dass etwa die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten eines Klägers in Fällen wie hier der Beklagten zu überbürden sind. Auf folgende Entscheidungen des Bayer. Landessozialgerichts wird beispielhaft Bezug genommen: Beschluss vom 26.06.2000 - L 14 RJ 292/96 in ASR 3/2000, S. 97 ff. (4/10), Beschluss vom 07.09.1998 - L 16 B 199/98 LW (5/10) und Beschluss vom 12.09.2000 - L 14 B 222/00 RJ (2/3); die beiden letztgenannten Entscheidungen sind nicht publiziert. - In Ausübung eines pflichtgemäßen Ermessens sind daher hier der Beklagten 5/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu überbürden gewesen.
Rechtskraft
Aus
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