S 10 RJ 227/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 RJ 227/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente, wobei insbesondere streitig ist, ob sich das Ghetto Sofia (Bulgarien) in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt war.

Der am 00.00.0000 in Sofia (Bulgarien) geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Wärend des 2. Weltkrieges hielt er sich unter anderem im Ghetto Sofia auf.

Im seinerzeitigen Entschädigungsverfahren gab der Kläger an, Sofia sei im Jahre 1942 durch die Deutschen besetzt worden. Von August 1942 bis September 1944 habe er verschiedene Zwangsarbeiten verrichtet, stets unter Bewachung von den Deutschen. Bis Juni 1943 habe er diese Zwangsarbeiten in Sofia selbst und Umgebung verrichtet, doch im selben Monat sei er dann in das Zwangsarbeitslager Russe verbracht worden. Auch dort habe er schwere Zwangsarbeiten unter steter Bewachung verrichtet. Mit Bescheid vom 31.03.1960 entschädigte das Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz dem Kläger wegen Schadens an Freiheit für die Zeit vom 29.09.1942 bis 08.09.1944.

Am 24.06.2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente. Er verfüge über Ghetto-Beitragszeiten, da er im Ghetto Sofia gearbeitet habe.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.09.2003 ab. Die geltend gemachte Beitragszeit des Klägers könne allenfalls nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu einer Rentengewährung führen. Das ZRBG sei aber hier nicht anwendbar, weil sich der Kläger im Ghetto Sofia aufgehalten habe und Bulgarien seinerzeit mit dem Deutschen Reich verbündet gewesen sei.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Der Feststellungsbescheid "C" vom 21.03.1960 des Bezirksamtes für Wiedergutmachung Koblenz stelle unanfechtbar fest, dass die Haftstätten Sofia und Russe im Machtbereich der deutschen Wehrmacht gestanden hätten.

Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.2004 zurück. Der Kläger habe sich in einem Ghetto aufgehalten, dass sich auf bulgarischem Staatsgebiet beziehungsweise in einem unter bulgarischer Verwaltungshoheit stehenden Gebiet befunden habe. Außerdem sei der Kläger keiner aus eigenem Willensentschluss zustandegekommener Beschäftigung gegen Entgelt nachgegangen.

Dagegen hat der Kläger am 00.00.0000 Klage erhoben.

Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, Sofia habe im Machtbereich der deutschen Wehrmacht gestanden. Er habe dort gearbeitet und ein Entgelt erhalten: freie Wohnung und Leben im Ghetto, Sachbezüge wie Kleidungsstücke von Verstorbenen, Verpflegung und nicht zuletzt Schutz vor Deportation in ein Vernichtungslager.

Der Kläger hat keinen Klageantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffene Entscheidung für zutreffend.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten bezug genommen. Diese Akten sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen, nach dem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 11.09.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2004 beschwert den Kläger nicht nach § 54 Abs. 2 SGG. Diese Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente.

Nach § 35 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie - 1 - das 65. Lebensjahr vollendet und - 2 - die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Auf die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren (§ 50 Abs. 1 SGB VI) sind nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und Kalendermonate mit Ersatzzeiten anzurechnen. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Ferner bestimmen §§ 110 Abs. 2, 113 Abs. 1 SGB VI, dass eine Rente ins Ausland - wie hier nach Israel - nur dann zahlbar ist, wenn Bundesgebietsbeitragszeiten vorliegen. Dies berücksichtigend kann der Kläger nur nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu Beitragszeiten und einem Zahlungsanspruch ins Ausland kommen. Denn er verfügt weder über Bundesgebietsbeitragszeiten (er behauptet, in Bulgarien gearbeitet zu haben), Nachentrichtungrechte noch sind die Zahlungs-Ausnahmevorschriften nach §§ 18, 19 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (WGSVG) einschlägig.

Aber auch die Voraussetzungen des ZRBG sind nicht gegeben. Der Anwendungsbereich ist nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht eröffnet. Danach gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn

1. die Beschäftigung

a.) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,

b.) gegen Entgelt ausgeübt wurde und

2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war,

soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Weder befand sich das Ghetto Sofia in einem Gebiet, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, noch ist es glaubhaft (§ 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 WGSVG), dass die behaupteten Beschäftigungen des Klägers aus eigenem Willensentschluss zustandegekommen sind und gegen Entgelt ausgeübt wurden.

Zunächst befand sich das Ghetto Sofia nicht in einem Gebiet, das dem Deutschen Reich eingegliedert war. Eine Eingliederung liegt nur dann vor, wenn das zunächst fremde Staatsgebiet dem eigenen Staatsgebiet durch Rechtsakt (Gesetz, Erlass oder ähnliches) angegliedert wird. Dies trifft beispielsweise auf die sogenannten Ostgebiete (Ost-Oberschlesien, Danzig-Westpreußen und das Wartheland) zu, die mit Erlass vom 08.10.1939 (Reichsgesetzblatt I, Seite 2042) eingegliedert wurden. An einem solchen Eingliederungsakt fehlt es in Bezug auf das Gebiet, in dem das Ghetto Sofia gelegen ist. Bulgarien wurde niemals dem Deutschen Reich angegliedert.

Bulgarien war auch nicht vom Deutschen Reich besetzt. Das Tatbestandsmerkmal der "Besetzung" ist unter Zugrundelegung der maßgeblichen juristischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Genese, Systematik und Regelungsziel) nicht erfüllt. Besetzung bedeutet nach allgemeinem völkerrechtlichem Verständnis zunächst, dass der besetzende Staat vorläufig die tatsächliche Gewalt über ein fremdes Staatsgebiet ausübt. Dabei erlischt die Staatsgewalt des besetzten Staates nicht automatisch. Sie wird für die Dauer der Besetzung entweder vollkommen oder zum Teil suspendiert; im zuletzt genannten Fall tritt die Staatsgewalt soweit zurück, wie der Besetzer die Regelungsgewalt an sich zieht. Bei ihm liegt es, zu bestimmen, in welchem Ausmaß er die öffentliche Funktion übernimmt und inwieweit er sie weiterhin durch die Behörden des besetzten Staates ausüben lässt (Ipsen, Völkerrecht, 4. Auflage, München 1999, § 69, Rd. Nr. 29; Meyers Großes Taschenlexikon, Taschenbuchverlag, Mannheim u.a. 1995, 5. Auflage, Stichwort Besetzung). Diese allgemeinen völkerrechtlichen Überlegungen werden duch das damals gültige Völkerrecht bestätigt. Nach Artikel 42 Satz 1 des Abkommens, betreffend die Gesetzte und Gebräuche des Landkrieges (Haager Landkriegsordnung, Reichtsgesetzblatt, Seite 107ff) gilt ein Gebiet als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Für die Anwendbarkeit des ZRBG ist ferner entscheidend, wer die Hoheitsgewalt in Bezug auf die Ghettos des fraglichen Gebietes maßgeblich ausgeübt hat und deswegen für den hierdurch entstandenen Schaden in der Rentenversicherung verantwortlich ist. Hierfür spricht zunächst die Entstehungsgeschichte des ZRBG. Nach der Gesetzesbegründung wurden die Tatbestandsmerkmale der Besetzung und Eingliederung in das Gesetz aufgenommen, weil unterstellt wird, dass ein Ghetto in den eingegliederten oder besetzten Gebieten in besonderem Maße der hoheitlichen Gewalt des Deutschen Reiches ausgesetzt war (BT-Drucksache 14/8583 Seite 6). Zudem ergänzt das ZRBG nach § 1 Abs. 2 die rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG und das WGSVG bezweckt nach § 1 Abs. 1 wiederum den Ausgleich eines Schadens in der Sozialversicherung, den ein Versicherter durch Verfolgung erlitten hat, hier den Ausgleich des Schadens in der Rentenversicherung. Deswegen muss nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG auch ein entgeltliches und freiwilliges, also dem Grunde nach versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis glaubhaft gemacht werden. Das ZRBG erfasst wegen dieser Tatbestandsmerkmale nur solche Ghetto-Beschäftigungen, die nach der Ghetto-Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als versicherungspflichtige Beschäftigungen anzusehen sind (BSG, Urteil vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R -).

Vor diesem Hintergrund war Bulgarien nicht vom Deutschen Reich besetzt. Bulgarien wurde nicht vom Deutschen Reich, sondern von Bulgarien selbst verwaltet. Bulgarien hatte auch wärend des zweiten Weltkriges stets die Hoheitsgewalt über sein Staatsgebiet. Hiergegen spricht auch nicht der Einwand des Klägers, in Bulgarien habe es Wehrmachtstruppen gegeben, die zudem anti-jüdische Maßnahmen veranlasst hätten. Die Stationierung deutscher Truppen auf dem Gebiet eines mit dem Deutschen Reich verbündeten Staates begründet solange keine Besetzung, wie der Drittstaat - hier Bulgarien - seine Souveränität behält (für § 7 Bundesversorgungsgesetz - BVG -: Wilke/Wunderlich, BVG, 5. Auflage, München, § 7, Nr. IV 4). Ebenso unerheblich ist der Hinweis des Klägers, er sei als Verfolgter nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und für seinen Freiheitsschaden entschädigt worden. Zum einen besteht für die Sozialgerichte keine Bindungswirkung hinsichtlich der von den Entschädigungsämtern getroffenen Feststellungen. Zum anderen ist die Anerkennung als Verfolgter nach dem BEG nur eine Voraussetzung für die Anwendbarkeit des ZRBG. Die Anerkennung allein besagt aber nichts darüber, ob das fragliche Ghetto bzw. Gebiet vom Deutschen Reich besetzt war.

Abgesehen davon erfolgte der vom Kläger behauptete und nicht näher konkretisierte Arbeitseinsatz auch nicht aus eigenem Willensentschluss im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a ZRBG. Danach muss die Tätigkeit freiwillig ausgeübt worden sein; es darf sich nicht um Zwangsarbeit gehandelt haben, wobei letzteres je eher vorliegt, desto mehr die fragliche Tätigkeit durch hoheitliche und obrigkeitliche Maßnahmen geprägt war, z.B. durch die obrigkeitliche Zuweisung an bestimmte Unternehmen oder die Bewachung auf dem Weg von und zur Arbeit und wärend der Arbeit (BSG, Urteil vom 14.07.1999 - B 13 RJ 71/98 R; Urteil vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R -). Letzteres hat der Kläger aber im Entschädigungsverfahren geschildert; er hat dort angegeben, stets unter Bewachung von den Deutschen gearbeitet zu haben.

Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b ZRBG tätig geworden ist. Entgeltlichkeit liegt nur vor, wenn der Betroffene für seine Arbeit eine Gegenleistung in nennenswertem Mindestumfang erhalten hat und deswegen Versicherungspflichtig tätig geworden ist. Das Arbeitsentgelt muss dabei zum Umfang und der Art der geleisteten Arbeit noch in einem angemessenen Verhältnis stehen. Allzu geringfügigte Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Arbeit haben kein Entgeltcharakter. Ferner begründet die Verpflegung am Arbeitsort kein (versicherungspflichtiges) Entgelt, weil die Gewährung freien Unterhalts nach § 1227 Reichsversicherungsordnung (RVO) Versicherungspflicht nicht eintreten lässt. Dies berücksichtigend erfolgte der behauptete Arbeitseinsatz des Klägers nicht entgeltlich. Der Schutz vor Deportation begründet kein Entgelt im Sinne des Rentenversicherungsrechts, ebenso nicht die Gewährung freien Unterhalts (Verpflegung). Die im übrigen behaupteten Sachbezüge - vor allem Kleidung von Verstorbenen - lassen zumindest nicht erkennen, dass allein diese Sachbezüge in einem angemessenen Verhältnis zur geleisteten Arbeit standen.

Nach alle dem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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