L 1 RJ 164/02

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 16 RJ 95/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 164/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. September 2002 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Zahlung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an Stelle der ab 17. Februar 2000 gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1949 geborene Kläger ist von Beruf Elektromonteur/Elektromechaniker. Er war zuletzt von 1982 bis Ende 2004 in seinem Beruf bei der Fa. I. O. H. GmbH & Co KG – in der Vormontage der Bohrmaschinenherstellung - beschäftigt, verdrahtete Bedienfelder und Schalttafeln und verrichtete Metallarbeiten. Nach seinen Angaben wurde er aus betriebsbedingten Gründen entlassen.

Bei einem Unfall im Jahre 1973 hatte der Kläger sich eine Beckenringfraktur mit zentraler Hüftluxation links zugezogen. Im November 1999 erfolgte im Allgemeinen Krankenhaus (AK) E. ein totalendoprothetischer Ersatz (TEP) seines linken Hüftgelenks. Auf seinen Antrag vom 3. Januar 2000 gewährte ihm die Beklagte vom 19. Januar bis 16. Februar 2000 ein Heilverfahren in der Rheumaklinik Bad B., für das er Übergangsgeld erhielt. Nach dem Bescheid des Versorgungsamtes vom 18. Juni 2003 sind für den Kläger ein Grad der Behinderung von 60, das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) und als Behinderungen eine Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk mit verminderter Belastbarkeit des linken Beines sowie eine chronische Dermatitis festgestellt.

Am 31. Mai 2000 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit. Die Beklagte ließ den Entlassungsbericht des AK E. vom 28. Dezember 1999 und den Reha-Entlassungsbericht vom 7. März 2000 von dem Chirurgen Dr. S. auswerten. Dieser vertrat die Auffassung, der Kläger sei noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung vollschichtig zu verrichten (Stellungnahme vom 3. August 2000). Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 15. August 2000 ab.

Im anschließenden Vorverfahren, in welchem der Kläger angab, auch an einem Hüfthochstand, einem Schultertiefstand und unter Arthrose in der rechten Hüfte, Schlafstörungen und Depressionen zu leiden, holte die Beklagte von dem Orthopäden Dr. S2, dem Nervenarzt Dr. S1 und dem praktischen Arzt K. Befundberichte ein, erhielt von letzterem Arzt den Vorstellungsbericht des AK E. vom 15. Mai 2000 und ließ Dr. S. erneut Stellung nehmen. Dieser hielt an seiner bisherigen Leistungsbeurteilung fest (Stellungnahme vom 9. November 2000). Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2000 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren - Klage vom 18. Januar 2001 - hat der Kläger behauptet, kaum eine längere Strecke als 200 bzw. 250 Meter gehen zu können und eine Gehhilfe zu benötigen. Sein Hüftschaden sei nicht behandlungsfähig, seine psychische Situation depressiv. Er benötige Medikamente verschiedenster Art gegen Schmerzen und Schlafstörungen und ermüde sehr schnell.

Das Sozialgericht hat von den Ärzten Dr. S1, Dr. S2 und K. Befundberichte eingeholt und den Kläger von dem Orthopäden P. am 23. Oktober 2001 untersuchen lassen (Gutachten vom 23. Oktober 2001). Neben den Zuständen nach Beckenbruch und nach TEP-Implantation links (mit Beugekontraktur und Beckenkippung) hat dieser Sachverständige ein leichtgradiges degeneratives Wirbelsäulenleiden, insbesondere mit Befall der Lendenwirbelsäule, bei Fehlhaltung und leichtgradigen degenerativen Veränderungen diagnostiziert. Leichte körperliche Arbeiten durchschnittlicher geistiger Art mit durchschnittlichem Verantwortungsgrad könne der Kläger vollschichtig leisten. Er vermöge durchaus viermal täglich über 500 Meter zu Fuß in einer Zeit von unter 20 Minuten zurückzulegen. Die genannten Arbeiten könne er zeitweilig im Gehen oder Stehen, derzeit aber nicht länger als drei Stunden arbeitstäglich, verrichten. Er könne problemlos in wechselnder Körperhaltung und auch ausschließlich oder überwiegend im Sitzen arbeiten und Hebe- und Tragebelastungen bis zu sieben Kilogramm tolerieren. Auch kurzzeitiges Bücken und kurzzeitiges Rumpfverdrehen seien ihm möglich. Zumutbare Arbeiten sollte der Kläger auf ebenem, glattem Untergrund, nicht auf Leitern und Gerüsten und nicht unter Absturzgefahr, verrichten. Arbeiten im Knien oder Hocken seien ihm nicht zumutbar. Zwar habe der Kläger in der Untersuchungssituation ein erhebliches Verdeutlichungsverhalten gezeigt. Eindrucksmäßig bestehe aber kein Anhalt für eine tiefer gehende neurotische oder psychische Gesundheitsstörung.

Der Chirurg Dr. H1 hat sich im Termin des Sozialgerichts vom 18. März 2002 weitgehend der Einschätzung des Orthopäden P. angeschlossen, den Gebrauch einer Unterarmgehstütze nicht für erforderlich gehalten und den Verdacht geäußert, dass der Kläger sich an den Gebrauch der Unterarmstütze und von Schmerz- und Schlafmitteln gewöhnt haben könnte. Wechselschichtarbeit und Nachtarbeit kämen nicht in Frage.

Das Sozialgericht hat ferner von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. das Gutachten vom 28. August 2002 eingeholt. Dr. R. hat bei der Untersuchung vom 27. August 2002 weder Hinweise für einen krankhaften neurologischen noch für einen psychiatrischen Befund, insbesondere keine Anzeichen für eine nachhaltige Depression oder für eine produktive Symptomatik gesehen. Eine bewusstseinsnahe Verdeutlichungstendenz sei nicht zu übersehen. Der Kläger könne leichte Arbeiten vollschichtig mit den sich aus dem orthopädischen Gutachten vom 23. Oktober 2001 ergebenden Einschränkungen verrichten und sei auch in der Lage, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme aus eigener Kraft zu überwinden. Akkord-, Schicht- und Nachtarbeiten schieden für ihn aus.

Im Termin des Sozialgerichts vom 16. September 2000 hat die Beklagte anerkannt, dass beim Kläger seit seinem Rehabilitationsantrag vom 3. Januar 2000 Berufsunfähigkeit vorliege. Sie hat durch Ausführungsbescheide vom 9. September 2003 und 23. März 2004 Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 17. Februar 2000 gewährt. Hierbei hat sie Einkommen des Klägers wegen Überschreitung seiner individuellen Hinzuverdienstgrenze angerechnet.

Der Kläger hat das Anerkenntnis, das auch eine Kostenregelung umfasst, als Teilanerkenntnis angenommen und den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit weiter verfolgt.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 16. September 2002 abgewiesen. Der Kläger sei noch in der Lage, zumindest leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung mit den aufgezeigten Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Er könne insbesondere einfache Pack- und Montierarbeiten verrichten, wie sich aus den Ausführungen des im Termin vom 18. März 2002 gehörten berufskundigen Sachverständigen S3, denen sich der am 16. September 2002 gehörte weitere berufskundige Sachverständige M. angeschlossen hat, ergebe.

Gegen das ihm am 5. November 2002 zugestellte Urteil vom 16. September 2002 hat der Kläger am 4. Dezember 2002 Berufung eingelegt und ausgeführt, nur unter Einnahme von Schlaftabletten, Psychopharmaka und Schmerztabletten arbeiten zu können. Lediglich unter Zuhilfenahme von Medikamenten könne er am Erwerbsleben teilnehmen. Ohne deren Einnahme wäre er erwerbsunfähig. Wäre er nicht erwerbstätig, benötigte er diese Medikamente nicht. Deren Einnahme sei für ihn "überobligatorisch", weil er sich durch sie einer erheblichen Gesundheitsgefährdung aussetze. Die eingeholten Gutachten beantworteten nicht die Frage, ob er ohne Einnahme von Medikamenten erwerbsunfähig wäre und ob ihm diese Einnahme zumutbar sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. September 2002 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 15. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2000 und der das Teilanerkenntnis vom 16. September 2002 ausführenden Bescheide vom 9. September 2003 und 23. März 2004 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm statt der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 17. Februar 2000 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Einnahme von Medikamenten beeinflusse das Leistungsbild des Klägers nicht negativ. Es liege kein psychischer Befund vor, der die Medikamenteneinnahme notwendig mache. Eine vorzeitige Ermüdbarkeit des Klägers sei nicht festzustellen.

Nachdem der Kläger Atteste der Ärzte K., Dr. S2 und seiner behandelnden Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie J. vorgelegt und das Berufungsgericht von diesen Ärzten Befundberichte eingeholt hatte, ist von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H2 ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt worden.

In ihrem Gutachten vom 28. Oktober 2004 hat Dr. H2 auf einen gewissen Alkoholmissbrauch des Klägers hingewiesen. Die Notwendigkeit des Gebrauchs einer Unterarmgehstütze könne sie vorliegend nur schwer nachvollziehen. Der Kläger leide an einem chronischen Schmerzsyndrom nach Beckenringbruch mit Statikstörung und Coxarthrose rechts sowie Hüft-TEP links und dadurch bedingter Schlafstörung sowie Somatisierungsneigung. Es gälten die von dem Orthopäden P. beschriebenen Leistungseinschränkungen. Sinnvoll wäre eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik zwecks Reduzierung der Schlaf- und Schmerzmittel. Die Wegefähigkeit des Klägers sei erhalten. Seine zur Zeit der Begutachtung verrichtete vollschichtige Arbeit zeige, dass er Hemmungen gegenüber einer Arbeitsaufnahme aus eigener Kraft überwinden könne.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakten, der Verwaltungsakten der Beklagten nebst Gutachtenakten und der Akten des Versorgungsamts Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass ihm die Beklagte ab 17. Februar 2000 anstatt der Rente wegen Berufsunfähigkeit die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Denn er ist nicht erwerbsunfähig.

Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs. 2 1. Halbsatz Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der hier noch anzuwendenden, bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (§ 300 Abs. 2 SGB VI) Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, dass monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt. Erwerbsunfähig ist nach § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Hiernach liegt Erwerbsunfähigkeit nicht vor.

Beim Kläger bestehen im Wesentlichen Krankheiten und Behinderungen auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet. Bei Zuständen nach Beckenringbruch 1973 und TEP- Implantation links 1999 liegt zum einen eine minimale Beugekontraktur der linken Hüfte mit leichter Gehbehinderung ohne eine konstitutive Verschlechterung der linken Beinmuskulatur gegenüber der rechten, zum anderen ein leichtes degeneratives Wirbelsäulensyndrom ohne eine neurologische Symptomatik vor. Eine Gebrauchsnotwendigkeit für eine Unterarmgehstütze besteht nicht. Davon hat sich der Senat in der mündlichen Verhandlung auf Grund eigener Anschauung im Hinblick auf das Verhalten des Klägers zu überzeugen vermocht. Wegefähigkeit ist gegeben, denn der Kläger kann durchaus vier Mal am Tag 500 Meter in einer Zeit von nicht mehr als je 20 Minuten zurücklegen. Ein bedeutender psychiatrischer Befund liegt nicht vor. Es besteht eine Somatisierungsneigung. Ein geklagtes chronisches Schmerzsyndrom ist unter dem Blickwinkel einer Verdeutlichungstendenz zu sehen. Außerdem liegen Schlafstörungen sowie ein Medikamentenmissbrauch vor.

Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen vermag der Kläger nach übereinstimmender gutachterlicher Auffassung (P., Dr. H1, Dr. R., Dr. H2), der sich der Senat anschließt, leichte körperliche Arbeiten (mit Einschränkungen) noch vollschichtig zu verrichten. Dies hat der Kläger letztlich durch seine Tätigkeit bei der Firma I. auch gezeigt. Er hat damit zugleich offenbart, dass er Hemmungen gegenüber einer Aufnahme einer leidensgerechten Tätigkeit aus eigener Kraft überwinden kann.

Mit einem Leistungsvermögen für vollschichtige leichte körperliche Arbeiten, die er zu ebener Erde und in wechselnder Körperhaltung, aber auch ausschließlich im Sitzen (nicht im Hocken und Knien, selten im Bücken) sowie mit Hebe- und Tragebelastungen von sieben Kilogramm (nicht im Akkord und in Schicht- und Nachtarbeit) verrichten kann, ist der Kläger nicht erwerbsunfähig. Es kommt nicht darauf an, ob ihn seine letzte, neben dem Bezug von Berufsunfähigkeitsrente ausgeübte Tätigkeit bei der Fa I. eventuell körperlich überfordert hat. Denn entscheidend ist seine Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese ist gegeben.

Die Einlassungen des Klägers hinsichtlich seiner Medikamenteneinnahme sind nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu begründen. Zwar betreibt der Kläger einen mit zeitweiligem Alkoholkonsum gepaarten Tablettenmissbrauch. Nach den Feststellungen Dr. R.’s und Dr. H2 s ergibt sich jedoch kein Anhalt dafür, dass das Leistungsvermögen des Klägers deshalb aufgehoben oder nur wegen der Medikamenteneinnahme nicht aufgehoben ist. Vielmehr würde die Reduzierung des Schlafmittel- und Schmerzmittelgebrauchs die Leistungsfähigkeit des Klägers noch verbessern. Das ergibt sich aus dem Gutachten Dr. H2 s. Soweit der Kläger angibt, Arbeiten lediglich im Sitzen, aber nicht in wechselnder Körperhaltung verrichten zu können, hat die Beweisaufnahme eine solche Leistungseinschränkung nicht ergeben. Indes läge Erwerbsunfähigkeit aber auch dann nicht vor, wenn der Kläger nur im Sitzen arbeiten könnte. Denn es gibt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt genügend leichte körperliche Arbeiten, die im Wesentlichen vollschichtig im Sitzen zur Ausführung gelangen. Daraus folgt, dass auch eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem ab 1. Januar 2001 geltenden § 43 SGB VI nicht gezahlt werden kann.

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg und ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen.
Rechtskraft
Aus
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