S 10 RJ 87/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 RJ 87/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente, wobei insbesondere Streitig ist, ob der Kläger Ghetto-Beitragszeiten glaubhaft machen konnte.

Der am 00.00.1939 in Budapest (Ungarn) geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Während des zweiten Weltkrieges befand er sich in Budapest. Er besitzt heute die israelische Staatsangehörigkeit.

Am 17.06.2001 beantragte der Kläger bei der Claims Conference die Gewährung einer Beihilfe aus dem Härtefall-Fonds. Er gab u. a. an, im Oktober 1944 gemeinsam mit seiner Tante in das Ghetto Budapest eingewiesen worden zu sein, wo er im Januar 1945 befreit worden sei. Mit Bescheid vom 31.10.2002 gewährte die Claims Conference dem Kläger die begehrte Beihilfe.

Am 03.07.2003 beantragte der Kläger bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung einer Altersrente aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten. Er habe sich in Budapest aufgehalten, nämlich ab dem 19.03.1944 in einem Judenhaus, ab dem 21.06.1944 in einem schwedischen Schutzhaus und ab dem 15.11.1944 im Budapester Ghetto. Dort sei er am 18.01.1945 befreit worden. Er habe innerhalb des Ghettos Küchenarbeiten verrichtet und hierfür keine Entlohnung erhalten.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte - an die der Vorgang zwischenzeitlich zuständigkeitshalber abgegeben worden war - mit Bescheid vom 24.09.2003 ab. Bereits aufgrund des damaligen Lebensalters des Klägers (er sei am 00.00.1939 geboren) sei nicht davon auszugehen, dass er Arbeitszeiten in einem Ghetto zurückgelegt habe.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er sei im Budapester Ghetto in der Zeit vom 19.03.1944 bis 18.01.1945 unter deutscher Besatzung gewesen. Er habe dort gearbeitet und hierfür trockenes Brot, Kartoffelschalen und gelegentlich einige trockene Bohnen erhalten. Die Bezahlung habe immer am selben Tag und zur selben Zeit stattgefunden. In diesem Gebäude seien deutsche Wachposten gewesen. Er sei in der Tat nur 5 Jahre gewesen, habe aber das getan, was ihm befohlen worden sei, weil er weder verhungern wollte noch widersprechen konnte. So sei er gezwungen gewesen, in der Küche zu arbeiten.

Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2004 zurück. Von einer Beschäftigung des Klägers aus eigenem Willensentschluss sei nicht auszugehen, da er nach seinen eigenen Angaben zum Zeitpunkt der behaupteten Tätigkeit erst 5 Jahre alt gewesen sei.

Dagegen hat der Kläger am 00.00.0000 Klage erhoben.

Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, Ghetto-Beitragszeiten glaubhaft gemacht zu haben. Er habe - gemeinsam mit seiner Tante - in der Ghetto-Großküche Arbeit gefunden. Er habe Notverpflegung, die die sonstigen Bedürftigen als Mittagsportion erhielten, für seine Arbeit erhalten. Außerdem habe er von den Küchenresten eine geringe Menge und ausgetrocknetes Brot zum mitnehmen erhalten, gelegentlich auch eine Hand voll trockener Bohnen oder Trockenlinsen. In der Großküche habe es "Aufpasser" gegeben.

Der Kläger hat keinen Klageantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Entschädigungsakte des Klägers bei der Claims Conference beigezogen.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 24.09.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2004 beschwert den Kläger nicht nach § 54 Abs. 2 SGG. Diese Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente.

Nach § 35 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie - erstens - das 65. Lebensjahr vollendet und - zweitens - die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Auf die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren (§ 50 Abs. 1 SGB VI) sind nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeit und Kalendermonaten mit Ersatzzeiten anzurechnen. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.

Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Der Kläger verfügt über keine auf die Wartezeit anrechenbaren Pflichtbeitragszeiten, so dass Ersatzzeiten - mangels Versicherteneigenschaft - nicht anzurechnen sind. Pflichtbeitragszeiten können hier nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) keine Berücksichtigung finden. Denn unabhängig davon, ob dieses Zahlbarmachungsgesetz überhaupt Rechtsgrundlage für die Anerkennung von Beitragszeiten sein kann, sind jedenfalls die Anwendungsvoraussetzungen aus § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht erfüllt. Danach gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn

1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,

b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und

2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, dass vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war,

soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Der Kläger hat sich zunächst im Zeitraum vor November 1944 nicht in einem Ghetto aufgehalten. Ein Ghetto ist nach allgemeinen Verständnis ein Stadtviertel, in dem eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (hier: Juden) in einer mehr oder weniger strengen Isolation zu leben gezwungen ist. Ein Ghetto erfordert demnach eine Konzentration einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an einem bestimmten Ort. Eine solche Konzentration hat in Budapest erst im November 1944 stattgefunden. Nach der deutschen Besatzung Budapests (19.03.1944) wurden die dortigen Juden in über 2 600 Gebäuden über die ganze Stadt verteilt untergebracht. Diese Häuser wurden mit einem Davidsstern gekennzeichnet. Erst am 13.11.1944 befahl die sogenannte Pfeilkreuzler-Partei die Errichtung eines geschlossenen Ghettos, und am 02.12.1944 waren die meisten Juden Budapests dorthin zusammengezogen worden (Jäckel, Longerich, Schoeps, Enzyklopädie des Holokaust, Band 1, München, Stichwort "Budapest", Seite 252f).

Aber auch für die Zeit ab November 1944 sind die vorgenannten Voraussetzungen nicht erfüllt. Denn unabhängig davon, ob der Kläger tatsächlich aus eigenem Willensentschluss in der Ghetto-Großküche gearbeitet hat (der Kläger war damals erst 5 Jahre alt) erfolgte diese Tätigkeit jedenfalls nicht entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b ZRBG. Über dieses Tatbestandsmerkmal sind Ghetto-Arbeiten nach dem Typus einer Sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einerseits von der nicht versicherten Zwangsarbeit andererseits abzugrenzen. Denn nur solche Beschäftigungen können zu Beitragszeiten und damit zu einer Rentenleistung führen, die einen Bezug zur deutschen Rentenversicherung aufweisen, also dem Grunde nach sozialversicherungspflichtig waren. Dies berücksichtigend liegt nur dann ein Entgelt im Sinne der vorgenannten Vorschrift vor, wenn es zum Umfang und der Art der geleisteten Arbeit noch in einem angemessenen Verhältnis gestanden hat. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben dem gegenüber keinen versicherungspflichtbegründenden Entgeltcharakter. Auch die Gewährung von Verpflegung am Arbeitsort stellt kein versicherungspflichtiges Entgelt dar, da sie als freie Unterhaltsgewährung versicherungsfrei ist (§ 1227 Reichtsversicherungsordnung - RVO -). Im Übrigen ist bei der Gewährung von Lebensmitteln zu prüfen, ob sie nach Unfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch und Gebrauch oder nach vorbestimmten Maße zur beliebigen Verfügung gegeben wurden (zu allem: BSG Urteil vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 -; Urteil vom 14.07.1999 - B 13 RJ 71/98 R -; LSG Berlin, Urteil vom 13.06.2003 - L 5 RA 20/01 -).

Dies berücksichtigend ist es nicht glaubhaft (§ 1 Abs. 2 ZRBG in Verbindung mit § 3 des Gesetzes zur Widergutmachung nationalsozialistischen Unrechts - WGSVG -), dass der Kläger entgeltlich gearbeitet hat. Denn er hat nach seiner eigenen Darstellung nur Verpflegung erhalten, die als freie Unterhaltsgewährung keine Versicherungspflicht auslöst (§ 1227 RVO). Der Kläger schildert in seiner Stellungnahme vom 17.06.2004 (Bl. 11 der Gerichtsakte), er habe Notverpflegung (am Arbeitsort) erhalten und darüber hinaus von den Küchenresten eine geringe Menge und ausgetrocknetes Brot, gelegentlich auch eine Hand voll trockener Bohnen oder Trockenlinsen, zum Mitnehmen erhalten. Diese Lebensmittel waren zum unmittelbaren Verbrauch, also zur Verpflegung des Klägers bestimmt. Der Kläger behauptet nicht, darüber hinaus auch Lebensmittel zur freien Verfügung, etwa zum Tausch, erhalten zu haben.

Andere Rechtsgrundlagen für die Anerkennung von Beitragszeiten sind weder ersichtlich noch geltend gemacht worden.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung erfolgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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