S 17 KR 166/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 17 KR 166/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.07.2001 verurteilt, das dem Kläger für die Zeit vom 01.07.1998 bis zum 07.12.1998 gezahlte Krankengeld unter Berücksichtigung erhaltener Einmalzahlungen nach Maßgabe der §§ 47, 47a SGB V in der Fassung des Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetzes vom 28.12.2000 (BG Bl. I, 1971) neu zu berechnen und dem Kläger die sich hieraus ergebene Differenz nachzuzahlen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten hinsichtlich der Neuberechnung und Nachzahlung von Krankengeld.

Der Kläger bezog von der Beklagten in der Zeit vom 01.07.1998 bis zum 07.12.1998 Krankengeld. Mit Schreiben vom 26.01.2001 beantragte er unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, worin entschieden worden sei, dass bei der Berechnung des Krankengeldes auch das Weihnachts- und Urlaubsgeld berücksichtigt werden müsse, eine entsprechende Nachzahlung von Krankengeld.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.03.2001 ab und führte aus, die gesetzliche Neuregelung durch das am 01.01.2001 in Kraft getretene Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz wirke sich auch rückwirkend aus, wenn über den Krankengeldanspruch am 21.06.2000 noch nicht rechtskräftig entschieden war. Dem Kläger sei die Höhe des Krankengeldanspruchs im Juli 1998 bekannt gegeben worden. Die Widerspruchsfrist endete im Juli 1999. Am 21.06.2000 sei damit über den Anspruch rechtskräftig entschieden worden, sodass eine Neuberechnung ausscheide. Den unter dem 06.04.2001 erhobenen Widerspruch des Klägers wies der Widerspruchsausschuß mit Bescheid vom 06.07.2001 als unbegründet zurück und berief sich nochmals darauf, dass gemäß § 47 a Abs. 2 SGB V Entscheidungen über Ansprüche auf Krankengeld, die vor dem 22.06.2000 unanfechtbar geworden seien, nicht nach § 44 SGB X zurückzunehmen seien. Der Bescheid über die Krankengeldhöhe sei entsprechend der bei Bescheidung geltenden Rechtslage korrekt und nicht als vorläufig anzusehen gewesen. Die Unkenntnis einer Widerspruchsmöglichkeit könne zu keiner anderen Beurteilung führen.

Die hiergegen erhobene Klage ist am 07.08.2001 bei Gericht eingegangen.

Der Kläger ist der Auffassung, der geltend gemachte Anspruch stehe ihm zu. Die Auffassung, dass die Bescheide die hier zu Grunde lägen, rechtskräftig geworden seien und deshalb die Entscheidung zur Neuberechnung nicht durchgeführt werden müsse, liege neben der Sache.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.07.2001 zu verurteilen, das dem Kläger in der Zeit vom 01.07.1998 bis zum 07.12.1998 gezahlte Krankengeld unter Berücksichtigung erhaltener Einmalzahlungen neu zu berechnen und ihm den sich hieraus ergebenen Differenz betrag nachzuzahlen, hilfsweise die Sprungrevision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sprungrevision zuzulassen.

Sie bezieht sich zur Begründung im wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide und vertritt die Auffassung, die Vornahme einer Neuberechnung des Krankengeldes unter Berücksichtigung von Einmalzahlungen trotz des bestandskräftigen Verwaltungsaktes widerspreche der Intention des Gesetzgebers.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und die Verwaltungsakte der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Die Beklagte war unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide antragsgemäß zu verurteilen, da die Bescheide den Kläger rechtswidrig in seinen Rechten verletzen. Der geltend gemachte Anspruch steht dem Kläger nach Auffassung der Kammer zu.

Zunächst liegt ein Bescheid der Beklagten über die Berechnung des Krankengeldes im Jahre 1998 in den Akten nicht vor. Die Kammer geht daher davon aus, dass dem Kläger das beantragte Krankengeld nicht durch Bescheid, sondern wie üblich durch die bloße Auszahlung des selben, d.h. in Form eines sogenannten Verwaltungsrealaktes, erbracht worden ist. Selbst wenn aber die Beklagte vorliegend einen schriftlichen Verwaltungsakt über die Höhe des Krankengeldes erlassen haben sollte, der nach Ablauf der einjährigen Widerspruchsfrist bestandskräftig geworden sein sollte, stünde eine solche Bestandskraft dem Anspruch des Klägers nicht entgegen.

Zwar spricht für die Auffassung der Beklagten vordergründig der Wortlaut des § 47a SGB V, in der mit Wirkung vom 22.06.2000 an geltenden Neufassung durch das Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz vom 21.12.2000. Hiernach ist § 47 SGB V, in der ab dem 22.06.2000 geltenden Fassung für Ansprüche auf Krankengeld, die vor dem 22.06.2000 entstanden sind nur anzuwenden, soweit hierüber am 21.06.2000 noch nicht unanfechtbar entschieden war. Auch führt die Beklagte zutreffend aus, dass nach § 47a Abs. 2 Satz 2 SGB V n.F. Entscheidungen über Ansprüche auf Krankengeld, die vor dem 22.06.2000 unanfechtbar geworden sind, nicht nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen sind. Hierauf kann sich jedoch die Beklagte nach dem - auch im öffentlichen Recht geltenden - Grundsatz von Treu und Glauben gegenüber dem Kläger nicht berufen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits mit Beschluss vom 11.01.1995 - 1 BvR 892/88 - die Vorschrift des § 227 SGB V mit Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) insoweit für unvereinbar erklärt, als danach einmalig gezahltes Arbeitsentgelt zu Krankenversicherungsbeiträgen herangezogen werde, ohne dass dies bei der Berechnung der kurzfristigen Entgeltersatzleistungen, wie zum Beispiel dem Krankengeld, berücksichtigt wird. Zur Neuregelung hatte das Bundesverfassungsgericht eine Frist bis zum 31.12.1996 gesetzt.

Mit dem Gesetz zur sozialrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt vom 12.12.1996 (BGBl.I,1859) war § 227 SGB V aufgehoben und - im wesentlichen wortgleich - durch § 23a SGB IV ersetzt worden. Als leistungsrechtlicher Ausgleich war aber nicht etwa die Möglichkeit der Mitberücksichtigung des einmalig gezahlten Arbeitsentgelts bei der Berechnung des Krankengeldes durch entsprechende Änderung des § 47 Abs. 2 SGB V vorgesehen worden. Vielmehr sollte mit der Einführung des § 47a SGB V seit dem 01.01.1997 ein zusätzliches Krankengeld gewährt werden. Bereits in der gemeinsamen Verlautbarung vom 16.12.1996 (DOK 1997, 140) kamen die Spitzenverbände der Krankenkassen zu der Auffassung, dass "nach Prüfung aller bisher möglichen Fallkonstellationen in der Praxis keine Fälle eines zusätzlichen Krankengeldes bzw. Übergangsgeldes denkbar" seien. Erwartungsgemäß wurde dem Bundesverfassungsgericht durch mehrere Vorlagebeschlüsse erneut Gelegenheit gegeben, zu überprüfen, ob die Regelung ab dem 01.01.1997 nunmehr verfassungskonform sei.

Für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Beitragserhebung aus Einmalzahlungen für nichtig ansehen werde, haben die Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger und der Sozialpartner zur Vermeidung einer Flut von Widerspruchs- und Klageverfahren am 28.07.1998 eine gemeinsame Erklärung zur sozialversicherungsrechtlichen Behandlung der Einmalzahlungen herausgegeben (vgl. z. B. BKK 1998, 524 sowie die Veröffentlichungen in anderen Fachzeitschriften bzw. in der überörtlichen Presse).

Hierin haben die Spitzenverbände erklärt, dass schriftliche Widersprüche nicht erforderlich seien, um Ansprüche auf Beitragserstattungen aus dem erwarteten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts geltend zu machen.

Mit Beschluss vom 24.05.2000 (1 BVL 1/98) hat das Bundesverfassungsgericht sowohl die Vorschrift des § 23a SGB IV als auch die Nichtanrechnung einmaligen Arbeitsentgelts bei der Krankengeldberechnung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 SGB V für verfassungswidrig erklärt. Den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber dann mit dem Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz durch Änderung der §§ 47, 47a SGB V nachgekommen. Die erneute Korrektur betraf daher widerum nicht die beitrags-, sondern die leistungsrechtliche Seite, was dem Gesetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung überlassen worden war.

Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben sich mit den Auswirkungen des Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetzes in einem ausführlichen gemeinsamen Rundschreiben vom 16.02.2001 befasst. Zu dem sich aus ihrer Erklärung vom 28.07.1998 und der gesetzlichen Regelung im § 47a Abs. 2 Satz 2 SGB V n.F. ergebenden Konflikt führen die Spitzenverbände unter Punkt 2.6.6 unter anderem aus:

"Die Erklärung bezog sich für die gesetzliche Krankenversicherung zwar auf beitragsrechtliche Aspekte. Es wurde aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Rechtsstreitigkeiten mit den Arbeitsämtern zur Nichtberücksichtigung von Einmalzahlungen bei der Berechnung von Arbeitslosengeld oder anderen Entgeltersatzleistungen unberührt bleiben. Somit ist nicht auszuschließen, dass die Erklärung bei den Versicherten den Eindruck erwecken konnte, die Krankenkassen würden die leistungsrechtliche Behandlung von Einmalzahlungen nachträglich auf der Basis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vornehmen. Außerdem haben einige Krankenkassen - zum Teil schon vor dem 28.07.1998 und unter ausdrücklicher Erwähnung möglicher Krankengeldnachzahlungen - entsprechende Erklärungen herausgegeben. Bei Versicherten, die im Vertrauen auf die Erklärungen der Sozialversicherungsträger auf die Einlegung von Widersprüchen gegen die Krankengeldberechnung verzichtet haben, können die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gegeben sein. Es sollte daher auf Antrag der Versicherten im Einzelfall geprüft werden, ob ihnen dieser Anspruch einzuräumen ist."

Wie die Spitzenverbände nach diesem Zitat zutreffend erkannt haben, kann es nicht angehen, die Versicherten mit einer entsprechenden Verlautbarung zur Vermeidung einer Flut von Verfahren davon abzuhalten, ihre Rechte durch Einleitung eines Widerspruchsverfahrens zu wahren, um sich im Nachhinein auf die Bestandskraft der entsprechenden Bescheide zu berufen. Zwar sieht die Kammer im Hinblick auf die Neuregelung des § 47a SGB IV keine allgemeine Verpflichtung der Kassen, von Amts wegen bereits abgeschlossene Leistungsfälle zu überprüfen und sich gegebenenfalls hieraus ergebende Krankengeldbeträge nachzuzahlen. Soweit aber, wie vorliegend, im Einzelfall Versicherte ihre Ansprüche nachträglich geltend machen, sind die Kassen zur Nachberechnung verpflichtet und hieran auch nicht durch den Wortlaut des § 47a Abs. 2 Satz 2 SGB V n.F. gehindert. Insoweit läßt es die Kammer dahin stehen und überlässt es der Beklagten, wie sie die Neuberechnung und Nachzahlung an den Kläger intern rechtfertigt. In Betracht kommt insoweit der bereits von den Spitzenverbänden aufgezeigte Weg über einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Gleichermaßen in Betracht zu ziehen ist aber auch die Wiedereinsetzung des Klägers in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X, da der Kläger ohne sein Verschulden, nämlich aufgrund der gemeinsamen Erklärung vom 28.07.1998, daran gehindert worden ist, rechtzeitig Widerspruch einzulegen. Schließlich wäre daran zu denken, die öffentlichen Verlautbarungen der Kassen als Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X zu qualifizieren, gerichtet auf die Beitragserstattung bzw. Nachberechnung von Krankengeld je nach Ausgang des verfassungsgerichtlichen Überprüfungsverfahrens.

Es ist nach alledem Sache der Beklagten, wie sie zur Vermeidung des Vorwurfs arglistigen Verhaltens dem dem Kläger jedenfalls zustehenden Anspruch auf Neuberechnung und Nachzahlung des Krankengeldes unter Berücksichtigung erhaltender Einmalzahlungen nach Maßgabe der §§ 47, 47a SGB V in der Fassung des Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetzes Rechnung tragen will. Im Gegensatz zur Beklagten haben eine Vielzahl anderer Krankenkassen dieses Problem bereits gelöst, sodass deren Versicherte sozialgerichtliche Hilfe zur Durchsetzung ihrer Nachzahlungsforderungen nicht in Anspruch nehmen müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Die Kammer sah sich gehalten, die Sprungrevision gemäß § 161 Abs. 1 in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Verwaltungspraxis der Krankenkassen, zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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