L 18 SB 14/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 SB 9/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 14/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 09.01.2002 abgeändert.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festzustellen.
III. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
IV. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger die Merkzeichen G und RF zustehen.

Bei dem 1949 geborenen Kläger hatte das Amt für Versorgung und Familienförderung (AVF) Bayreuth mit Bescheid vom 29.11.1999 als Behinderungen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90 festgestellt: 1. Beeinträchtigung der Gehirnfunktion, seelische Krankheit 2. S-förmige Skoliose der Wirbelsäule mit degenerativen Verän derungen und Bandscheibenschaden 3. Chronisch-obstruktive Lungenventilationsstörung mit rezidi vierender Bronchitissymptomatik 4. Chondropathia patellae mit O-Beinstellung beider Kniegelenke 5. Chronisches Magenleiden.

Der Kläger stellte am 09.05.2000 einen Antrag auf Eintragung des Merkzeichens G und am 11.10.2000 auf zusätzliche Zuerkennung des Merkzeichens RF. Er begründete dies mit einer Verschlimmerung des rechten Knies, das wegknicke und schwerer Beine aufgrund eines Sturzes sowie unter Vorlage verschiedener ärztlicher Unterlagen wegen Konzentrationsstörungen und einer depressiven Neurose. Der Beklagte holte Befundberichte des Internisten Priv.-Doz. Dr.K. vom 04.10.2000 und des Chirurgen Dr.S. vom 31.10.2000 ein und anerkannte entsprechend der Stellungnahme des Internisten Dr.S. vom 20.12.2000 mit Bescheid vom 28.12.2000 als Behinderungen mit einem GdB von 100: 1. Beeinträchtigung der Gehirnfunktion, seelische Krankheit 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Verände rungen, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelerscheinungen, Wirbelsäulenverformung 3. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke 4. Chronische Bronchitis, Lungenfunktionseinschränkung 5. Magenerkrankung. Merkzeichen gewährte er nicht.

Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbscheid vom 07.06.2001).

Mit der Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) hat der Kläger weiterhin die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF geltend gemacht. Das SG hat nach Einholung von Befundberichten des Neurologen und Psychiaters Dr.G. vom Juli 2001, des Chirurgen Dr.S. vom 18.07.2001, des Internisten Priv.Doz. Dr.K. vom 26.07.2001 und der Allgemeinärzte Dres.B. vom 01.08.2001 den Internisten Dr.T. gehört (Gutachten vom 09.01.2001). Dieser hat beim Kläger eine hypochondrische Depression und eine Prozesspsychose sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Chondropathia patellae, eine chronische obstruktive Lungenerkrankung und eine Magenerkrankung festgestellt. Diese Veränderungen wirkten sich jedoch nicht erheblich gehbehindernd aus. Der Kläger könne ortsübliche Wegstrecken (2 km in 30 Minuten) zurücklegen. Der Kläger sei auch nicht außer Stande, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Bei dem eher ängstlichen und besorgten Verhalten ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Störung von Veranstaltungen. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 09.01.2002 abgewiesen und sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr.T. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und wegen der Schwere seiner Erkrankungen weiterhin die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF begehrt. Er hat insbesondere geltend gemacht, dass er aufgrund von Schmerzzuständen, die sich bereits nach kurzer Bewegungszeit von max. 5 - 7 Minuten einstellten, nicht in der Lage sei, eine Wegstrecke von 2 km zurückzulegen und er auch unter Einlegen von Pausen nicht in der Lage sei, eine Gehdauer von einer halben Stunde zu bewältigen. Wegen psychischer Störungen und Verfolgungsängste bestehe eine Hemmschwelle, so dass er nicht in der Lage sei, ohne Vertrauensperson, die die Funktion einer Begleitperson wahrnehme, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Der vom Senat mit Gutachten vom 28.03.2003 gehörte Orthopäde Dr.D. hat die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G verneint. Die Bemessung des Gesamt-GdB des orthopädischen Gebietes sei mit 30 anzusetzen. Der für den beidseitigen Hüftgelenksbefund angesetzte GdB von 10 sowie für den Kniegelenksbefund rechts und Sprunggelenksbefund rechts angesetzte GdB von jeweils 10 gingen in dem GdB von 30 des Wirbelsäulenbefundes auf. Das rechte Kniegelenk lasse sich in einem fast völlig normalen Ausmaß frei bewegen. Das Bewegungsausmaß beider Hüftgelenke sei gut, nur das Bewegen in den Endstellungen sei schmerzhaft. Die am 02.08.1985 erlittene Außenknöchelfraktur des rechten Fußes habe zu einer Einschränkung der Bewegungsfunktion um 1/3 geführt, die Wadenmuskulatur sei aber nur minimal schwächer als an der Gegenseite. Das klinisch beobachtete Gangbild sei auf ebenem Boden komplikationslos.

Wegen der beim Kläger diagnostizierten Persönlichkeitsstörung hat der Senat ein weiteres Gutachten durch die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dipl.-Medizinerin L. eingeholt. Diese hat in ihrem Gutachten vom 01.12.2003/05.05.2004 eine schwere schizophrene Psychose mit chronischen Verfolgungsideen und akustischen Halluzinationen festgestellt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF bejaht. Zwar mache der Kläger täglich Einkäufe und gehe zum Dart-Club, er könne aber aufgrund seiner psychiatrischen Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen, da die psychische Erkrankung eine psychotische Dekompensation bei Stressbelastung erwarten ließe. Man müsse davon ausgehen, dass der Kläger bei Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch seine paranoiden Verkennungen eine erhebliche motorische Unruhe entwickle. Lautes Sprechen und auch aggressives Verhalten seien zu erwarten.

Der Beklagte hat sich mit Stellungnahmen der Ärztin für Psychiatrie Dr.F. vom 16.01.2004 und des Neurologen und Psychiaters Priv.Doz. Dr.K. vom 08.06.2004 gegen das Gutachten der Diplommedizinerin L. gewandt. Im Hinblick darauf, dass der Kläger allein lebe, sich selbst versorge, Einkäufe selbstständig tätige, zu einem Dart-Club gehe und dort Bekannte treffe, sei davon auszugehen, dass er auch an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne.

Mit einem am 14.03.2005 beim Senat eingegangenen Schreiben hat der Kläger beantragt, ihm neben den Merkzeichen G und RF auch die Merkzeichen B und H zuzuerkennen.

Der Beklagte hat sich in der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2005 einer Klageerweiterung iS einer Klageänderung widersetzt. Auf Hinweis des Senats, dass nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3-3870 § 4 Nr 26) auch demjenigen Behinderten das Merkzeichen RF zuzuerkennen ist, der wegen einer psychischen Störung ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann und diese Voraussetzungen nach den Ausführungen der Sachverständigen L. beim Kläger vorliegen, hat der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF anerkannt und sich bereit erklärt, einen Bescheid über die Gewährung des Merkzeichens RF ab Antragstellung zu erteilen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 09.01.2002 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 28.12.2000 idF des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2001 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G, B, H und RF festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialge richts Bayreuth vom 09.01.2002 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Schwerbehindertenakten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die hinsichtlich der Merkzeichen G und RF eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Die Voraussetzungen für die Gewährung des Merzeichens RF liegen beim Kläger vor, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G sind jedoch zu verneinen.

Die am 14.03.2005 beantragte Zuerkennung der Merkzeichen B und H stellt eine unzulässige Klageänderung iSd § 99 Abs 1 SGG dar. Die Berufung ist insoweit zurückzuweisen. Denn der Beklagte hat in die Klageänderung nicht eingewilligt und der Senat hat sie nicht für sachdienlich gehalten, weil es sich bei den begehrten Merkzeichen B und H um selbstständige Streitgegenstände handelt, über die der Beklagte verwaltungsmäßig noch nicht entschieden hat.

Das Merkzeichen RF ist dem Kläger zuzuerkennen. Dieses ist in den Ausweis einzutragen, wenn der Schwerbehinderte die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Da die Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF anerkannt hat (§§ 153 Abs 1 § 202 SGG iVm §§ 307, 313 b ZPO), der Kläger jedoch dieses Anerkenntnis nicht angenommen hat (vgl § 101 Abs 2 SGG), war der Beklagte durch (Teil-)anerkenntnisurteil dem Anerkenntnis gemäß zu verurteilen (§ 307 Abs 1 ZPO). Insoweit bedarf es nicht des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe (§ 313 b Abs 1 ZPO). Deshalb sieht der Senat von einer Begründung hinsichtlich der Gewährung des Merkzeichens RF ab.

Der Kläger erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Der Kläger muss in seinem Gehvermögen durch seine Gesundheitsstörungen so stark eingeschränkt sein, dass er Wegstrecken, die im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, nicht mehr zu bewältigen vermag. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gilt als ortsübliche Wegstrecke eine Strecke von 2 km, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (BSG SozR 3870 § 59 Nr 1). Die Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, ist anhand der tatsächlichen Auswirkungen der medizinisch festgestellten Funktionsausfälle zu beurteilen.

Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004 (AHP 2004, RdNr 30, S 137 - 139) sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB um wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Bei inneren Leiden ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit einer Einschränkung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 der Anhaltspunkte gegeben (aaO RdNr 26.9, S 71 - 72). Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens G können auch vorliegen, wenn sich Behinderungen auf orthopädischem und internistischem Gebiet verstärken (so BayLSG, Urteil vom 16.10.1996, L 11 Vs 93/95).

Aus orthopädischer Sicht liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nach den Feststellungen des vom Senat gehörten Sachverständigen Dr.D. nicht vor. Danach ist der Kläger aufgrund des festgestellten klinischen Befundes seiner Gehfähigkeit in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder auch ohne Gefahren für sich oder andere Personen Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt werden (2 km in etwa 30 Minuten). Die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet werden von Dr.D. insgesamt lediglich mit einem GdB von 30 bewertet. Bei der Untersuchung war das klinisch beobachtete Gangbild auf ebenem Boden komplikationslos. Zwar war die Bewegungsfunktion des rechten Fußgelenkes um ein Drittel nach Außenknöchelfraktur vom 02.08.1985 eingeschränkt. Die Wadenmuskulatur war jedoch nur minimal schwächer als an der Gegenseite. Dies spricht nach den Feststellungen des Dr.D. für eine etwa gleichmäßige Belastung beider Beine. Im rechten Kniegelenk fand sich zwar ein Kniescheiben-Verschiebeschmerz, aber eine stabile Bandverbindung und kein Gelenkerguss. Das Kniegelenk ließ sich in einem fast völlig normalen Ausmaß frei bewegen. Das Bewegungsausmaß beider Hüftgelenke war gut. Auch die Behinderungen auf internistischem Gebiet (chronische Bronchitis, Lungenfunktionseinschränkung und Magenerkrankung) sind nicht so gravierend, dass sich hieraus eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit ableiten ließ. Die anerkannte chronische Bronchitis mit Lungenfunktionseinschränkung ist vom Beklagten lediglich mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Die mit einem Einzel-GdB von 10 eingeschätzte Magenerkrankung hat keine Auswirkungen auf die Gehfähigkeit. Der Sachverständige Dr.T. konnte keine Einschränkungen der Gehfähigkeit durch diese Behinderungen feststellen.

Der Beklagte wird - wie in der mündlichen Verhandlung zugesagt - noch über die beantragten Merkzeichen B und H rechtsbehelfsmäßig entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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