L 19 R 693/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 RJ 843/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 693/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 30.10.2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Bewilligung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.

Der 39-jährige Kläger trinkt seit seinem 18.Lebensjahr exzessiv Alkohol. Straffällig wurde er wegen pädophiler homosexueller Handlungen. Seit 26.11.2002 befindet er sich wieder im Strafvollzug, nach seinen Angaben bis 04.11.2006.

Am 11.05.2000 beantragte der Kläger medizinische Leistungen für Abhängigkeitskranke (Alkoholentwöhnung). Die Beklagte nahm den Sozialbericht der psychosozialen Beratungsstelle L. bei. Nach Beinahme eines Befundberichtes der Allgemeinmediziner Dres.B./V. ließ die Beklagte den Kläger durch die Neurologin und Psychiaterin Dr.S. untersuchen. Diese vertrat im Gutachten vom 05.06.2000 die Auffassung, es sei aus nervenärztlicher Sicht nicht davon auszugehen, dass eine - erneute - Entwöhnungsbehandlung zur Alkoholabstinenz mit dauerhafter Wiedereingliederung in das Erwerbsleben führen würde. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14.07.2000 und Widerspruchsbescheid vom 08.11.2000 die Bewilligung der beantragten Leistung ab, weil es nach ihren Feststellungen beim Kläger an der erforderlichen Krankheitseinsicht bzw. an der aktiven Mitarbeit fehle. Ein Erfolg der Entwöhnungsbehandlung sei daher nicht zu erwarten.

Seine dagegen erhobene Klage hat der Kläger u.a. damit begründet, dass das Landgericht W. ihm aufgegeben habe, sich ernsthaft um die Aufnahme in eine stationäre Alkoholentwöh- nungstherapie zu bemühen und diese anzutreten, sobald eine Kostenzusage und eine Aufnahmezusage vorliege.

Auf Veranlassung des Sozialgerichts Würzburg (SG) hat Prof. Dr.K. das psychiatrische Gutachten vom 12.05.2003 erstattet. Bezüglich der Prognose einer Alkoholentwöhnung hat der ärztliche Sachverständige ausgeführt, die vom Kläger dargestellten eigenen Vorstellungen bezüglich einer psychiatrisch-psychotherapeutischen bzw. suchttherapeutischen Behandlung ließen keine Hoffnung dahingehend aufkommen, dass eine solche Behandlung von Erfolg gekrönt sein könnte. Es sei nicht zu erwarten, dass mit einer kürzer- oder auch längerfristigen stationären Alkoholentwöhnungsbehandlung eine langfristige Abstinenz beim Kläger zu erzielen sei. Eine stationäre Heilbehandlung werde daher nicht empfohlen.

Dieser Beurteilung hat sich das SG angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 30.10.2003 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist das SG davon ausgegangen, dass in Übereinstimmung mit der Beurteilung der Beklagten und des ärztlichen Sachverständigen die beantragte Alkoholentwöhnungsbehandlung zum jetztigen Zeitpunkt wegen nicht ausreichender Motivation nicht erfolgversprechend sei. Das SG hat auf die Begründung in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten Bezug genommen.

Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Er hält die Entscheidung des SG für völlig weltfremd. Die Auffassung des SG, es liege keine ausreichende Motivation vor und eine Alkoholentwöhnungsbehandlung führe bei ihm nicht zum Erfolg, sei eine höchst ominöse Behauptungsthese, die sich auf einen Auftragsgutachter stütze. Ein "externes Gutachten" käme bei ihm zum gegenteiligen Ergebnis.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des SG Würzburg vom 30.10.2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.11.2000 zu verurteilen, ihm als Leistung der medizinischen Rehabilitation eine Alkoholentwöhnungsbehandlung zu gewähren, hilfsweise ihn unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist die Beklagte auf die erstinstanzielle Urteilsbegründung und die Ausführungen im angefochtenen Bescheid bzw. Widerspruchsbescheid.

Beigezogen zum Verfahren sind neben den Streitakten erster und zweiter Instanz die Verwaltungsunterlagen der Beklagten und insgesamt 13 Klageakten des SG Würzburg und drei Berufungs- bzw. Beschwerdeakten des BayLSG. Wegen der Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).

Das Rechtsmittel erweist sich jedoch als unbegründet. Das SG hat im angefochtenen Urteil vom 30.10.2003 zu Recht die Gewährung einer medizinischen Maßnahme der Rehabilitation in Form einer Alkoholentwöhnungsbehandlung abgelehnt. Denn die hierfür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen sind nicht gegeben.

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbringen die Rentenversicherungsträger nach den §§ 9 ff SGB VI, um den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern. Die persönlichen Voraussetzungen für die Bewilligung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen sind in § 10 SGB VI geregelt. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift sind sie erfüllt bei Versicherten,

1. deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und

2. bei denen voraussichtlich

a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation abgewendet werden kann,

b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wieder hergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann,

c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann.

Der Rentenversicherungsträger bestimmt bei Vorliegen der persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen die im Einzelfall gebotenen Einzelheiten der Rehabilitationsleistungen nach pflichtgemäßem Ermessen. Demnach haben die Rentenversicherungsträger von den ihnen gegebenen Möglichkeiten im Sinne des Gesetzes Gebrauch zu machen. Die Rechtsanwendung steht unter den zwingenden Geboten des Rechtsstaates, insbesondere des Gleichheitssatzes. Sie haben nach § 39 SGB I ihr Ermessen entsprechend dem Gesetz der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten; auf pflichtgemäße Ausübung dieses Ermessens besteht ein Anspruch.

Im Rahmen des § 15 SGB VI kann ein Rentenversicherungsträger als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation alkoholkranken Versicherten eine Entwöhnungsbehandlung in Spezialeinrichtungen einschl. der erforderlichen Unterkunft und Verpflegung gewähren. Die Ziele dieser Rehabilitation bestehen innerhalb des Rahmens der persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI im Erreichen und Erhalten der Abstinenz, in der weitgehenden Behebung oder im Ausgleich von körperlichen oder seelischen Störungen und in der möglichst dauerhaften Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft. Vor Bewilligung einer entsprechenden Rehabilitationsmaßnahme ist jedoch eine Prognose bezüglich des zu erwartenden Behandlungserfolges zu stellen. Dabei sind zu berücksichtigen die Motivation des Versicherten, die soziale Situation, die bisherige Entwicklung des Suchtverhaltens und der somatische und psychische Befund. Diese Prognosekriterien sollen die Entscheidung darüber erleichtern, ob eine Rehabilitationsleistung notwendig und erfolgversprechend erscheint. Im Zusammenhang mit der zu treffenden Indikationsentscheidung soll die für den Versicherten geeignete Behandlungsform auf der Grundlage der für die Prognose erhobenen Informationen und unter Berücksichtigung des im Einzelfall zur Verfügung stehenden Behandlungsangebots ausgewertet werden.

Die Überprüfung des Senats im vorliegenden Fall hat jedoch ergeben, dass die Beklagte zu Recht die Durchführung einer Alkoholentwöhnungsbehandlung des Klägers für nicht erfolgversprechend angesehen und deswegen abgelehnt hat. Diese auf Grund der Ausführungen der Neurologin und Psychiaterin Dr.S. vom 05.06.2000 getroffene Entscheidung wurde durch die Ermittlungen des SG in vollem Umfange bestätigt. Denn auch der vom SG gehörte ärztliche Sachverständige Prof. Dr. K. hat im Gutachten vom 12.05.2003 überzeugend dargelegt, dass die Prognose im Fall des Klägers negativ ist. Die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Alkoholentwöhnungsbehandlung durch die Beklagte liegen daher nicht vor. Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass im Sozialbericht der psychosozialen Beratungsstelle Lohr die entsprechende Motivation des Klägers für die Durchführung einer Langzeitmaßnahme bejaht wurde. Denn diese Auffassung wurde durch die Untersuchungen und Begutachtungen von Frau Dr.S. und Prof. Dr.K. widerlegt. Schließlich weist der Senat auch darauf hin, dass der vom SG gehörte ärztliche Sachverständige Prof. Dr.K. von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität W. keinerlei arbeitsrechtliche oder persönliche Verbindungen zur Beklagten oder zum SG hat, so dass der Kläger den Sachverständigen zu Unrecht einen "Auftragsgutachter" nennt.

Nach alledem lagen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung der vom Kläger beantragten Maßnahme der medizinischen Rehabilitation nicht vor. Die Aussagen über die Erfolgsaussicht der begehrten Rehabilitationsmaßnahme sind prospektiv zu machen, d.h. dass eine positive Aussage im Zeitpunkt der Entscheidung zu den Leistungsvoraussetzungen gehört, es muss also der Zustand der Erwerbsfähigkeit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag oder die Anregung und bezogen auf einen Zeitpunkt, in dem der Erfolg erreicht werden soll, beurteilt werden. Für einen späteren Zeitpunkt, insbesondere nach dem Strafantritt am 26.11.2002 ist die begehrte Rehabilitationsmaßnahme gemäß § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI gesetzlich ausgeschlossen.

Bei dieser Sachlage ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte bei ihrer ablehnenden Entscheidung die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass auch die Berufung des Klägers erfolglos blieb.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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