L 1 RJ 135/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 4 RJ 630/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 RJ 135/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2003 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2003 verwiesen. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger habe u. a. keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Da nach den übereinstimmenden Einschätzungen des Internisten Prof. Dr. S., des Neurologen/Psychiaters Dr. L. und des Orthopäden P. noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen bei erhaltener Wegefähigkeit und der Fähigkeit, Hemmungen gegenüber einer Arbeitstätigkeit zu überwinden, bestehe, liege Erwerbsunfähigkeit nicht vor. Die Beurteilung der im gerichtlichen Verfahren tätig gewordenen medizinischen Sachverständigen stimme mit den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten auf internistischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet überein. Der Kläger könne daher auf Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitmarktes verwiesen werden. Eine konkrete Verweisungstätigkeit sei nicht zu benennen, da weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine spezifische Leistungsbehinderung vorliege.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger – beschränkt auf die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - Berufung eingelegt. Er trägt vor, das erstinstanzlich eingeholte Gutachten des Neurologen/Psychiaters Dr. L. überzeuge nicht. Dieser habe sein psychisches Befinden nicht einschätzen können, weil er weder Zeuge eines Aggressionsausbruchs geworden sei noch Berichte von Zeugen eines Ausbruchs ausgewertet habe. Ein während der Untersuchung bei dem Orthopäden P. erfolgte Ausbruch zeige, dass sich sein Leiden verschlimmert habe. Daher habe das Sozialgericht zu Unrecht eine weitere Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet abgelehnt. Seine Stimmung sei wechselnd, so dass die Untersuchung auf einen längeren Beobachtungszeitraum ausgedehnt werden müsse, um eine fundierte Einschätzung zu ermöglichen. Soweit Dr. L. zum Ergebnis komme, er könne keine Arbeiten ohne besondere Anforderungen an die psychische Belastbarkeit ausüben, werde sein Leistungsvermögen überschätzt. Vielmehr könne er gar nicht in Kontakt mit anderen Menschen arbeiten, weil er ohne äußeren Anlass Aggressionsanfälle bekomme. Wegen der von Dr. L. festgestellten Schmerzhaftigkeit bei den aktiven Dreh- und Beugebewegungen der Halswirbelsäule, beim Vornüberbeugen sowie bei der Rückbeugungsbewegung sei eine berufliche Tätigkeit ausgeschlossen. Im Übrigen liege eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, weil bei ihm neben Problemen mit den Augen und dem Gehör - die Beweglichkeit des gesamten Oberkörpers (Rücken, Hände, Schulter und Arme) eingeschränkt sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2000 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Juli 1998 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend.

Im Berufungsverfahren sind aktualisierte Befundberichte des behandelnden praktischen Arztes Dr. A. und des Nervenarztes Dr. M. eingeholt worden. Der Psychiater/Psychotherapeut Dr. Y. hat auf Antrag gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Untersuchung das Gutachten vom 3. Januar 2005 erstattet, in dem er zu dem Ergebnis gekommen ist, der Kläger leide unter einer rezidivierenden, derzeit schwer ausgeprägten depressiven Störung sowie den Symptomen einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit impulsiven und aggressiven Zügen. Eine Arbeit könne er nicht aufnehmen, weil er darauf mit körperlichen und Angst- sowie Paniksymptomen reagiere. Die Schwere der Erkrankung zeige sich an der von Landsleuten isolierten Lebensweise des Klägers, der im Übrigen auf die Unterstützung eines Geistlichen angewiesen sei, um seine innere Unruhe und die Grübelzwänge zu ertragen. Wegen panikartiger Attacken könne der Kläger auch öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. Er könne Hemmungen gegenüber einer Arbeitstätigkeit nicht unter zumutbarer Willensanspannung überwinden. Jede Art an ihn gestellter Anforderungen führe zu einer Dekompensation und zur Zunahme der psychischen Symptome. Die Leistungseinschränkungen hätten sich seit dem Überfall im Jahre 1986 zunehmend stärker entwickelt. Seit 1998 sei keine Änderung mehr eingetreten.

Die Beklagte hält das Gutachten nicht für nachvollziehbar. Die erhobenen Befunde stünden in einem Missverhältnis zum Ergebnis der Beurteilung. Das Gutachten widerspreche demjenigen von Dr. L., welcher im Wesentlichen durch die Darlegungen des behandelnden Nervenarztes Dr. M. bestätigt werde.

Im Rahmen der Anhörung zu einer in Erwägung gezogenen Zurückweisung der Berufung durch Beschluss hat der Kläger ergänzend vorgetragen, weder der behandelnde Arzt Dr. M. noch der Gutachter Dr. L. seien zur Beurteilung seiner gesundheitlichen Situation in der Lage. Dr. M. verfüge nicht über Kenntnisse der türkischen Sprache, um sich mit ihm zu verständigen. Dr. L. sei bei der Exploration auf die Übersetzung durch den Prozessbevollmächtigten angewiesen gewesen. Lediglich Dr. Y. habe seine Erkenntnisse auf eine muttersprachliche Unterhaltung mit dem Kläger stützen können.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Akte des Versorgungsamtes nach dem Schwerbehindertengesetz sowie der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Sie sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen, da es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher gehört worden.

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers (vgl. §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz) ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente, weil keine Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsminderung vorliegt.

Auf den Rechtsstreit sind die Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) anzuwenden (§ 300 Abs. 1 SGB VI).

Gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie u.a. erwerbsunfähig sind. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das monatlich 630 Deutsche Mark übersteigt (§ 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger ist nicht erwerbsunfähig, weil keine Leistungseinschränkungen vorliegen, die ein vollschichtiges Leistungsvermögen für zumindest leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen ausschließen. Auch den Senat überzeugen die Ausführungen der im Verfahren tätig gewordenen medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. S., Dr. L. und P ... Sie sind in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Der Senat sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und nimmt auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Dem Gutachten von Dr. Y. vermag der Senat demgegenüber nicht zu folgen. Ohne sich mit den anderen Gutachten auseinanderzusetzen und unter Verneinung einer Verschlimmerung des Leidens in der Zusammenfassung seines Gutachtens ist Dr. Y. wesentlich über die diagnostischen Feststellungen des behandelnden Neurologen/Psychiaters Dr. M. hinausgegangen. Er hat sich nicht damit auseinander gesetzt, dass die anderen Gutachter Zweifel an der psychischen Erkrankung des Klägers geäußert und bewusstseinsnahe Tendenzen konstatiert haben. Seine Einschätzung basiert im Wesentlichen auf verschiedenen Tests, bei denen der Kläger selbsteinschätzende Angaben gemacht hat. Die Ergebnisse hat der Gutachter ohne kritisches Hinterfragen übernommen. Im Übrigen lässt das Gutachten objektivierbare Befunde weitgehend vermissen. Die Leistungseinschätzung ist hauptsächlich mit Vermutungen über Reaktionen begründet, die eintreten würden, wenn der Kläger bestimmten Situationen ausgesetzt würde; der Gutachter hat aber nicht dargelegt, welche Gründe für solche Geschehensabläufe vorliegen sollen.

Auch der Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren vermag eine Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitsrente nicht zu begründen. Für die Beurteilung des (Rest-) Leistungsvermögens bedarf es keiner Beobachtung eines vereinzelten Aggressionsausbruch bzw. der Befragung von Zeugen eines solchen Ausbruchs. Sowohl Dr. L. als auch Dr. Y. haben sich zu einer umfassenden Beurteilung trotz Fehlens eines solchen Ereignisses in der Untersuchungssituation in der Lage gesehen. Gleiches gilt für die Behauptung des Klägers, sein Leiden könne erst auf Basis einer länger dauernden Beobachtung beurteilt werden. Entgegen seiner Auffassung führen fehlende Türkischkenntnisse des Gutachters und des behandelnden Arztes nicht dazu, dass deren Beurteilungen nicht gefolgt werden kann. Der seit 1973 in der Bundesrepublik lebende Kläger hat selbst seine Deutschkenntnisse während seiner letzten beruflichen Tätigkeit als so gut bezeichnet, dass er ohne Schwierigkeiten den Inhalt von mit Dritten geführten Telefongesprächen auf der Polizeiwache nach dem Überfall im Jahre 1986 habe erfassen können. Er dürfte wohl kaum langjährig bei einem Arzt in Behandlung geblieben sein, mit dem er sich nicht ausreichend verständigen kann. Es besteht deswegen kein Anlass, seiner erst jetzt vorgetragenen Behauptung, eine Verständigung zwischen ihm und seinem behandelnden Arzt Dr. M. sei nicht möglich, näher nachzugehen. Zwar mag die Verständigung unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers schwieriger sein als die muttersprachliche Kommunikation, es gibt aber weder Anhalt für Fehler in der Übersetzung durch den (weiter) bevollmächtigten Prozessvertreter des Klägers noch sind insoweit Mängel des Gutachters in Erscheinung getreten oder auch nur substantiiert vorgetragen worden.

Die Hörminderung ist mit einem Hörgerät ausgeglichen und die Sehschwäche ebenfalls ausreichend korrigiert. Die geringen Einschränkungen auf orthopädischem Fachgebiet führen nicht zu einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, denn sie schränken die Möglichkeit, leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, ausweislich der im Gutachten P. dargelegten qualitativen Einschränkungen nicht wesentlich ein.

Da eine Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers in zeitlicher Hinsicht ebenfalls nicht festgestellt werden kann, besteht auch kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Gemäß § 43 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte u.a. Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs (teilweise Erwerbsminderung gemäß Abs. 1) bzw. drei (volle Erwerbsminderung gemäß Abs. 2) Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs. 3). Wegen des bei dem Kläger bestehenden vollschichtigen Leistungsvermögens steht ihm eine solche Rente nicht zu.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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