L 4 KR 59/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 193/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 59/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 11. Februar 2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einem motorgetriebenen Rollstuhlzuggerät.

Die 1960 geborene Klägerin zog sich im Alter von 22 Jahren durch einen Skiunfall eine komplette Querschnittslähmung zu. Während ihr Ehemann vollschichtig arbeitet, ist sie als Sozialpädagogin teilzeitbeschäftigt und entsprechend bei der Beklagten versichert. Pflegegeld wird bezogen. Zur Betreuung ihrer drei Kinder (Jahrgänge 1995, 1997 und 1999) steht an zwei Nachmittagen in der Woche ein Student zur Verfügung. Die Klägerin ist auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen. Sie benutzt einen Handrollstuhl, daneben steht ihr ein behindertengerecht umgebauter Kleinwagen zur Verfügung, den sie selbständig benutzen kann, insbesondere um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Am 24.06.2002 verordnete die praktische Ärztin Dr.E. G. der Klägerin ein mechanisches Rollstuhlzuggerät mit Motorunterstützung "Speedy-Duo" zur Sicherung der Mobilität. Die Anschaffungskosten für ein solches Gerät veranschlagte die Firma Reha-Technik - befristet bis Ende 2002 - auf 4.145,24 EUR. Verbunden mit dem Handrollstuhl lasse sich der gewöhnliche Radius eines Rollstuhlfahrers erheblich ausweiten. Damit fühlt sich die Klägerin in der Lage, ihre sportbegeisterten und bewegungshungrigen Kinder bei deren außerhäuslichen Aktivitäten, insbesondere bei Sport und Spiel zu begleiten.

Die Anschaffungskosten zu übernehmen, lehnte die Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 25.07.2002 ab, weil die Versorgung mit einem solchen Hilfsmittel bei Erwachsenen nicht in ihren Aufgabenbereich falle und rückte auch im Widerspruchsbescheid vom 13.05.2003 von dieser Auffassung nicht ab.

Der dagegen am 16.06.2003 erhobenen Klage gab das Sozialgericht im Urteil vom 11.02.2004 dahin statt, dass es die Beklagte verurteilte, "die Klägerin mit einem Handybike zu versorgen". Darin ist es der klägerischen Argumentation gefolgt, wonach die individuellen Verhältnisse dieses Hilfsmittel erforderlich machen würden. Die Begleitung der Kinder bei ihren Freizeitaktivitäten sei in der besonderen Erziehungslage den Grundbedürfnissen der Klägerin zuzurechnen. Maßgeblich sei, dass sie mit diesem Gerät am üblichen Leben ihrer Familie teilnehmen könne. So sei auch aus den Vorschriften über Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen zu folgern, dass bei der Hilfsmittelversorgung den besonderen Bedürfnissen behinderter Eltern Rechnung zu tragen sei. Deren Erziehungsauftrag erfordere einen größeren Freiraum, als er mit dem bloßen Handrollstuhl bewältigt werden könne.

Gegen das am 26.02.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 04.03.2004 Berufung eingelegt und beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Darin werde sie unrechtmäßig verpflichtet, die im Sozialgesetzbuch aufgezeigten Grenzen der Wirtschaftlichkeit zu überschreiten, weil ein solches Handybike nicht notwendig sei. Zur Erziehung von Kindern in der Familie stünden viele Möglichkeiten zur Verfügung, gemeinsamen Fahrradausflügen könne nur eine untergeordnete Bedeutung zugesprochen werden. Sie stellten kein Grundbedürfnis dar, dem im Rahmen der Hilfsmittelversorgung Rechnung zu tragen wäre, wobei sich die Verpflichtung der Krankenkasse, durch das Teilhabegesetz nicht erweitert habe.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hatte vor dem Sozialgericht zu Protokoll gegeben, dass Hauptbeweggrund für die Anschaffung des Geräts der Umstand sei, dass sie dann mit ihren Kindern beim Fahrradfahren mithalten könne. Ihr Erziehungsauftrag werde durch diese sinnvolle Anschaffung erleichtert, womit sie ihren Kindern Bereiche erschließen könnte, wie sie denen von nicht behinderten Eltern zur Verfügung stünden. Die dazu erforderliche Mobilität gewähre nur das motorbetriebene Handybike, für eine händische Version reichten ihre körperlichen Kräfte nicht aus. Dies bestätigt Dr.G. in einem Attest vom 20.09.2004. Ihr Kleinwagen (Opel Corsa) sei dazu ungeeignet. Aber auch für Bewältigung einfacher Besorgungen würde sie den Motorantrieb benötigen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, deren Beschwerdewert über 500,00 EUR liegt, ist zulässig (§§ 144, 151 SGG) und in der Sache auch begründet.

Die Anschaffung des begehrten Zusatzantriebes, gleichgültig, ob mit Hand oder Motor betrieben, fällt nicht in die Leistungspflicht der Beklagten, auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Erziehungsauftrages der Klägerin gegenüber ihren minderjährigen Kindern.

Zu Recht gehen die Beteiligten und das Sozialgericht davon aus, dass als Rechtsgrundlage für die Versorgung mit dem gewünschten Gerät § 33 SGB V die allein mögliche Rechtsgrundlage bietet. Ebenso besteht richtigerweise Übereinstimmung darin, dass es sich dabei nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt, was den Versorgungsanspruch von vornherein ausschließen würde. Um die Behinderung der Klägerin auszugleichen - allein diese Variante des § 33 Abs.1 SGB V kommt in Betracht -, ist das Gerät, auch bei seiner Charakterisierung als Hilfsmittel, nicht erforderlich, um die durch die Querschnittslähmung bedingte Behinderung auszugleichen. Nach § 1 SGB IX ist es das Ziel jeglicher Leistungen nach dem SGB, behinderten Menschen bei ihrer Teilhabe am Gemeinschaftsleben zu helfen und sie dabei zu fördern. Damit wird aber der Leistungsumfang aus § 33 SGB V nicht erweitert. Mit der dem SGB IX vorangestellten Vorschrift wird der jeweilige Leistungsanspruch aus den einzelnen Sozialgesetzbüchern nicht ausgedehnt, sondern näher beschrieben. Lässt sich der Anspruch auf verschiedene Art und Weise realisieren, vermitteln dafür § 1 SGB IX und Folgevorschriften die Anhaltspunkte. Somit kommt es bei Prüfung des klägerischen Anspruches nur darauf an, ob das Gerät zur Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedarfes erforderlich ist (BSG vom 06.06.2002 - SozR 3-2500 § 33 Nr.44). Dieses allgemeine Bedürfnis ist nur dann anzunehmen, wenn es nicht nur innerhalb eines bestimmten Lebensbereiches (Beruf, Freizeit, Reise) besteht, sondern sich auf das gesamte tägliche Leben bezieht. Dazu ist auch die "elementare Lebensfreiheit" zu zählen (BSG vom 23.07.2002 SozR 3-2500 § 33 Nr.46), die bei gesunden Menschen durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens etc. sichergestellt ist. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in diesem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dient ein behindertengerechtes Fahrzeug nur dem Zweck, einen größeren Radius als Fußgänger zu erreichen, so ist es nicht notwendig, es ist keine elementare Freiheit mehr, die gefördert wird. Nur wenn durch das Fahrzeug ein weitergehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es als Hilfsmittel in Betracht kommen. Ein solches weitergehendes Grundbedürfnis, wie es vom Sozialgericht angenommen worden ist, ist zu verneinen. Wie die Klägerin immer wieder hervorhebt, geht es ihr primär darum, am Wochenende und an drei Tagen in der Woche ihre Kinder bei deren Freizeitaktivitäten zu begleiten und ergänzend, alltägliche Besorgungen zu machen, die außerhalb der Reichweite des Handrollstuhles liegen. Letztes ist allerdings schon weitgehend durch Benutzung des behindertengerecht ausgestatteten Pkw s gewährleistet und hat auch zuvor nicht zu einem entsprechenden Versorgungsantrag bei der Beklagten geführt.

Dass die Begleitung radelnder Kinder schon jahreszeitlich und witterungsbedingt eingeschränkt ist, liegt auf der Hand. Soll ein weiter entferntes Ziel angesteuert werden, wie Spiel- oder Sportplätze, kann die Klägerin diese mit dem Pkw erreichen und dort mit ihren Kindern zusammentreffen. Zwar ist dies möglicherweise etwas umständlicher als das jeweiligen Anmontieren des Zusatzantriebes an den Handrollstuhl, rechtfertigt aber noch nicht schon dessen Anschaffung, denn allein mehr Komfort bei der Handhabung des Hilfsmittels überschreitet das Maß des Erforderlichen bzw. Ausreichenden. Der somit verbleibende Vorgang des Begleitens der radelnden Kinder an bestimmten Tagen im Jahr ist also nicht derart elementar, um es den "Grundbedürfnissen" im oben aufgeführten Sinn zurechnen zu können. Der eigentliche "körperliche Freiraum" (BSG vom 26.03.2003 a.a.O.), wird dadurch nicht vergrößert, sondern es werden gewisse Freizeitaktivitäten ermöglicht, die von radfahrenden Gesunden leicht wahrgenommen werden können. Eine völlige Angleichung an all die Möglichkeiten eines gesunden Versicherten ist aber letztlich durch die Krankenkasse nicht erfüllbar und vom Gesetz her nicht gefordert. Um hier eine Abgrenzung zu finden, hat die oben zitierte Rechtsprechung mit weiteren Nachweisen zu dem Maßstab des "Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums" gegriffen, der hier überschritten würde und für den auch keine Ausnahmeregelung gerechtfertigt ist. Die vom Sozialgericht angenommene Sonderstellung der Klägerin, die die Begleitung der Kinder beim Radeln durch die Mutter als Teil ihres Erziehungsauftrages im Sinne von § 9 SGB IX wertet, ist aber kein besonderes "qualitatives Moment" im Sinne vom BSG vom 26.03.2003 a.a.O. und führt auch nicht zur Leistungspflicht der Beklagten. Aus den in §§ 1626 Abs.2 und 1631 BGB niedergelegten elterlichen Erziehungspflichten und den ihnen dafür eingeräumten Handlungsmöglichkeiten, wie der Erziehungsauftrag umgesetzt wird, folgt im vorliegenden Fall nicht die Pflicht der Beklagten, ihrer Versicherten bestimmte, nur gelegentlich ausführbare Erziehungsmaßnahmen zu ermöglichen. Im Alltagsleben einer halbtags berufstätigen Mutter dreier Kinder handelt es sich hier nur um Randbereiche, in denen die Klägerin zurückstehen muss. Wie oben dargelegt, ist der gesetzliche Auftrag an die Krankenkasse, bestehende Behinderungen auszugleichen, nicht derart weit ausgelegt. Das mütterliche "Bedürfnis" (vgl. § 9 Abs.1 Satz 3 SGB IX) ihre Kinder auch durchgehend bei solchen Unternehmen zu begleiten, lässt sich nur innerhalb des Leistungsumfanges des § 33 SGB V berücksichtigen, kann ihn aber nicht erweitern.

Im Hinblick auf das endgültige Ergebnis kann die Beklagte nicht verpflichtet werden, die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu übernehmen (§ 193 SGG). Die getroffene Entscheidung befindet sich in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung, insbesondere zur Abgrenzung des § 33 SGB V zum SGB IX, so dass kein Anlass besteht, die Revision nach § 160 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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