S 13 AL 151/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Bayreuth (FSB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AL 151/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
I. Der Bescheid der Beklagten vom 19.1.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.3.2004 wird aufgehoben. Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger beginnend ab 2.1.2004 Arbeitslosengeld zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger ab dem 2.1.2004 den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung gestanden und Anspruch auf Arbeitslosengeld hat (§ 30 SGB I; §§ 117, 119 SGB III).

Der Kläger ist tschechischer Staatsangehöriger und wohnt ca. 40 km von der deutschen Grenze entfernt in M. in Tschechien. Er meldete sich beim Arbeitsamt M. am 19.12.2003 arbeitslos und beantragte die Leistung von Arbeitslosengeld. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich noch in einem Arbeitsverhältnis bei der F. Hoch- und Tiefbau GmbH in S., das ihm allerdings von Arbeitgeberseite am 25.8.2003 zum 1.1.2004 gekündigt worden war. Laut vorgelegter Arbeitsbescheinigung war der Kläger seit 1992 mit wiederkehrenden Unterbrechungszeiträumen von ca. 2 1/2 - 4 Monaten für die F. GmbH tätig gewesen, in den letzten Jahren vom 2.5.2001 - 1.1.2002, 8.4.2002 - 1.1.2003 und vom 22.4.2003 - 1.1.2004. In dem Betrieb bzw. in der Betriebsabteilung, in der der Kläger beschäftigt gewesen war, wurden jährlich wiederkehrend Arbeitnehmer wegen einer Produktionssteigerung für eine zusammenhängende Zeit von mind. 4 Monaten, aber weniger als zwölf Monaten beschäftigt.

Der Kläger gab gegenüber der Beklagten an, daß er über deutsche Sprachkenntnisse, die eine problemlose Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt erwarten lassen, verfüge und daß der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in Deutschland liege, da seine Tochter in Deutschland verheiratet und sein Enkel Deutscher sei. Über eine in der Bundesrepublik abgeschlossene Berufsausbildung verfüge er allerdings nicht. Der Kläger legte zudem eine Bescheinigung der Gemeinde M. vor, wonach er dort kein Arbeitslosengeld und keine Sozialhilfe bezog.

Mit Bescheid der Beklagten vom 19.1.2004 wurde der Antrag des Klägers abgelehnt. Der Bescheid wurde darauf gestützt, daß der Kläger nicht arbeitslos sei, da bei ihm das Merkmal der Beschäftigungssuche nicht vorliege.

Gegen den Bescheid der Beklagten legte der Kläger am 26.1.2004 Widerspruch ein. Er wies darauf hin, daß vier seiner Arbeitskollegen, die ebenfalls tschechischer Staatsangehörigkeit und beim Arbeitsamt S. arbeitslos gemeldet seien, Arbeitslosengeld bezögen.

Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid der Beklagten vom 17.3.2004 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95) ausgeführt, daß Grenzgänger wie der Kläger Anspruch auf Arbeitslosengeld nur haben könnten, wenn sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt vermittelbar seien. Kriterien dafür seien das Vorhandensein deutscher Sprachkenntnisse, eine in der Bundesrepublik Deutschland absolvierte Berufsausbildung, in welchem Staat der Mittelpunkt der Lebensinteressen liege und ob das Erwerbsleben ganz oder überwiegend in der Bundesrepublik Deutschland verbracht wurde. Bei der Beantwortung der Frage nach dem Schwerpunkt des Erwerbslebens sei in Anlehnung an § 127 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III von einem Zeitraum von sieben Jahren auszugehen. Demnach habe ein Arbeitsloser sein Erwerbsleben überwiegend in der Bundesrepublik Deutschland verbracht, wenn er in diesem Zeitraum mehr als 3 1/2 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt gewesen sei. Da der Kläger als Saisonarbeitnehmer beschäftigt gewesen sei, gelte diese Regelung für ihn aber nicht. Auch läge der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in Tschechien, da er zu diesem Land weitaus engere Kontakte pflege. Daher bestünden beim Kläger keine durchgreifenden Bindungen zum deutschen Arbeitsmarkt; der Kläger könne keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend machen.

Am 22.3.2004 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Bayreuth erhoben. Er trägt u.a. vor, daß er seit 12 Jahren bei der gleichen Firma und damit auch in den letzten 7 Jahren überwiegend in Deutschland beschäftigt gewesen sei. Seine Sprachkenntnisse reichten aus, um sich problemlos auf Baustellen und in Geschäften auf Deutsch zu verständigen. Zudem habe er sich in seiner Baufirma von einer "Bauhilfskraft" zum "Facharbeiter für Tief- bzw. Straßenbau und Vermessungstechnik" hochgearbeitet. Zur Förderung seiner beruflichen Entwicklung nehme er jedes Jahr an Fortbildungsseminaren seines Arbeitgebers teil. Seine sozialen Kontakte in Deutschland und Tschechien seien als gleichwertig anzusehen. An Arbeitstagen sei er in Normalfall von 5.00 bis ca. 19.00 Uhr von zuhause fort und im Durchschnitt halte er sich an jedem zweiten Wochenende in Deutschland auf. Eine seiner beiden Töchter lebe mit ihrem Mann und ihrem Sohn in B. Er habe auch Bekannte in B. und C., die er besuche.

Am 23.3.2005 fand vor dem Sozialgericht Bayreuth ein Termin zur Erörterung des Rechtsstreits statt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.1.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.3.2004 zu verurteilen, ihm beginnend ab 2.1.2004 Arbeitslosengeld zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat über die berufliche Tätigkeit des Klägers bei der F. Hoch- und Tiefbau GmbH Beweis erhoben durch Einvernahme der Geschäftsführerin Frau S. F. Diese hat im Erörterungstermin u.a. erklärt, daß der Kläger zum 19.4.2004 wieder bei der F. GmbH eingestellt worden ist.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift, der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Da die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, macht das Gericht gem. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Die Beteiligten wurden zuvor gehört.

Die Entscheidung ergeht in Gestalt eines Grundurteils (§ 130 SGG).

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 19.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.3.2004 ist rechtswidrig. Der Kläger hat für den Zeitraum ab 2.1.2004 Anspruch auf Arbeitslosengeld. Der Umstand, daß der Kläger seinen Wohnsitz in Tschechien hat, steht dem nicht entgegen, da der Kläger die Voraussetzungen der §§ 117 ff SGB III erfüllt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 30.12.1999 (1 BvR 809/95) festgestellt, daß § 30 SGB I im Hinblick auf Art. 3 (1) GG einer einschränkenden Auslegung bei Personen mit grenznahem Auslandswohnsitz, die im Inland beschäftigt und versichert sind (Grenzgänger), bedürfe. Diesen Personen dürfe nicht mit Hinweis auf ihren Auslandswohnsitz der Anspruch auf Arbeitslosengeld verwehrt werden, wenn im übrigen alle Voraussetzungen nach §§ 117 ff SGB III gegeben seien. Zu diesen Voraussetzungen gehörten v.a. die subjektive und objektive Verfügbarkeit (Beschäftigungssuche i.S.d. § 119 SGB III) bezogen auf den inländischen Arbeitsmarkt. Ob eine Person vermittlungsfähig ist, lasse sich insbesondere anhand der Sprachkenntnisse, persönlichen Bindungen und des Verlaufs des bisherigen Berufs- und Erwerbslebens objektivieren.

Der Kläger wohnt in Tschechien in dem von der deutsch-tschechischen Grenze ca. 40 km entfernten M. Er pendelte während seiner Beschäftigung bei der F. Hoch- und Tiefbau GmbH täglich mit dem Auto nach S. Für das seit 22.4.1992 bestehende Beschäftigungsverhältnis wurden Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet. Der Kläger ist somit als Grenzgänger i.S.d. zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen.

Er erfüllt auch die Voraussetzungen der §§ 117 ff SGB III.

Gem. § 117 (1) SGB III hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er arbeitslos ist, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

Der Kläger hat sich am 19.12.2003 bei der Beklagten zum 2.1.2004 arbeitslos gemeldet. Aufgrund des Umstandes, daß er jährlich wiederkehrend gekündigt und eingestellt wurde und in dem Betrieb bzw. der Betriebsabteilung, in der er beschäftigt war, Arbeitnehmer jährlich wiederkehrend wegen einer Produktionssteigerung beschäftigt wurden, ist davon auszugehen, daß er Saisonarbeitnehmer i.S.d. §§ 123 S. 1 Nr. 3, 434j (2) SGB III i.V.m. § 1 (2) Anwartschaftszeit-Verordnung ist. Dies kann aber letztlich hier dahingestellt bleiben, da der Kläger auf Grund der in der Arbeitsbescheinigung der F. GmbH angegebenen Versicherungszeiten in jedem Fall die Anwartschaftszeit gem. §§ 123, 124 i.V.m. § 434j (2) SGB III erfüllt. Der Kläger ist im streitigen Zeitraum auch arbeitslos gewesen. Er war beschäftigungssuchend i.S.d. § 119 SGB III.

Der Kläger konnte insbesondere von seinem Wohnort in Tschechien aus den Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten. Das zuständige Arbeitsamt M. ist von seinem Wohnort ca. 58 km entfernt und für ihn zu den üblichen Öffnungszeiten täglich erreichbar. Das belegen auch die täglichen Pendelfahrten des Klägers zu seinem Arbeitsplatz im entfernter gelegenen S. Die Beklagte hat an der Erreichbarkeit des Klägers keine Zweifel geäußert.

Der Kläger ist entgegen der Auffassung der Beklagten i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG a.a.O.) als verfügbar bzw. als auf dem deutschen Arbeitsmarkt vermittelbar zu sehen.

Die von der Beklagten aufgestellten Kriterien für die Vermittelbarkeit von Grenzgängern finden zumindest in ihrer Absolutheit keine Grundlage in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So spricht der Verlauf des bisherigen Berufslebens nicht nur dann (i.S. dieser Rechtsprechung) für eine Vermittelbarkeit, wenn der arbeitslose Grenzgänger eine Berufsausbildung in Deutschland absolviert hat. Zu beachten ist vielmehr auch, ob sich der Arbeitslose in der Bundesrepublik berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet hat, die für die heimischen Arbeitgeber von Bedeutung sind. Des weiteren können persönliche Bindungen eines arbeitslosen Grenzgängers i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur dann gegeben sein, wenn der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Bundesrepublik Deutschland liegt. Denn die Grenzgängereigenschaft ist gerade durch das Vorhandensein eines Wohnsitzes im Ausland und damit in der Regel durch einen Lebensmittelpunkt jenseits der Staatsgrenzen der Bundesrepublik bedingt. Somit liegen berücksichtigungsfähige soziale Bindungen zur Bundesrepublik bereits dann vor, wenn diese über das hinausgehen, was aufgrund des grenznahen Wohnsitzes und der im Inland ausgeübten Erwerbstätigkeit noch als üblich anzusehen ist. Schließlich ist es für das Gericht nicht nachvollziehbar, warum nach Auffassung der Beklagten Zeiten einer Erwerbstätigkeit, die im Rahmen einer wiederkehrenden Beschäftigung als Saisonarbeiter angefallen sind, unter dem Gesichtspunkt "Verlauf des bisherigen Erwerbslebens" keine Beachtung finden sollen. Dieser Standpunkt findet nicht nur keine Grundlage in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr ergibt sich aus dem Gesetzeszusammenhang eindeutig, daß eine Tätigkeit als Saisonarbeiter keine Bedeutung für die Frage der Vermittelbarkeit bzw. Verfügbarkeit während einer sich daran anschließenden Arbeitslosigkeit entfaltet (vgl. § 117 (1) Nr. 3 i.V.m. §§ 123 S. 1 Nr. 3, 434j (2) SGB III).

Bei Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte spricht für die Vermittelbarkeit des Klägers, daß er die für eine Tätigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt notwendigen Sprachkenntnisse besitzt. Davon hat sich das Gericht im Erörterungstermin am 23.3.2005 selbst überzeugen können. Die Dienste der anwesenden Dolmetscherin hat der Kläger nur in Anspruch genommen, soweit es um kompliziertere, insbesondere juristische Fragen bzw. um prozessuale Handlungen ging. Auch die erfolgreiche Absolvierung von Fortbildungsseminaren in seinem Beruf zeugen vom Vorhandensein zumindest ausreichender Deutschkenntnisse. Der Kläger unterhält zudem persönliche Bindungen nach Deutschland. Eine seiner beiden Töchter und ein Enkel leben in Deutschland. An den Wochenenden besucht er aber nicht nur diese, sondern auch Bekannte in B. und C. Seine sozialen Kontakte nach Deutschland erschöpfen sich somit keinesfalls in der Ausübung der beruflichen Tätigkeit bei der F. GmbH oder im üblichen Grenzverkehr (Einkaufsfahrten, Ausflüge). Schließlich spricht auch der Verlauf des bisherigen Berufs- und Erwerbslebens des Klägers, wie er sich aus den Akten und den glaubhaften Angaben der Zeugin F. ergibt, dafür, daß der Kläger auf dem deutschen Arbeitsmarkt vermittelbar ist. Der Kläger ist seit mittlerweile 13 Jahren - zum 19.4.2004 wurde er wieder eingestellt - für denselben Arbeitgeber im Durchschnitt 9 Monate jährlich tätig. Er hat somit die letzten 13 Berufsjahre überwiegend - wenn nicht sogar ausschließlich - in Deutschland verbracht. Die Ausstellung wegen schlechter Auftragslage zu Beginn eines jeden Jahres betrifft die deutschen Arbeitskollegen des Klägers in gleicher Weise und ist für die Baubranche typisch. Darüber hinaus hat der Kläger während seiner Tätigkeit bei der F.r GmbH eine berufliche Entwicklung vom Bauhelfer zum Facharbeiter für Tief- bzw. Straßenbau und Vermessungstechnik bzw. zum Spezialisten durchgemacht. Begleitend dazu hat der Kläger Fortbildungsseminare besucht und dadurch Kenntnisse erworben, die es dem Arbeitgeber u.a. erlauben, mit Hilfe bestimmter Gütesiegel um Aufträge zu werben, auf deren Erhalt ansonsten keine Aussicht bestünde.

Nach alldem besteht für das Gericht kein Zweifel, daß der Kläger auf dem deutschen Arbeitsmarkt vermittelbar ist.

Dem Kläger ist daher unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 19.1.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.3.2004 ab 2.1.2004 Arbeitslosengeld zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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