L 13 VG 38/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 Vg 108/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 38/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bewilligung einer Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i.V.m. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1940 geborene Klägerin wurde am 9. Juni 1993 Opfer einer Gewalttat, als sie auf dem Bahnhof Wünsdorf bei dem Versuch in einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen ihrem Sohn und einem Betrunkenen zu vermitteln, von diesem bewusstlos geschlagen wurde. Der sich anschließende stationäre Aufenthalt im Kreiskrankenhaus Ludwigsfelde vom 9. bis 11. Juni 1993 erbrachte laut Arztbrief vom 11. Juni 1993 ein Schädelhirntrauma ersten Grades, ein stumpfes Bauchtrauma und ein stumpfes Thoraxtrauma.

Auf den Antrag der Klägerin, ihr Leistungen nach dem OEG zu gewähren, veranlasste der Beklagte im Rahmen der medizinischen Ermittlungen u.a. eine nervenärztliche Untersuchung der Klägerin durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G, die diese am 2. November 1995 vornahm. In ihrem Gutachten vom 19. März 1996, dem noch eine internistische Begutachtung durch Dr. D und eine Begutachtung durch die Ärztin für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten Dr. F, jeweils am 2. November 1995, vorausgegangen waren, heißt es nach Auswertung der aus der Anamneseerhebung, aus den Ergebnissen der Untersuchungen und aus weiteren ärztlichen Unterlagen gewonnenen Erkenntnisse u.a., die Klägerin würde die fortlaufende Verschlechterung ihrer körperlichen Befindlichkeit mit dem Ereignis vom 9. Juni 1993 in Zusammenhang bringen. Eine psychische Symptomatik im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung oder reaktive psychische Störungen wären und seien nicht vor-handen. Diesbezügliche Symptome mit inhaltlichem Bezug zum OEG-Ereignis beständen nicht. Falls das geklagte körperliche Schwächegefühl mit Kopfschmerzen und Schwindelgefühl bzw. Ängste vor dem Auftreten dieser Beschwerden tatsächlich vorhanden seien, hätten sich diese auf der Grundlage einer abnormen Persönlichkeitsstruktur entwickelt und fixiert. Somatische und psychische Folgen der Gewalteinwirkung vom 9. Juni 1993 seien nicht vorhanden und demnach nicht zur Anerkennung im Sinne des OEG zu empfehlen.

Durch den Bescheid vom 13. Juni 1996 erkannte der Beklagte daraufhin an, dass die Klägerin am 9. Juni 1993 Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG geworden sei. Hierdurch seien die Gesundheitsstörungen

Schädelhirn-Trauma I,
Blutergüsse im Bereich der Stirn, des linken Jochbeins und des Kinns,
Schmerzen am Brustkorb und Bauch nach Prellung

hervorgerufen worden. Folgen dieser Schädigungen lägen nicht mehr vor, weil die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nur vorübergehender Art gewesen und abgeheilt seien. Wegen dieser Gesundheitsstörungen bestehe ein Anspruch auf Heilbehandlung. Eine Beschädigtenversorgung komme nicht in Betracht.

Der Widerspruch der Klägerin und deren Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1997, Gerichtsbescheid vom 22. April 1998). Das Sozialgericht hat seine Entscheidung auf das Ergebnis der im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen Ermittlungen gestützt, durch die es den Sachverhalt für geklärt ansah.

Gegen den am 10. Juni 1998 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Beru-fung der Klägerin vom 3. Juli 1998. Sie führt die bei ihr durch ihre Hausärzte festgestellten Kopfschmerzen, Depressionen, Atemwegsbeschwerden, Schlafstörungen und panischen Angstzuständen auf die Gewalttat vom 9. Juni 1993 zurück.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 22. April 1998 aufzuheben und den Bescheid vom 13. Juni 1996 in der Gestalt des Widerspruchs bescheides vom 1. Juli 1997 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr aufgrund der anerkannten Gewalt tat vom 9. Juni 1993 wegen Kopfschmerzen, Depressionen, Atemwegsbeschwerden, Schlafstörungen und panischen Angstzuständen eine Beschädigtenrente nach dem BVG i.V.m. dem OEG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von zumindest 30 v.H. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat im Zuge weiterer Ermittlungen Befundberichte des Arztes Dr. M vom 18. Dezember 1998 und des Psychiaters Dipl. med. Li vom 11. Januar 1999 eingeholt und Atteste des Dr. M vom 19. Oktober 1998 und des HNO-Arztes vom 1. Dezember 1998 zur Gerichtsakte genommen. Anschließend hat es den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L zum medizinischen Sachverständigen ernannt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 27. November 1999 zu der Auffassung gelangt, bei der Klägerin lägen aus psychiatrischer Sicht

histrionische Persönlichkeitsstörung,
dissoziative Störungen, gemischt,
anhaltende ängstliche Depression

vor. Keines dieser Leiden sei mit Wahrscheinlichkeit auf die Gewalttat vom 9. Juni 1993 zurückzuführen. Die von der Klägerin angegebenen Beschwerden seien Ausdruck einer Konversionssymptomatik bei histrionischer Persönlichkeitsstörung. Das depressive Syndrom sei vermutlich Ausdruck einer belastenden familiären Situation. Bei der Gewalttat am 9. Juni 1993 habe die Klägerin ein Schädelhirntrauma 1. Grades erlitten. Hierdurch würden keine bleibenden Schäden verursacht. Die typische Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung und auch einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung fände sich nicht.

Wegen der weiteren Ausführung der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte mit dem Gutachten des medizinischen Sachverständigen und auf die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der Entscheidung waren.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte auf Antrag der Beteiligten nach Aktenlage gem. § 126 Sozialge-richtsgesetz - SGG - entscheiden.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenrente aufgrund der anerkannten Gewalttat vom 9. Juni 1993, weil diese keine Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - in rentenberechtigenden Ausmaß verursacht hat.

Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes finden entsprechende Anwendung. Nach §§ 30 Abs. 1, 31 Abs. 1 BVG setzt eine Rentenleistung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von mindestens 30 v.H. voraus. Nach § 30 Abs. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt ist. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Der auf die Klägerin am 9. Juni 1993 verübte tätliche Angriff hat nach den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen Dr. L in seinem Gutachten vom 27. November 1999 keine MdE von mindestens 30 v.H. bewirkt, sodass kein Anspruch auf Versorgung nach § 1 OEG i.V.m. §§ 30, 31 BVG besteht. Die Begutachtung durch Dr. L hat bei der Klägerin für den - hier allein relevanten - psychiatrischen Bereich eine histrionische Persönlichkeitsstörung, dissoziative Störungen, gemischt und eine anhaltende ängstliche Depression erbracht, die nicht mit der für das Versorgungsrecht erforderlichen Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG auf die Gewalttat vom 9. Juni 1993 zurückzuführen sind.

Die Klägerin hatte seinerzeit nach dem Krankenhausbericht vom 11. Juni 1993 ne-ben den durch Schlageinwirkungen verursachten Traumata im Bauch- und Thoraxbereich lediglich eine commotio cerebri 1. Grades erlitten. Soweit mit der Gehirnerschütterung postcommotionelle Störungen verbunden gewesen sein sollten - erwähnt sind sie in dem Arztbrief vom 11. Juni 1993 nicht -, dürften sie innerhalb kürzester Zeit abgeklungen sein, weil sich die Klägerin bereits am 11. Juni 1993 gegen ärztlichen Rat der stationären Behandlung entzogen hat. Der von ihr anschließend am 12. Juni 1993 aufgesuchte Praktische Arzt Dr. M hat ihr dann zwar in seiner ärzt-lichen Bescheinigung vom 19. Oktober 1998 multiple, für die Anerkennung als Schwerbehinderte bedeutsame Leidenszustände bescheinigt, diese jedoch nicht mit dem Überfall vom 9. Juni 1993 in Zusammenhang gebracht. Der schließlich von der Klägerin erstmalig am 1. Dezember 1998, also mehr als fünf Jahre nach dem Vorfall, konsultierte Psychiater Dr. Li hat in seinem Befundbericht vom 11. Januar 1999 zwar seine Behandlung auf den Angriff vom 9. Juni 1993 zurückgeführt, ohne das jedoch zu erläutern. Vielmehr verweist er auf den mit seinem Befundbericht übersandten Entlassungsbericht der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Benjamin Franklin vom 19. Juli 1996, in dem die Klägerin zuvor wegen reaktiv depressiven Syndroms nach dem plötzlichen Tode des Bruders und schwerer histrionischer Persönlichkeitsstörung behandelt worden war. Ein Hinweis auf verbliebene Schäden der commotio cerebri vom 9. Juni 1993 findet sich hier ebensowenig wie in den anderen zur Gerichtsakte gelangten Berichten des Sankt Gertrauden-Krankenhauses und der Ersten Hilfe des Martin Luther Krankenhauses. Dr. Li hat nach den Angaben in seinem Befundbericht vom 11. Januar 1999 keine eigenen Befunde erhoben und auch von der empfohlenen Computertomographie des Schädels abgesehen. Der medizinische Sachverständige Dr. L schließt einen traumatischen Kausalzusammenhang daher zu Recht aus.

Den Senat überzeugt das Gutachten des Dr. L über die psychiatrische Situation der Klägerin auch deshalb, weil die Versorgungsärztin Dr. G in ihrem Gutachten vom 19. März 1996 nach ausgiebigen Befunderhebungen und Untersuchungen in einem sehr ausführlichen, sich mit der Lebensproblematik der Klägerin einfühlsam auseinandersetzenden Gutachten ebenfalls den Eindruck gewonnen hatte, dass bei der Klägerin eine psychische Fehlentwicklung mit Anpassungsproblemen und Begehrensvorstellungen vorliegt. Keine Einhelligkeit besteht nur über die hier nicht relevante Bewertung des Ausmaßes der Persönlichkeitsstörung als Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts, das der Gerichtsgutachter weitaus höher als Dr. G einschätzt. Wie dieser vermochte auch Dr. G die von ihnen erkannten Gesundheitsstörungen im psychiatrischen Bereich nicht auf die an der Klägerin verübte Gewalttat vom 9. Juni 1993 zurückführen.

Bei dieser Sachlage konnte die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben. Sie war mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Ziffn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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