L 8 R 26/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 RA 119/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 26/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 11.01.2005 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Detmold zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte zu Recht zur Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit verurteilt worden ist.

Die am 00.00.1953 geborene Klägerin erlernte nach ihren Angaben von 1968 bis 1971 den Beruf der Konditoreifachverkäuferin. Nach Tätigkeiten als Verkäuferin, Produktionshelferin, Serviererin und Filialleiterin (Bäckereibereich) übte sie - ebenfalls nach ihren eigenen Angaben - zuletzt von September 1997 bis Juli 2001 die Tätigkeit der Leiterin eines Supermarktes der K-Kette aus. Nach Arbeitsunfähigkeit seit dem 13.03.2001 bezog sie ab dem 02.05.2001 Krankengeld, später Leistungen der Arbeitsverwaltung. Ihr wurde nach ihren Angaben ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 zuerkannt.

Am 27.11.2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab an, sie leide seit März 2000 an Rheuma und habe mindestens einmal wöchentlich einen Rheumaschub, dessentwegen sie jeweils für mindestens drei Tage ausfalle.

Die Beklagte, der ein Entlassungsbericht des Zentrums für Rheumatologie T über eine Rehabilitationsmaßnahme vom 03.04. bis 01.05.2001 sowie ein Gutachten des MDK Westfalen Lippe vom 23.04.2002 vorlag, holte ein Gutachten des Orthopäden Dr. U vom 13.01.2003 ein. Dieser gelangte zu der Diagnose Verdacht auf seronegative Polyarthritis. Eine gewisse Ausgestaltung des Beschwerdebildes sei nicht zu übersehen; zwischen subjektivem Beschwerdebild und objektivierbarem Untersuchungsbefund bestehe ein deutliches Missverhältnis. Eine rheumatologische Begutachtung werde anheimgestellt. Nach dem orthopädischen Untersuchungsergebnis könne die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Substitutin im Lebensmitteleinzelhandel (lt. Anamnese 37,5 Wochenstunden, zu ca. 20% organisatorische und leitende Tätigkeit, zu ca. 80% körperliche Tätigkeit wie Auspacken von Waren, Füllen von Regalen, etc.) vollschichtig weiter ausüben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne anhaltende Überkopfarbeiten möglich. Weitere Einschränkungen seien nicht erkennbar.

Mit Bescheid vom 30.01.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Die Klägerin leide an Beschwerden am Bewegungsapparat mit erhaltenem Leistungsvermögen und könne am allgemeinen Arbeitsmarkt sowie im bisherigen Beruf noch mindestens sechs Stunden täglich tätig sein.

Die Klägerin legte Widerspruch ein mit der Begründung, aufgrund einer chronischen Polyarthritis und einer Fibromyalgie könne sie keiner regelmäßigen beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen. Sie leide an ständigen Schmerzen.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. S vom 10.04.2003 ein mit den Diagnosen neurotische Depression mit Somatisierungsstörung; wobei die Skelettproblematik weniger als Fibromyalgie oder als seronegative Polyarthritis zu deuten sei als vielmehr als konversionsneurotische Symptomatik bzw. Somatisierungsstörung im Rahmen der neurotischen Depression. Die Erkrankung sei behandlungs- und besserungsfähig; unter diesem Aspekt sei davon auszugehen, dass die Klägerin als Substitutin oder am allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig sein könne. Es bestehe auch keine Einschränkung des Bewegungs- und Haltungsapparates oder der geistig-psychischen Belastbarkeit.

Die Beklagte holte ferner ein Gutachten des Orthopäden und Sozialmediziners Dr. P, Chefarzt der Abteilung Orthopädie/Rheumatologie der Klinik Q, vom 02.05.2003 ein mit den orthopädischen Diagnosen (1.) chronifiziertes Schmerzsyndrom des Bewegungssystems, Stadium III nach Gerbershagen (= maximale Chronifizierung), differenzialdiagnostisch anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder Fibromyalgiesyndrom, (2.) pseudoradikuläres Lumbalsyndrom mit mäßiger Funktionsbeeinträchtigung und Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule bei Bandscheibendegeneration und Segmentinstabilität L5/S1 und beginnender Spondylarthrose L5/S1 sowie erheblicher übergewichtsbegünstigter myostatischer Dysbalance im Lenden-Becken-Hüft-Bereich mit rezidivierenden arthromuskulären Funktionsstörungen, (3.) pseudoradikuläres Zervikalsyndrom mit rezidivierenden Zervikobrachialgien und -zephalgien bei HWS-Fehlstatik und beginnender Bandscheibendegeneration HWK4/5 und HWK5/6 sowie muskulär-statischem Ungleichgewicht im Schultergürtelbereich mit rezidivierenden arthromuskulären Funktionsstörungen. Als nicht-orthopädische Diagnosen sind aufgeführt (1.) Rezidivstruma nach Strumektomie, Verdacht auf Autoimmunthyreoiditis Hashimoto, (2.) Übergewicht (BMI 28kg/m²), (3.) beginnendes körperliches Dekonditionierungssyndrom sowie (4.) Migräne. Eindeutige Hinweise für eine chronische Polyarthritis/rheumatoide Arthritis seien nicht erkennbar. Auffällig sei bei der Untersuchung eine allgemeine Druckschmerzhaftigkeit vor allem an den gelenknahen Muskel-Sehnen-Ansätzen gewesen bei allerdings subjektiv deutlich erhöhter Schmerzempfindlichkeit und gewissen Verdeutlichungstendenzen. Es habe eine deutliche Diskrepanz zwischen den klinisch und röntgenologisch erhobenen Befunden und den von der Klägerin demonstrierten Funktions- und Bewegungseinschränkungen bzw. Schmerzreaktionen und -äußerungen bestanden. Ein Teil der demonstrierten Funktionsstörungen sei während des Untersuchungsganges zumindest nicht in konstanter Ausprägung zu registrieren gewesen. Zusammenfassend resultiere aus den erhobenen Befunden eine mäßige Funktionsbeeinträchtigung bzw. Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule, die nicht vollständig mit den geklagten Beschwerden und den demonstrierten Bewegungseinschränkungen in Einklang zu bringen sei. Das demonstrierte Schmerz- und Beschwerdeverhalten, die erkennbaren Entlastungs- bzw. Versorgungsansprüche der Klägerin mit Rentenwunsch sowie die insgesamt sehr unbefriedigend verlaufenden Behandlungsversuche und insbesondere die fehlende Schmerzlinderung trotz Einsatzes von zentral wirksamen Analgetika stützten die Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Der Eindruck von Aggravation oder zielgerichteter Simulation habe nicht bestanden. Eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung sei erforderlich (offenbar kannte der Gutachter das Gutachten S nicht). Die Klägerin könne noch körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung (überwiegend sitzend, überwiegend stehend oder überwiegend gehend) vollschichtig verrichten. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt. Nicht zuzumuten seien mittelschwere und schwere Tätigkeiten, insbesondere bei längerdauernder Haltungskonstanz oder Zwangshaltungen für die Wirbelsäule oder erhöhter Rückenbelastung. Regelmäßiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten über 15 kg sei nicht mehr möglich. Vorbeuge- und Rotationsbewegungen des Oberkörpers sowie Bücken seien ebenso einzuschränken wie erhöhte mechanische Beanspruchung der Wirbelsäule durch Vibration oder Erschütterung. Fixierte Zwangshaltungen und erhöhte Belastungen für die Halswirbelsäule, insbesondere Überkopfarbeiten und solche mit ständigen Kopfdrehungen, seien nicht möglich. Nässe, Kälte, Zugluft und Erschütterungen sollten möglichst nicht auftreten. Arbeiten unter Zeitdruck oder mit ständig wechselnden Arbeitszeiten, insbesondere Nachtschichten, seien nicht möglich. Dementsprechend könne die letzte Tätigkeit nicht mehr verrichtet werden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe aber vollschichtige Einsatzfähigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.08.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin könne mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch als kaufmännische Angestellte in einem Servicecenter (hervorgegangen aus den ehemaligen Sammelkassen) eines Kaufhauses vollschichtig tätig sein, ferner mindestens sechs Stunden täglich am allgemeinen Arbeitsmarkt.

Hiergegen hat die Klägerin am 24.09.2003 Klage erhoben und u.a. vorgetragen, die vorliegenden ärztlichen Beurteilungen seien nicht eindeutig bzw. teilweise nicht nachvollziehbar; das Erkrankungsbild sei weiter abzuklären. Sie hat ein Attest des Internisten I vom 15.01.2004 vorgelegt; danach leidet sie an einer chronischen Polyarthritis und einer Fibromyalgie mit therapieresistenten ca. wöchentlichen mehrtägigen Rheumaschüben.

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

den Bescheid vom 30.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an ihrer Entscheidung festgehalten.

Das Sozialgericht hat - als einzige Ermittlungstätigkeit - ein Gutachten des Internisten, Rheumatologen und Sozialmediziners Dr. A vom 01.06.2004 eingeholt. Dieser ist zu folgenden Diagnosen gelangt: (1.) chronifiziertes Schmerzsyndrom bei somatoformer Schmerzstörung, Fibromyalgiesyndrom, (2.) Verdacht auf initiale rheumatoide Arthritis unter vorübergehender immunmodulierender Therapie mit MTX und Cortison, derzeitige Therapie mit Arava (zu den Röntgenbefunden ist jeweils ausgeführt, es bestehe kein Anhalt für eine rheumatoide Arthritis; eine Laborbefundung fehlt), (3.) schmerzhaftes Wirbelsäulensyndrom statisch und degenerativ, ohne radikuläre Symptomatik, (4.) Polyarthralgien im Rahmen der Fibromyalgie, (5.) depressive Stimmungslage, (6.) funktionelle Herzbeschwerden (anfallsweise Herzrhythmusstörungen ohne Herzleistungsminderung), (7.) funktionelle Oberbauchbeschwerden bei rezidivierender Gastroduodenitis, medikamentös mitinduziert, (8.) reizlose Varikosis, (9.) Übergewicht und (10.) Zustand nach Schilddrüsenresektion unter hormoneller Subsitutionstherapie. Vom klinischen Gesamtbild her imponiere ein Fibromyalgiesyndrom in Form eines "Alles-tut-weh-Syndroms" mit therapierefraktären Schmerzen, verstärkt durch ein statisch muskuläres degeneratives Wirbelsäulensyndrom. Es mischten sich psychische und somatische Anteile; in diesem Zusammenhang bestehe auch eine depressive Stimmungslage. Das chronifizierte Schmerzsyndrom wirke sich leistungseinschränkend für mittelschwere und schwere körperliche Tätigkeiten aus; daneben bestünden bestimmte weitere (näher angeführte) Einschränkungen. Das bisher therapierefraktäre Schmerzsyndrom wirke "sich auch qualitativ leistungseinschränkend für eine regelmäßige vollschichtige Tätigkeit für die ... zumutbaren Tätigkeiten aus. Eine leichte körperliche Arbeit mit (den benannten) Funktionseinschränkungen 3- und 6-stündig könne jedoch noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für eine gewisse Regelmäßigkeit ausgeübt werden." Die Klägerin könne zumutbare Tätigkeiten nicht mehr vollschichtig verrichten, begründet "durch das chronifizierte Schmerzsyndrom vielschichtiger Ursache mit somatischen und psychischen Anteilen." Möglich sei noch eine Tätigkeit von drei bis unter sechs Stunden täglich. Die festgestellte Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe schon seit etwa dem Rentenantrag (27.11.2002). Mit den früheren Begutachtungen bestehe zwar jeweils Übereinstimmung, bei ganzheitlicher Betrachtungsweise sei jedoch eine Einschränkung hinsichtlich der zeitlichen Einsatzfähigkeit notwendig.

Die Klägerin hat im Anschluss daran ihr Klagebegehren in vollem Umfang bestätigt gesehen. Die Beklagte hat demgegenüber ausgeführt, die Leistungsbeurteilung durch den Gutachter Dr. A überzeuge nicht. Im Vordergrund stehe eine Schmerzstörung, die charakteristischerweise durch objektive Befunde nicht ausreichend geklärt werden könne. Die Leistungsbeurteilung dürfe sich bei dieser Schwierigkeit nicht überwiegend auf die subjektiven Schilderungen der Klägerin verlassen. Es gehe auch um die Frage, ob die Angaben plausibel nachvollziehbar seien und inwieweit das Schmerzsyndrom alltagsbestimmend geworden sei. Dazu gehöre neben einer detaillierten Verhaltensbeobachtung eine Darstellung der Alltagskompetenzen, ein fachspezifischer psychologischer Befund, die Frage nach psychischer Komorbidität, therapeutische Optionen und mehr. Auch die Frage der Umstellungsfähigkeit sei internistisch-rheumatologisch nicht ausreichend zu klären. Die Begründung für die abweichende Leistungsbeurteilung, nämlich eine ganzheitliche Betrachtungsweise, könne bei der Kürze der Auseinandersetzung mit den Vorgutachten nicht nachvollzogen werden. Es werde die Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens angeregt.

Das Sozialgericht hat daraufhin die Beteiligten darauf hingewiesen, es sei eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt. Der Klage solle i.S. einer Zeitrentengewährung stattgegeben werden; die Darlegungen des Sachverständigen seien substantiiert und beruhten nicht allein auf subjektiven Angaben der Klägerin.

Die Beklagte hat daraufhin erklärt, das rentenrelevant führende Leiden (chronifiziertes Schmerzsyndrom) sei sozialmedizinisch nicht ausreichend aufgeklärt. Eine auch nervenärztliche Begutachtung bleibe auch zur Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden erforderlich.

Mit Gerichtsbescheid vom 11.01.2005 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, ausgehend von einem Leistungsfall bei Antragstellung, bis zum 30.11.2005 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Klägerin sei der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen. Das Gericht gelange zu dieser Überzeugung aufgrund des Gutachtens A, dessen Ausführungen keine Unrichtigkeiten, Widersprüche oder Fehlschlüsse erkennen ließen. Sie seien erkennbar auf der Grundlage der heutigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft erstattet worden und hätten sich eindeutig mit den erhobenen medizinischen Befunden, den aktenkundigen Befunden und dem Vorbringen der Beteiligten auseinandergesetzt.

Gegen den ihr am 14.01.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 04.02.2005 Berufung eingelegt. Sie trägt u.a. vor, das Sozialgericht sei der Empfehlung ihres beratungsärztlichen Dienstes, eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung der Schmerzsymptomatik zu veranlassen, nicht gefolgt. Das Gutachten A stelle keine wesentlichen Funktionsstörungen im Bewegungsapparat fest, welche nicht mit einer leichten körperlichen Arbeit z.B. einer kaufmännischen Angestellten im Büro vereinbar wären. Auch Dr. A halte, wie der rheumatologische Vorgutachter Dr. P, eine rheumatoide Arthritis für wenig wahrscheinlich. Im Vordergrund stehe ein Ganzkörperschmerz mit Druckschmerz nicht nur an den typischen "Tenderpoints", so dass von einer somatoformen Schmerzstörung ausgegangen werden könne. Hierfür spreche auch, dass sämtliche Schmerzmedikamente nicht ausreichend wirksam gewesen seien. Für eine Rentengewährung entscheidend sei dabei nicht die diagnostische Einordnung des Beschwerdebildes, sondern die Beurteilung der Auswirkung der Schmerzen auf die berufliche Leistungsfähigkeit, insbesondere - bei nur geringen Funktionseinschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat - der Auswirkungen der Schmerzen auf die psychomentale Leistungsfähigkeit. Dies falle in das Fachgebiet des Nervenarztes oder Psychiaters. Der neurologisch-psychiatrische Gutachter Dr. S habe eine depressive Stimmungslage ohne Einschränkung von Konzentration und Merkfähigkeit festgestellt. Alltägliche Verrichtungen wie Hausarbeiten (ohne Gardinenwaschen, Fensterputzen, Putzen unter dem Bett und längeres Staubsaugen), auch Kochen und Kuchenbacken (Feinmotorik erforderlich), Spazieren von 30 Minuten, Lesen und Fernsehen sei möglich. Ein wesentlicher schmerzbedingter sozialer Rückzug sei nicht erkennbar. Damit könne eine quantitative Leistungsminderung aufgrund der Schmerzsymptomatik nicht ausreichend begründet werden. Gerade bei der Beurteilung von naturgemäß subjektiven Schmerzen werde eine Plausibilitätsprüfung gefordert. Insoweit sei auf die im Gutachten P festgestellten Verdeutlichungstendenzen, z.T. demonstrativ wirkenden Schmerz- und Abwehrreaktionen bzw. das beschwerdezentrierte Verhalten hinzuweisen. Für eine Verdeutlichung sprächen auch die erstaunlicherweise auch bei lebensnotwendigen Tätigkeiten (Essen, Schlafen, Atmen) im Pain-Disability-Index von der Klägerin angegebenen auffällig hohen Werte, welche aufgrund der Untersuchungsbefunde nicht ausreichend nachvollziehbar seien. Schmerzskalen und Selbstbeurteilungsskalen könnten zwar zur diagnostischen Einordnung und im therapeutischen Prozess hilfreich sein, bezögen sich aber auf subjektive Angaben und reichten zur rentenrechtlichen Leistungsbeurteilung nicht aus. Inkonsistent seien auch die Angaben der Klägerin gegenüber Dr. S, sie habe keine Freunde, und gegenüber Dr. P, ein intakter Freundeskreis sei vorhanden. Die Leistungsbeurteilung könne sich nicht allein auf die subjektiven Angaben der Klägerin stützen. Zu berücksichtigen sei auch, dass bislang psychotherapeutische Maßnahmen zur Schmerzbewältigung nicht ausreichend erfolgt seien. Eine solche zumutbare Behandlung sei berufsbegleitend möglich und der Klägerin schon mehrfach empfohlen worden. Im Ergebnis werde deshalb an der bisherigen Leistungsbeurteilung einer Möglichkeit zu leichter Bürotätigkeit bei Möglichkeit des Haltungswechsels mindestens sechs Stunden täglich festgehalten; eine volle Erwerbsminderung der Klägerin bestehe nicht.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 11.01.2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie trägt vor, sie gehe mit dem erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen Dr. A und der erstinstanzlichen Entscheidung davon aus, nur noch ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden täglich zu haben. Soweit der Senat eine weitere medizinische Sachaufklärung beabsichtige, werde angeregt, das Vorbringen der Beklagten dem Sachverständigen Dr. A zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere des genaueren Inhalts der vorliegenden medizinischen Gutachten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteil und einer Zurückverweisung des Rechtsstsreits an das Sozialgericht begründet.

Nach § 159 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet.

Verfahrensmangel i.S.d. Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Der Mangel darf nicht den sachlichen Inhalt des Urteils betreffen, sondern i.d.R. nur den Weg zum Urteil (Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 159 Rz. 3). Wesentlich ist der Mangel, wenn das Urteil auf ihm beruhen kann. Bei der Beurteilung ist auf die Rechtsansicht des Sozialgerichts abzustellen; kein Verfahrensfehler ist Unterlassen von Ermittlungen, auf die es nach der Rechtsansicht des Sozialgerichts nicht ankam (a.a.O. Rz. 3a). Das Landessozialgericht entscheidet nach Ermessen, ob es in der Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Dabei ist abzuwägen zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits (a.a.O. Rz. 5). Ist die Sache bereits entscheidungsreif oder ein Verfahrensmangel ohne Schwierigkeiten zu beseitigen (z.B. bei Unklarheit eines Antrags), ist eine Zurückverweisung ausgeschlossen. Sind jedoch noch weitere ortsnahe Ermittlungen oder eine umfangreiche Beweisaufnahme nötig bzw. kann sonst das Verfahren nicht mehr als ordnungsgemäße Grundlage einer Entscheidung angesehen werden, ist die Zurückverweisung zulässig (a.a.O. Rz. 5a m.N.).

Das sozialgerichtliche Verfahren leidet an zwei wesentlichen Mängeln: Zum einen ist der Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt worden (Verstoß gegen § 103 SGG), zum anderen lagen die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vor, weil die Sache keineswegs im Sinne von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher Art aufweist.

Ein Verstoß gegen § 103 SGG liegt auch dann vor, wenn das Gericht sich von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte gedrängt sehen müssen, weitere Ermittlungen zu erheben (BSG vom 11.12.2002 - B 6 KA 1/02 R). Im vorliegenden Fall konnte sich das Sozialgericht zur Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Zeitrentenanspruchs keinesfalls allein auf das Gutachten A stützen. Die Beklagte hatte vielmehr zu Recht in zwei Schriftsätzen darauf hingewiesen, dass im Anschluss an die internistisch-rheumatologisch-sozialmedizinische Begutachtung durch Dr. A eine weitere fachärztliche Abklärung nötig gewesen wäre. Es ist aus einer Vielzahl von vergleichbarer Rentenverfahren gerichtsbekannt, dass gerade bei den Krankheitsbildern Fibromyalgie bzw. somatoforme Schmerzstörung eine internistisch-sozialmedizinische Abklärung allein kaum ein vollständiges und tragfähiges medizinisches Beweisergebnis liefern kann (vgl. hierzu auch Häuser, Fibromyalgiesyndrom - Psychische Komorbiditäten und Schweregrade innerhalb der sozialgerichtlichen Begutachtung, Medbach 2004, 11ff.). Dies gilt vorliegend insbesondere deshalb, als kein einziger Befundbericht eines behandelnden Arztes oder gar Facharztes eingeholt worden ist, welcher dem Sachverständigen Dr. A Hinweise hinsichtlich der Validität der eigenen Angaben der Klägerin hätte geben können. Auch die Auseinandersetzung im Gutachten A mit den Vorgutachten auf orthopädischem und neurologisch-psychiatrischem Gebiet kann nicht zufrieden stellen, zumal diese Fachgutachten eine relevante Leistungseinschränkung gerade verneint hatten. Der Grund der Zuerkennung eines GdB von 60 ist - die vom Sozialgericht nicht geklärte tatsächliche Zuerkennung dieses von der Klägerin benannten GdB einmal unterstellt - ebenfalls nicht geklärt worden. Daneben ist anzumerken, dass auch die näheren Bedingungen der letzten beruflichen Tätigkeit nicht geklärt wurden, welche der Klägerin zufolge krankheitsbedingt aufgegeben wurde. Das Urteil des Sozialgerichts erging daher in einem tatsächlich schwierigen Fall auf erkennbar unzureichender Tatsachengrundlage; auf das Fehlen ausreichender Ermittlungen hat die Beklagte auch ausdrücklich hingewiesen.

Dieser Streit um die medizinische Bewertung macht bereits deutlich, dass der Fall der Klägerin keineswegs ein tatsächlich unschwieriger Fall ist, der eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG - also ohne eine Richterbank mit Beteiligung ehrenamtlicher Richter und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung- erlaubt hätte. Schon die Stellungnahmen der Beklagten zum Gutachten A in zwei Schriftsätzen machte dies - auch für das Sozialgericht - offensichtlich. Im Sinne von § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG wesentlich ist dieser Verfahrensfehler schon deshalb, weil als gesetzlicher Richter im Sinne von Art. des Grundgesetzes die Richterbank aus Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern in mündlicher Verhandlung zur Entscheidung berufen war, nicht aber der "Einzelrichter" im schriftlichen Verfahren.

Bei der Ermessensentscheidung des Landessozialgerichts über eine Zurückverweisung kommt zwar prozessökonomischen Gesichtspunkten in der Regel eine erhebliche Bedeutung zu. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist deshalb im Zweifel die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, im Interesse einer zügigen Verfahrenserledigung vorzugswürdig (vgl. BSG vom 11.12.2002 - B 6 KA 1/02 R sowie BSG vom 16.12.2003 - B 13 RJ 194/03 B m.w.N.). Das BSG hatte in den von ihm entschiedenen Fällen allerdings über - erfolglose - Revisionsrügen des Inhalts zu entscheiden, das Landessozialgericht habe den jeweils betreffenden Rechtsstreit nicht an das Sozialgericht zurückverwiesen. Demgegenüber geht das BSG in einer anderen Entscheidung (vom 30.08.2001 - B 4 RA 87/00 R) selbstversändlich von der Befugnis des Landessozialgerichts zur Zurückverweisung bei wesentlichen Verfahrensmängeln aus. Wollte man aus prozessökonomischen Gründen stets der Sachentscheidung durch die zweite (Tatsachen-)Instanz den Vorzug vor einer Zurückverweisung geben, so liefe § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG praktisch leer. In einem Verfahren wie dem vorliegenden, in dem das sozialgerichtliche Verfahren zugleich an zwei schweren Verfahrensfehlern leidet, erscheint dem Senat daher eine Ermessensausübung in Form einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht als geboten.

Das Sozialgericht wird im Rahmen der von ihm zu treffenden erneuten Entscheidung auch über die Kosten dieses Berufungsverfahrens zu entscheiden haben, da der Senat in der Sache selbst keine Entscheidung getroffen hat.

Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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