L 13 SB 59/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 603/00
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 59/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juli 2001 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Beklagte dem Kläger die Hälfte der Kosten des Widerspruchsverfahrens zu erstatten hat.

Auf Antrag des 1949 geborenen Klägers vom 29. April 1999 stellte der Beklagte durch Bescheid vom 14. Juni 1999 einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 fest.

Mit dem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, bei ihm lägen noch unberücksichtigt gebliebene Behinderungen vor, so dass eine Einstufung „in einen höheren Grad als 20 %“ angemessen sei.

Der Beklagte ließ daraufhin den Kläger durch den praktischen Arzt Dr. Y untersuchen, der unter Anerkennung weiterer Behinderungen einen GdB von 30 und die Feststellung empfahl, dass die Behinderung zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt habe.

Der Beklagte erkannte dem folgend durch Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2000 einen GdB von 30 als Gesamt-GdB an und stellte fest, dass die Körperbehinderung darüber hinaus zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt habe. Im Übrigen werde der Widerspruch zurückgewiesen. Der Kläger gehöre auch weiterhin nicht zum Personenkreis der Schwerbehinderten, so dass sein Widerspruch keinen weitergehenden Erfolg gehabt habe. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen würden zu einem Viertel erstattet. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten sei notwendig gewesen. Die Kostenentscheidung folge aus § 63 Sozialgesetzbuch (SGB) X.

Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage machte der Kläger geltend, der Widerspruch sei insgesamt erfolgreich gewesen, da lediglich eine Einstufung in einen höheren GdB als 20 beantragt worden sei. Dem sei der Beklagte nachgekommen. Ein konkreter Antrag sei nicht erforderlich gewesen, da es für einen Nichtmediziner schwierig sei, die exakte Höhe des GdB zu bestimmen. Die Sachlage sei mit einem im Zivilprozess zulässigen unbezifferten Antrag auf Schmerzensgeld vergleichbar.

Durch Urteil vom 2. Juli 2001 hat das Sozialgericht den Widerspruchsbescheid geändert und den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Hälfte seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Soweit der Widerspruch erfolgreich sei, habe gemäß § 63 Abs. 1 SGB X der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen habe, demjenigen, der Widerspruch erhoben habe, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Ein Erstattungsanspruch bestehe nach dem Verhältnis von Erfolg und Misserfolg des Widerspruchs. Der Widerspruch habe nur zur Hälfte Erfolg gehabt. Zwar bestehe eine Vergleichbarkeit mit einem durch Klage geltend gemachten zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruch, da die Bewertung einzelner Behinderungen und die Bildung eines Gesamt-GdB medizinische Sachkenntnisse und dezidierte Kenntnisse der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte) erfordere. Werde auf einen nach oben offenen Antrag der begehrte Mindest-GdB gewährt, könne wie im Fall einer Schmerzensgeldklage auf einen Mindestbetrag nicht von einem Misserfolg des Antrags gesprochen werden. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn ausdrücklich ein bestimmter Mindest-GdB begehrt werde; werde lediglich ein höherer GdB als 20 begehrt, könne dem nicht ohne weiteres entnommen werden, dass das Ziel des Klägers im Wesentlichen ein Mindest-GdB von 30 gewesen sei. Das Widerspruchsbegehren sei nach den Grundsätzen der §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auszulegen. Dabei seien die Eigenheiten des GdB-Systems im Schwerbehindertenrecht zu berücksichtigen, die zwar die Feststellung eines GdB in Zehnerschritten von 20 bis 100 ermöglichten. Im unteren Bereich komme jedoch der Stufe eines GdB von 30, da diese die Gleichstellung mit Schwerbehinderten aus Arbeitsplatzschutzgesichtspunkten ermögliche, sowie der Stufe eines GdB von 50, der die Schwerbehinderteneigenschaft begründe, wesentliche Bedeutung zu. Da sich aus dem klägerischen Begehren weder eindeutig ergebe, dass eine Schwerbehinderteneigenschaft angestrebt werde, noch, dass ein GdB von mindestens 30 das alleinige Ziel des Widerspruchs gewesen sei, habe der Antrag so verstanden werden müssen, dass die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft beantragt werde, hilfsweise aber zumindest ein GdB von 30 begehrt werde. Wäre ein GdB von mindestens 30 das alleinige oder vordringliche Ziel des Widerspruchs gewesen, hätte der Kläger dies durch Konkretisierung des Begehrens deutlich machen müssen.

Gegen das ihm am 1. August 2001 zugestellte Urteil richtet sich die vom Sozialgericht zugelassene Berufung des Beklagten vom 8. August 2001. Er macht geltend, dem Kläger stehe höchstens ein Drittel der Kosten zu. Unkonkrete Anträge seien auszulegen. In einem Fall, in dem der Widerspruchsführer lediglich einen GdB von 20 zugesprochen erhalten hatte, beziehe sich nach Sinn und Zweck des Widerspruchs der Wille auf das Ziel der Anerkennung als Schwerbehinderter bzw. die Anerkennung des GdB von 30. Da dem gestellten Antrag jedoch nicht eindeutig zu entnehmen gewesen sei, dass ein GdB von 30 das eigentliche Ziel des Widerspruchsbegehrens gewesen sei, müsse eine Quotelung vorgenommen werden. Der vom erkennenden Senat im Beschluss vom 8. August 2001 (L 13 B 29/01 SB) geäußerten Rechtsauffassung sei nicht zu folgen. Entgegen der dort vertretenen Auffassung des Senats könne einem Antrag „höher als“ oder „mehr als“ nicht zwingend entnommen werden, der Kläger wolle immer nur eine GdB-Erhöhung um einen Zehnergrad. Diese Formulierung beinhalte auch rein wörtlich keine Beschränkung, sondern werde vom Ergebnis her interpretiert. Die von ihm gehaltene Länderumfrage habe keine einheitliche Handhabung bei der Stellung von unkonkreten Anträgen ergeben. Überwiegend würden die Anträge ausgelegt. Es gebe keine überwiegende Mehrheit oder Einigkeit, den unkonkreten Antrag lediglich „wörtlich“ zu nehmen und bereits bei GdB-Erhöhungen um 10 die vollen Kosten zuzusprechen. Würde man schon bei geringfügigen Erhöhungen grundsätzlich volle Kosten zusprechen, müssten die Versorgungsverwaltungen bei ca. 70 % der Klageverfahren, die durch Bescheide gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beendet würden, die vollen Kosten tragen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juli 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend, der Gesetzgeber habe den „Erfolg“ in § 63 Abs. 1 SGB X nicht definiert. Deshalb müsse jede Abweichung vom Bescheid als Erfolg gewertet werden. Zulässige unbezifferte Anträge seien einer Auslegung nicht zugänglich.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.

Die Berufung ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist lediglich die Verurteilung des Beklagten zur Erstattung der Hälfte der notwendigen Kosten für das Widerspruchsverfahren.

Nach § 63 Abs. 1 SGB X hat der Beklagte die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Der Umfang der Erstattungspflicht richtet sich, abgesehen von der Vorschrift des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X, allein nach dem Erfolg des Widerspruchs. Danach ist ein Obsiegen in vollem Umfang dann festzustellen, wenn mit dem Widerspruch lediglich die Zuerkennung eines GdB von mindestens 30 begehrt worden ist.

Das Sozialgericht hat aus der Tatsache, dass der Kläger keinen Mindest-GdB angegeben hat, sondern einen GdB von mehr als 20 geltend gemacht hat, gefolgert, dass sein Ziel nicht eindeutig festgestellt werden könne und daraus auf die - für den Senat nicht überprüfbare - Kostenerstattungspflicht zu 1/2 geschlossen. Dies entspricht nicht der Rechtsprechung des Senats, von der er auch nach Prüfung der Einwände des Beklagten abzuweichen keine Veranlassung sieht. Danach ist der Antrag auf Zuerkennung eines GdB von „mehr als 20“ dahingehend auszulegen, dass ein GdB von mindestens 30 angestrebt wird. Der Auslegung, dass mit einem Antrag der Feststellung eines GdB von mehr als 20 die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft begehrt werde, lediglich hilfsweise ein GdB von 30, kann nicht gefolgt werden. Nach der Ermittlung des Wortsinns einer Willenserklärung sind zwar in einem zweiten Auslegungsschritt die außerhalb des Erklärungsaktes liegenden Begleitumstände in die Auslegung einzubeziehen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Aus der Tatsache, dass eine Vielzahl von Antragstellern die Feststellung eines GdB von 50 wegen der damit verbundenen Folgen begehrt, kann nicht gefolgert werden, dass dies als wahrer Inhalt der Aussage, ein GdB von mehr als 20 % sei festzustellen, anzusehen ist. Dies berücksichtigt nämlich nicht, dass nach § 4 Abs. 1 des zum Zeitpunkt des Widerspruchsverfahrens noch geltenden Schwerbehindertengesetzes auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung festzustellen ist. Nach § 3 Abs. 2 Schwerbehindertengesetz ist die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Dem Gesetz zufolge besteht also auch ein Anspruch auf Feststellung eines GdB von 30. Da der GdB von 30 der nächste Schritt nach dem zuerkannten GdB von 20 darstellt, ist auch der unkonkrete Antrag, einen GdB von „mehr als 20 %“ zuzuerkennen, auf die Anerkennung eines GdB von mindestens 30 gerichtet. Abgesehen davon sind als Begleitumstände der Erklärung als wirtschaftliche Überlegungen auch zu berücksichtigen, dass auch ein GdB von 30 mit der gleichzeitigen Feststellung, dass die Körperbehinderung zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hat, nach § 33 b Abs. 2 Ziffer 2 b Einkommensteuergesetz zu einem Pauschbetrag führt.

Die gegen die Verpflichtung zur (vollen) Kostentragung gerichteten Argumente des Beklagten führen zu keinem anderen Ergebnis. Sie beziehen sich nämlich auf die Frage, in welchem Umfang dem Beklagten im Klageverfahren bei anderweitiger Erledigung Kosten auferlegt werden können. Sie berücksichtigen bereits nicht den Unterschied zwischen einer Kostenerstattungspflicht nach § 63 SGB X und der Kostenentscheidung des Gerichts nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG.

Maßgeblich für die Kostenerstattung nach § 63 SGB X ist allein der Erfolg des Widerspruchs - es sei denn, die abhelfende Entscheidung des Rechtsträgers beruht nicht auf dem Widerspruch, sondern auf anderen Umständen (etwa der nachträglichen Erfüllung von Mitwirkungspflichten, vgl. Bundessozialgericht -BSG- SozR 3-1300 § 63 Nr. 3). Demgegenüber hat das Gericht bei einer Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG nach sachgemäßem Ermessen zu entscheiden und dabei neben den Erfolgsaussichten der Klage auch die Gründe für die Klageerhebung, also die Frage zu prüfen, ob der Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat und ob er auf im Laufe des Rechtsstreits eingetretene Änderungen angemessen reagiert hat.

Soweit der Beklagte sich gegen die Verpflichtung zur Übernahme der (vollen) Kosten bei „nach oben offenen“ Anträgen wendet, wenn ein nur um 10 höherer GdB zuerkannt wird, kann dem auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht gefolgt werden. Danach ist der Betroffene nicht beschwert, wenn der GdB auf den Betrag festgesetzt wird, der im Widerspruchsverfahren als Mindestbeitrag des erstrebten „höheren GdB“ bezeichnet worden ist (Urteil vom 9. August 1995 - 9 RVs 7/94 = SozR 3-1930 § 116 Nr. 7). An einer Beschwer fehlt es aber nur, wenn der Rechtsbehelf in vollem Umfang Erfolg gehabt hat.

Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, da die vom Beklagten für klärungsbedürftig erachtete Rechtsfrage bereits im Zusammenhang mit der Frage der Erhöhung der Rahmengebühr nach § 116 Abs. 3 BRAGO (BSG a.a.O.) höchstrichterlich entschieden worden ist.
Rechtskraft
Aus
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