L 19 B 33/05 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 16 AS 70/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 B 33/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 06.06.2005 geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern für den Monat Juni 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II in Höhe des vollen Regelsatzes zzgl. der Leistungen für Unterkunft und Heizung, längstens für insgesamt 6 Monate, zu bewilligen. Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig.

Die von den Antragstellern abgegebene Stellungnahme, die innerhalb der Beschwerdefrist am 04.07.2005 bei Gericht eingegangen ist, ist als Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 06.06.2005 auszulegen. Den Beschwerden hat das Sozialgericht nicht abgeholfen.

Die Beschwerde der Antragsteller ist begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO - ). Glaubhaftmachung erfordert nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit an Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ 2004, 95, 96). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in die auch die grund-rechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen sind (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - m.w.Nachw.).

Zur Überzeugung des Senats ist das Vorbringen der Antragsgegnerin nicht geeignet, berechtigte Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller aufkommen zu lassen. Die Antragsgegnerin stützt ihre Auffassung im Wesentlichen darauf, dass gemessen an den Einnahmen und Ausgaben und unter Berücksichtigung eines an den Regelsätzen orientierten Bedarfs seit Oktober 2004 eine monatliche Unterdeckung von ca. 450 Euro besteht. Demgegenüber haben die Antragsteller für den Senat nachvollziehbar - selbst die Antragsgegnerin räumt in ihrem Schriftsatz vom 19.07.2005 ein, dass die Angaben der Antragsteller im Wesentlichen erklärbar seien - dargelegt, dass sie sich beim Kauf von Lebensmitteln eingeschränkt und sich hierfür eine Grenze von 200,00 Euro mtl. gesetzt hätten. Dieses enge Budget wird durch das im Schriftsatz vom 28.07.2005 geschilderte Einkaufsverhalten plausibel. Danach nutzen die Antragsteller das in den Niederlanden günstigere Angebot bei Lebensmitteln sowie beim Fleischkauf preiswerte, durch Bekannte vermittelte Einkaufsmöglichkeiten aus. Anhaltspunkte, dass die Antragsteller aus bisher nicht offenbarten Einkünften ihren Lebensunterhalt bestritten haben, sind nicht erkennbar. Im Hinblick darauf, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen, dürfen Umstände der Vergangenheit, die die Antragsgegnerin hauptsächlich geltend macht, nur insoweit herausgezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse für die gegenwärtige Lage der Antragsteller zu lassen (so BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05).

Ein Anordnungsgrund besteht nicht nur im Hinblick auf die nach Regelsätzen zu erbringenden Leistungen, sondern auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft. Die Antragsteller sind seit Juni die Miete schuldig geblieben. Folglich besteht die Gefahr, die Wohnung durch Räumungsklage zu verlieren, weil dem Vermieter gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB ein außerordentliches Kündigungsrecht zusteht. Dementsprechend sind den Antragstellern die Unterkunftskosten ab Juni 2005 vom Antragsgegner vorläufig zu gewähren.

Die regelsatzmäßigen Leistungen sind für den Monat Juni in voller Höhe zu bewilligen. 80 % der maßgeblichen Regelsätze sind ihnen bereits im Beschluss des Sozialgerichts vom 06.06.2005 vorläufig zugesprochen wurden, so dass noch 20 % des Regelsatzes nach zu bewilligen sind. Für die Zeit ab Juli sind ihnen Leistungen in Höhe von 100 % des Regelsatzes vorläufig zu bewilligen. Die Regelsätze sind nicht auf 80 %, und damit auf das zum Leben Unerlässliche (so aber in st. Rspr. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 01.06.1988 - 8 B 1057/88 - NVwZ 1989, 1085, 1086, Beschluss vom 10.05.2002 - 12 B 423/02, Juris, zustimmend Grieger in Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, S. 710; a.A. Conradis in Münder, Sozialgesetzbuch II, 2005, Anhang Verfahren Rnr. 119) zu kürzen. Absenkungen von Sozialleistungen, wie sie in § 31 SGB II und in § 39 SGB XII gesetzlich vorgesehen sind, sind die Folge von Pflicht- und Obliegenheitsverletzungen des Hilfebedürftigen (vgl. Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 31 SGB II Rnr. 1; Berlit in Münder, Sozialgesetzbuch II, § 31 Rdnr. 2). Demgegenüber steht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Vordergrund. Dies gilt umso mehr, als das einstweilige Rechtsschutz-verfahren die Hauptsache vorweg nimmt. Mit dem Zusprechen des vollen Regelsatzes im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 86 b Abs. 2 SGG wird eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den Verfahren des § 86 b Abs. 1 SGG vermieden. Antragsteller, die erstmals Leistungen beantragen, müssten nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine Leistungsabsenkung hinnehmen, wo hingegen Antragsteller, die bereits Leistungen erhalten haben und bei denen während des laufenden Leistungsbezugs die Leistungen gekürzt oder eingestellt werden, bei einem erfolgreich betriebenen Verfahren nach § 86 b Abs. 1 SGG die vollen Regelsatzleistungen erhalten würden.

Den Antragstellern sind die Leistungen vorläufig für längstens 6 Monate zuzusprechen. Hierbei orientiert sich der Senat an der Vorschrift des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II.

Aus dem Dargelegten folgt, dass die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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