L 5 R 425/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 RJ 58/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 425/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Einer von Geburt an taubstummen Waise weiblichen Geschlechts, die auf Grund der spezifischen soziokulturellen Gegebenheiten ihrer Heimat Marokko keinerlei Kommunikationsfähigkeit entwickeln konnte, steht Waisenrente bis zum vollendeten 27. Lebensjahr zu.
I. Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 21. Mai 2002 sowie der Bescheid der Beklagten vom 25. März 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1994 aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung einer Waisenrente bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres aufgrund des Antrags vom 23. September 1992 verurteilt.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Waisenrente wegen Gebrechlichkeit über das 18. Lebensjahr hinaus.

Die am 1968 geborene Klägerin ist marokkanische Staatsangehörige mit dortigem Wohnsitz. Ihr Vater, der am 1922 geborene und am 1990 verstorbene U.H., Hammadi, hatte zuletzt gemäß Bescheid der LVA Westfalen vom 06.04.1987 aus in Deutschland zurückgelegten Beitragszeiten eine Altersrente bezogen.

Die Beklagte gewährte mit Bescheiden vom 05.03.1993 Witwen- und Waisenrente für die beiden Witwen R.K. und Y.K. sowie für die Waisen M. (- ...1984), S. (- ...1985), A. (- ...1986) und F. (- ...1988).

Die Klägerin beantragte unter dem 23.09.1992 die Gewährung einer Waisenrente. Mit Bescheid vom 25.03.1993/Widerspruchsbescheid vom 08.12.1998 lehnte die Beklagten den Antrag ab mit der Begründung, die Klägerin habe die Altersgrenze einer Waisenrente bereits überschritten. Der Ausnahmetatbestand zur Gewährung der Waisenrente über das Alter von 18 Jahren hinaus bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres wegen Gebrechlichkeit sei nicht erfüllt. Die bei der Klägerin angeborene Taubstummheit führe nicht dazu, dass sie sich nicht selbst unterhalten könne.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg (SG) hat die Klägerin Befunde aus der Heimat vorgelegt, insbesondere des Dr.Z., der angeborene Taubstummheit attestierte, des Dr.R. und Audiometriebefunde des Dr.F ... Das SG hat auf dieser Grundlage ein HNO-ärztliches Sachverständigengutachten nach Aktenlage des Dr.W. (21.07.2001) eingeholt. Dieser hat die angeborene Taubstummheit bei nicht verwertbaren Hörresten bestätigt. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei dadurch beeinflusst. Jedoch bedinge eine angeborene Taubstummheit trotz eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 keine Erwerbsunfähigkeit. Bei normaler Intelligenz könnten auch ohne jegliche Edukation einfache Arbeiten durchgeführt werden. Aus rein gesundheitlicher Sicht liege bei der Klägerin nach deutschen Maßstäben Erwerbsunfähigkeit nicht vor.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.05.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und einen Anspruch auf Waisenrente wegen Gebrechlichkeit verneint. Die Klägerin könne sich mit Zeichen und Anfassen verständigen, so dass sie über ein gewisses Mindestmaß an Fähigkeiten verfüge, die ihr die Ausübung einfacher ungelernter Tätigkeiten wie z.B. Näharbeiten, Sortieren, Verpacken und Montieren von Gegenständen oder die Durchführung von einfachen Reinigungstätigkeiten ermöglichten. Eine geistige oder intellektuelle Minderbegabung liege nicht vor, so dass - wie von Dr.W. festgestellt - die Klägerin trotz der angeborenen Taubstummheit nicht erwerbsunfähig sei. Die Besonderheiten der Heimat der Klägerin, die eine Erwerbstätigkeit praktisch ausschlössen, seien für den geltend gemachten Anspruch nicht relevant.

Die dagegen eingelegte Berufung hat die Klägerin damit begründet, dass sie als Taubstumme in Marokko keine Chance habe, ihren Lebensunterhalt irgendwie zu sichern, zumal sie weiblichen Geschlechts sei.

Der Senat hat ein Sachverständigengutachten der Dr.H. eingeholt. Diese hat eine angeborene Behinderung von Taub- und Stummheit diagnostiziert und ausgeführt, die angeborene Taubstummheit habe sich so ausgewirkt, dass die Klägerin überhaupt nicht kommunizieren könne. Als junges marokkanisches Mädchen aus einer konservativen Familie vom Land gehe sie nicht allein aus dem Haus und dürfe nicht gesehen werden. Während der Untersuchung sei eine Verständigung auch mit einfachsten Gesten nicht möglich gewesen. Sogar mit ihrem Cousin, der sie begleitet habe, habe es keine Verständigung gegeben. Möglicherweise bestehe ein psychointellektuelles Defizit in Verbindung mit der Taubstummheit. In ihrem derzeitigen Zustand ohne jegliche Verständigungsmöglichkeit hätte die Klägerin die notwendigen Anweisungen weder verstehen noch danach handeln können. Wäre sie in einem europäischen Land aufgewachsen und hätte sie eine Arbeit inne, könnte sie wegen ihres guten körperlichen Zustandes ohne zeitliche Begrenzungen acht Stunden täglich arbeiten. Die Tatsache, taub und stumm zu sein, sei aber eine schwerwiegende Behinderung, die in Marokko von der Gesellschaft nicht aufgefangen werde.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.03.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.1994 sowie des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Augsburg vom 21.05.2002 zu verurteilen, ihr aufgrund des Antrags vom 23.09.1992 Waisenrente bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 21.05.2002 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2005 waren, sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SG -) und auch begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 25.03.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12. 1994. Diesen hat das Sozialgericht Augsburg mit Gerichtsbescheid vom 21.05.2002 zu Unrecht bestätigt, denn die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung einer Waisenrente wegen Gebrechlichkeit bis zu ihrer Vollendung des 27. Lebensjahres.

Kinder haben nach dem Tod eines Elternteils Anspruch auf Halbwaisenrente, wenn sie - wie die Klägerin - noch einen Elternteil haben, der unterhaltspflichtig ist, und der verstorbene Elternteil die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Diese Voraussetzungen waren in Bezug auf die Klägerin und ihren am 04.11. 1990 verstorbenen Vater El Uarraqui Hammada sowie in Bezug auf ihre Mutter, die selbst Witwenrente bezogen hat, im streitigen Zeitraum erfüllt.

Der Anspruch auf Halbwaisenrente besteht längstens bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, es sei denn, die Waise wäre wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande, sich selbst zu unterhalten (§ 48 Abs.1, Abs.4 Nr.2 b Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI). Dieser Anspruch ist bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres zeitlich begrenzt.

Nach dem gesamten Akteninhalt, dem Vorbringen der Klägerin sowie nach den überzeugenden Feststellungen des Dr.W. und der Dr.H. ist die Klägerin behindert im Sinne von § 48 Abs.4 Nr.2 b SGB VI. Sie ist von Geburt an taubstumm, ihr Resthörvermögen ist so gering, dass es nicht verwertet werden kann. Die Klägerin erfüllt damit den Begriff der Behinderung, der zwischenzeitlich in § 2 SGB IX legal definiert ist. Dies ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Nach dem überzeugenden Sachverständigengutachten der Dr.H, welches auf einer eigenen persönlichen Untersuchung der Klägerin beruht, ist diese nicht nur aufgrund der angeborenen Taubstummheit behindert, ihr fehlt zusätzlich gänzlich die Fähigkeit zu kommunizieren. Sie ist nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen nicht in der Lage, mit anderen Personen in Kontakt zu treten. Das zeigte sich insbesondere, als ihr Cousin sie bei der Begutachtung auf den Untersuchungsstuhl bewegen und sie später mit der Hand zum Aufstehen veranlassen musste. Daraus sowie aus dem gesamten Untersuchungsergebnis folgt, dass ihr die für eine Erwerbstätigkeit erforderliche Fähigkeit, mit anderen Personen zu kommunizieren völlig fehlt. Dies ist eine besonders schwere Leistungseinschränkung, die zusammen mit der angeborenen Taubstummheit es der Klägerin unmöglich macht, sich selbst zu unterhalten. Anderweitige Einkommensquellen hat die Klägerin, die von ihrer Familie ernährt wird, nicht. Die Voraussetzungen des § 48 Abs.4 Nr.2 b SGB VI sind damit aufgrund der spezifischen Besonderheiten des Einzelfalls der Klägerin erfüllt.

Dem ist nicht entgegenzuhalten, dass dieser Zustand aus den sozio-kulturellen Eigenheiten der Heimat der Klägerin und insbesondere ihres entlegenen Heimatdorfes resultiert. Der hypothetische Zustand, dass bei einer normalen Entwicklung, wie von Dr.W. dargestellt, auch taubstumm Geborene eine gewisse Kommunikationsfähigkeit erlernen und so erwerbstätig sein können, ist nicht maßgeblich. Die Gewährung von Waisenrente nach § 48 Abs.4 Nr.2 Buchstabe d SGB VI hängt davon ab, ob die Waise tatsächlich wegen ihrer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten. Dabei ist keine abstrakte Betrachtung anzustellen, sondern eine konkrete; dabei sind allerdings auch die Besonderheiten des marokkanischen Arbeitsmarktes ohne Belang.

Auf die Berufung der Klägerin war deshalb die Beklagte zur Leistungsgewährung zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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