L 14 R 452/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 RJ 491/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 452/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Juni 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahre 1958 geborene Klägerin, ehemals türkische und dann deutsche Staatsangehörige, hat keinen Beruf erlernt. Als Analphabetin stand sie seit August 1976 im Erwerbsleben, anfangs mit größeren Lücken (Kindererziehung, Arbeitslosigkeit und Krankheit), zuletzt ununterbrochen ab 06.08.1990 als Packerin/ Helferin und Reinigungskraft bei der Obstgroßhandelsfirma F. Ab 06.09.2000 bezog sie Krankengeld (Arbeitsunfähigkeit vom 26.07. 2000) und vom 17.11.2001 bis 31.12. 2002 Arbeitslosengeld. Seit dem 12.11.2002 bis 07.11.2003 war sie - ohne Leistungsbezug wegen Einkommens ihres Ehemanns - arbeitlos gemeldet.

Vom 04. bis 25.01.2001 durchlief sie ein Heilverfahren im Rehabilitationskrankenhaus Ulm, aus dem sie bei der Hauptdiagnose "Halswirbelsäulen-Syndrom" und den Nebendiagnosen "endogene Depression, Nervosität und Adipositas" mit der Beurteilung des Leistungsvermögens für leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung von mehr als sechs Stunden entlassen wurde.

Am 14.02.2002 stellte sie bei der Beklagten Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung, weil sie sich wegen eines Arbeitsunfalls vom 08.02.2000 (angebliche Fraktur eines Lendenwirbels, jedoch nur arbeitsunfähig für drei Tage und laut Arztberichten lediglich Prellung bei alter Deckplattenkompression) für berufs- und erwerbsunfähig hielt. Die Allgemeinärztin Dr.L. bescheinigte ihr im Befundbericht vom 13.02.2002 ein Cervical- und Lumbalsyndrom sowie ein depressives Syndrom bei familiärem Konflikt (Neigung zu Somatisierung bei depressiver Verstimmung); wegen des depressiven Syndroms bestehe keine Motivation zur Wiederaufnahme der Arbeit.

Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen ließ die Beklagte vom Internisten Dr.R. das Gutachten vom 02.04.2002 erstellen. Dieser diagnostizierte bei fehlenden Bewegungsdefiziten "chronische Rückenbeschwerden (oberes/mittleres und teilweise rechtsseitig unteres Cervicalsyndrom - keine Nervenwurzelreiz-/Ausfallserscheinungen zur Zeit - keine Griffunsicherheit. Chronisches Thorako- und Lumbalsyndrom), Übergewicht, Beinkrampfadern, X-Beinstellung, Fußhautpilzbefall, zeitweise auftretende Magenbeschwerden und depressive Verstimmungen (depressives Syndrom bei familiärem Konflikt laut Hausarzt)". Dr.R. war der Meinung, dass die Klägerin vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten könne. Laut Prüfärztlichem Dienst der Beklagten waren hierbei dauerndes Stehen, häufiges Heben und Tragen schwerer Lasten, Gefährdung durch Kälte, Nässe und starke Temperaturschwankungen und besondere Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit zu vermeiden.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11.04.2002 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Der hiergegen ohne Begründung erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 05.08. 2002 zurückgewiesen.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg machte die Klägerin laut vorgelegtem Attest der Hausärztin und Allgemeinärztin Dr.L. eine therapieresistente Depression, ein chronisches therapieresistentes Cervical- und LWS-Syndrom sowie eine Adipositas geltend und trug, wie im Rentenverfahren und später im Berufungsverfahren, vor, dass sie ihren rechten Arm nicht mehr beanspruchen bzw. zur Durchführung irgendwelcher Arbeiten benutzen könne. Sie leide an einem tauben Gefühl im rechten Arm und der rechten Hand und unter einer erheblichen Bewegungseinschränkung der rechten Hand, jede Bewegung des rechten Arms und der rechten Hand seien mit erheblichen Schmerzen verbunden. Sie leide außerdem schon ohne Belastungen unter ständigen starken Schmerzen im gesamten Rücken, Nacken, Kopf und Beinen und sei nahezu unbeweglich. Sie könne Hausarbeiten nicht verrichten, die von den in ihrem Haushalt lebenden Kindern übernommen würden. Das Sozialgericht holte unter anderem Befundberichte der Dr.L. vom 10.12.2002 (mit Arztbriefen), des Orthopäden Dr.W. vom 02.12.2002 und des Psychiaters Dr.S. vom 02.12.2002 ein. Dr.L. beschrieb als Beschwerden der Klägerin Schmerzen im Nacken und ganzen Körper und sah den Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Dr.S. (Behandlung September 2001 bis November 2002) diagnostizierte ein mittelschweres bis schweres depressives Syndrom, erwähnte ein "bekanntes Cervical- und LWS-Syndrom" und sah den Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen im orthopädischen Bereich. Laut Angaben der Klägerin selbst bestanden psychische Probleme (familiärer Konflikt) und eine Schmerzsymptomatik.

Bei dem vom Sozialgericht in Auftrag gegebenen neurologisch- psychiatrischen Gutachten der Dr.A. vom 05.02.2003 erbrachte die körperliche Untersuchung der Klägerin und die technische Befunderhebung keine Hinweise für ein Reizsyndrom der Wirbelsäule oder ein Carpaltunnelsyndrom. Die Sachverständige diagnostizierte eine somatoforme Störung (als Reaktion auf einen Ehekonflikt und auch aufgrund des schulischen und intellektuellen Defizits), wohingegen eine eigenständige depressive Störung bei der Untersuchung nicht feststellbar gewesen sei. Die Klägerin befinde sich in einer Schonhaltung, die aufgrund organischer Befunde nicht erforderlich sei. Sie könne täglich sechs Stunden und mehr leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten; vermieden werden sollten Tätigkeiten überwiegend in Zwangshaltung und mit besonderer Anforderung an die nervliche Belastungsfähigkeit.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erstellte ferner der Neurologe und Psychiater Dr.L1. das Gutachten vom 08.12.2003. Dieser stellte auf neurologischem Gebiet völlig unauffällige Befunde fest, aber auf psychiatrischem Gebiet eine deutlich depressive, überwiegend endogene Symptomatik. Bei den Diagnosen "endogene Depression mit erheblicher Somatisierung - derzeit deutliche depressive Symptomatik, Schmerzsyndrom an der gesamten Wirbelsäule ohne neurologische Komplikation - im Kernspin vom 11.12.2000 Bandscheibenprotrusion C5/C6 und C4/C5" hielt der Sachverständige die Klägerin von der körperlichen Leistungsfähigkeit her gesehen nur für gehindert, Schwerarbeit und Arbeiten über Kopf durchzuführen; sie könne aber wegen ihrer Depression lediglich zwei Stunden täglich arbeiten. Das Leistungsbild bestehe seit Rentenantragstellung; insoweit müsse man den Befunden des Dr.S. einfach glauben. Eine weitere nervenärztliche Therapie sei dringend erforderlich. Die Situation könne sich aber mittelfristig wieder bessern.

Die Beklagte ließ hierzu durch die Psychiaterin und Dipl.Psychologin W1. am 30.03.2004 Stellung nehmen; sie hielt die zeitliche Leistungseinschränkung nicht für schlüssig und nachvollziehbar. Der Bevollmächtigte der Klägerin sah eine andauernde Erwerbsminderung als gegeben an und behauptete, die höchstrichterliche Rechtsprechung anerkenne bereits bei Analphabetismus Erwerbsunfähigkeit (BSG vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R).

Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 16.06.2004 ab. Es verwies unter anderem darauf, dass sich nach der Krankheitsgeschichte einmal eine kurzfristige, aber nicht anhaltende Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin ergeben habe, und im Übrigen der behandelnde Psychiater den Schwerpunkt der Gesundheitsstörungen im orthopädischen Bereich angesiedelt habe. Die seelisch-bedingten Störungen der Klägerin seien nicht so gravierend, als dass sie nicht mehr durch eigene Willensentschlüsse behebbar seien. Insgesamt habe Dr.L1. das Ausmaß der Störungen der Klägerin nicht überzeugend dargelegt, so dass dem Gutachten der Dr.A. und der Stellungnahme der Dr.W1. zu folgen sei. Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert (§ 43 des Sozialgesetzbuches Teil VI - SGB VI); es bestehe auch keine Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs.2 SGB VI. Aus der Tatsache allein, dass die Klägerin Analphabetin sei, lasse sich kein Rentenanspruch ableiten. Sie könne zahlreiche ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, einfaches Bedienen einfacher Maschinen sowie Kleben und Verpacken von Kleinteilen, verrichten.

Mit dem Rechtsmittel der Berufung trägt der Bevollmächtigte der Klägerin erneut deren vielfältige Beschwerden vor. Sie sei wegen psychischer und physischer Beschwerden (Depression, Wirbelsäule) erwerbsunfähig. Bei der Beurteilung ihrer Fähigkeiten sei zu berücksichtigen, dass sie Analphabetin sei und kein Deutsch spreche. Zur Begründung der Berufung legt er einen Arztbrief des Neurologen Dr.Sch. vom 12.12.2000 vor, der berichtete, dass laut Kernspin vom 11.12.2000 eine Bandscheibenprotrusion bei den Halswirbelkörpern 5/6 und 4/5 vorlägen; nach klinischen Untersuchungen und technischen Messungen ergäbe sich kein neurologisches Defizit, die diesbezüglichen Befunde bewegten sich im Normbereich. Es liege ein Cervicalsyndrom mit intermittierender Wurzelreizung vor; die Beschwerden würden akzentuiert im Sinne einer funktionellen Überlagerung durch eine depressive Verstimmung.

Der Senat hat die Leistungsakte des Arbeitsamts Neu-Ulm, des Arbeitsgerichts Augsburg 8 Ca 1113/01 N sowie die Versicherten-, Kontoklärungs- und Rehabilitationsakten der Beklagten beigezogen, weiterhin Befundberichte vom Orthopäden Dr.W. , vom Orthopäden Dr.S. und von der Allgemeinärztin Dr.L. eingeholt. Der Neurologe Dr.Sch. hat auf Anfrage mitgeteilt, dass die Klägerin bei ihm seit 07.03.2001 nicht mehr in Behandlung gewesen sei.

Die Beklagte hatte zwischenzeitlich vom 27.09. bis 08.11.2004 ein Heilverfahren in der R.-Klinik, Psychosomatisch-Psychotherapeutische Abteilung für türkische Migranten, durchführen lassen. Die dortigen Ärzte kamen bei den Diagnosen "rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige Episode und Somatisierungsstörung" zu dem Ergebnis, die Klägerin könne sechs Stunden und mehr mittelschwere Arbeiten ständig im Gehen oder Sitzen oder Stehen und in Tag-, Nacht- und Wechselschicht verrichten; wesentliche qualitative Einschränkungen ergäben sich nicht. Für die Zukunft werde eine ambulante Psychotherapie, eine weitere Gewichtsreduktion und eine ambulante psychiatrische Weiterbetreuung vorgeschlagen.

Die Klägerin beantragt laut dem (vom Senat sinngemäß ergänzten) Schriftsatz vom 03.09.2004, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils vom 16.06.2004 (und des Bescheides vom 11.04.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2002) zu verurteilen, ihr ab Antragstellung eine Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat lagen zur Entscheidung die Prozessakten beider Rechtszüge und die oben angeführten Akten und Unterlagen vor. Hierauf wird zur Ergänzung des Tatbestands, insbesondere hinsichtlich des Inhalts der ärztlichen Unterlagen und Gutachten, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143 ff., 151 SGG) ist zulässig, aber unbegründet.

Auch der Senat ist zu der Überzeugung gekommen, dass der Klägerin kein Rentenanspruch zusteht. Sie erfüllt zwar die Wartezeit und die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs.1 Nr.2 und Abs.2 Nr.2 SGB VI in der Zeit ab Rentenan- tragstellung bis zur mündlichen Verhandlung. Die medizinischen Voraussetzungen sind aber nicht gegeben.

Teilweise erwerbsgemindert ist der Versicherte, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und voll erwerbsgemindert der Versicherte, der unter den gleichen Voraussetzungen außer Stande ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs.1 Satz 2 und Abs.2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs.2 SGB VI).

Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsfähigkeit erhält auch der Versicherte, der vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig ist (Übergangsvorschrift des § 240 Abs.1 SGB VI). Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderungen im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240 Abs.2 SGB VI).

Die dargelegten medizinischen Tatbestände liegen bei der Klägerin seit Stellung des Rentenantrags bis heute nicht vor, weil sie trotz ihrer Gesundheitsstörungen mehr als sechs Stunden täglich leichte und mittelschwere Arbeiten - bei wenigen qualitativen Einschränkungen - verrichten kann. Damit sind die Voraussetzungen der vollen und teilweisen Erwerbsminderung nicht erfüllt. Dies gilt auch für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Wenn auch der Klägerin die bisherige Tätigkeit als Packerin und Reinigungskraft wegen der vorgetragenen, teilweise schweren Verrichtungen (Obstkisten von 20 kg heben und tragen) nicht mehr möglich ist, so kann sie aber leichtere Tätigkeiten ungelernter Art mindestens sechs Stunden lang verrichten.

Maßgebende Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Gebiet bestehen nicht. Aufgrund der röntgenologischen Befunde ergeben sich bereits degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule. Laut Computertomogramm vom 12.12.2000 (siehe Befundbericht des Dr.Sch. vom 12.12.2000) bestanden damals Bandscheibenprotrusionen (Vorwölbung der Bandscheibe, kein Vorfall) bei den Halswirbelkörpern 5/6 und 4/5, wobei die körperliche Untersuchung kein manifestes neurologisches Defizit ergab; auch spätere Röntgenfilme und Computertomogramme weisen auf degenerative Veränderungen hin, wobei die Nervenaustrittspunkte aber nicht tangiert waren. Im klinischen Bereich werden die röntgenologischen Befunde ergänzt durch eine Klopfschmerzhaftigkeit der Wirbelkörper und eine endgradig schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit des Kopfes. Erklärbar sind daher durchaus Beschwerden in der Halswirbelsäule auch mit Ausstrahlung in die Arme, Missempfindungen bzw. Taubheitsgefühl in den Fingern und die Unmöglichkeit, die Arme voll über den Kopf zu heben. Allerdings kann es sich hierbei nur um ein kürzer dauerndes, wenn auch wiederholt auftretendes Cervicalsyndrom mit intermittierender Wurzelreizung handeln, und sind die von der Klägerin bei den ärztlichen Sachverständigen und über ihren Rechtsanwalt bei Gericht vorgebrachten Beschwerden im Sinne eines Dauerzustands unglaubhaft.

Ein Wurzelreizsyndrom wurde von den Ärzten lediglich nach anamnestischen Angaben der Klägerin angenommen und diagnostiziert; jedoch sind in allen ärztlichen Gutachten und in den die Zeit ab 2002 betreffenden Arztbriefen ein aktuelles Wurzelreizsyndrom oder neurologische Ausfälle nicht beschrieben; einschlägige Befunde waren nicht feststellbar, weder bei den körperlichen Untersuchungen der Klägerin noch mit Hilfe technischer Befunde.

Orthopädische Behandlungen des Phänomens - der Neurologe Dr.Sch. hatte eine konservative Behandlung durch einen Orthopäden empfohlen - fanden auch höchst selten statt, gelegentlich ein- bis zweimal pro Jahr und ab Juli 2003 bis Dezember 2004 überhaupt nicht. Der Orthopäde Dr.S. hatte die Klägerin nur im Juni 2002 untersucht, aber nicht hinsichtlich der Wirbelsäule. Der Orthopäde Dr.W. bestätigte in seinen Befundberichten vom 02.12.2002 und vom 29.12.2004 eine unregelmäßige Behandlung, davon aber wegen Schulter-Nacken-Beschwerden nur im Juli 2000, Oktober 2001 und Juli 2002 (Kopfbewegung schmerzhaft; Schulter-Arm-Beweglichkeit frei; Kraft in beiden Händen erhalten). Wesentliche anhaltende Funktionsstörungen sind über Jahre hinweg nicht festgestellt oder beschrieben worden. Ins Bild passt auch die Tatsache, dass nach wiederholten Angaben der Klägerin Krankengymnastik, Behandlung mit Massage und Fango und sonstige Anwendungen nicht oder allenfalls in geringem Umfang und nur ganz kurzzeitig den angeblichen Beschwerden abhalfen. Die Klägerin trägt konstant ein Beschwerdebild vor, das allenfalls gelegentlich und kürzere Zeiträume bestanden haben kann, das aber aus orthopädischer und neurologischer Sicht als Dauerzustand nicht feststellbar und nicht erklärbar ist. Die von ihr behauptete Einschränkung der Beweglichkeit der Arme und der Missempfindungen sind im Übrigen durch die Untersuchungen der gerichtlichen Sachverständigen und auch die Feststellungen des behandelnden Orthopäden sowie des Neurologen widerlegt.

Entsprechendes gilt für die von der Klägerin nicht so häufig und intensiv vorgetragenen Beschwerden in der Brust- und Lendenwirbelsäule. Insoweit fand eine Behandlung laut Dr.W. nur am 20.07.2003 (schmerzhafte Bewegungseinschränkung, keine neurologischen Ausfälle) nach Behandlung am 08.02.2000 wegen Sturzes in der Arbeit statt. Die Untersuchung am 08.02.2000 ergab nur eine Prellung der Wirbelsäule, wobei ein alter, stabil verheilter Deckplatteneinbruch des Lendenwirbelkörpers 1 festgestellt wurde, der selbst ohne irgendwelche Auswirkungen war. Wenn die Klägerin ehemals ihre Lendenwirbelsäulenbeschwerden auf einen Arbeitsunfall zurückführen wollte, so lag dies weit neben der Sache.

Bis heute konnten maßgebliche Befunde auf orthopädischem oder neurologischem Gebiet nicht festgestellt werden, ebenso wenig eine wesentliche Einschränkung der Beweglichkeit (vgl. z.B. das Gutachten des Dr.R. zu fehlenden Bewegungseinschränkungen bei den zum Teil "etwas zähen" bis zu "sehr zähen" Bewegungen, wobei aber letztlich kein Defizit feststellbar gewesen ist; erstaunlich erscheint insoweit der trotz Übergewichts der Klägerin gemessene Finger-Boden-Abstand von 15 cm im Vergleich zu einem Normwert von 0 bis 20 cm).

Die gelegentlichen Beschwerden und Bewegungseinschränkungen der Klägerin infolge eines Cervical- und Lendenwirbelsäulen-Syndroms können bei seltenen akuten Zuständen Zeiten der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit begründen, sind aber bei ihrer kürzeren, weit unter sechs Monaten liegenden Dauer nicht geeignet, als anhaltende Gesundheitsstörung die Erwerbsfähigkeit wesentlich einzuschränken. Zu vermeiden sind lediglich körperlich schwere Arbeiten sowie Arbeiten über Kopf und in unphysiologischer Zwangshaltung der Wirbelsäule.

Die "Perpetuierung" organisch-bedingter Gesundheitsstörungen ist im psychiatrischen Bereich zu suchen (Somatisierungsstörung). Dies ergibt sich aus den Gutachten der Dr.A. und des Dr.L1. sowie nicht zuletzt aus dem Entlassungsbericht zu dem im Herbst 2004 durchgeführten Heilverfahren, in dem bei relativ geringen orthopädischen und neurologischen Befunden (Rundrücken, Finger-Boden-Abstand 25 cm, Klopf- und Druckschmerz über der Hals- und Lendenwirbelsäule, Myogelosen des Trapeziusdreiecks, Lasègue und umgekehrter Lasègue beidseits negativ, Gelenke reizlos, schmerzfrei und normal beweglich; laut Angaben der Klägerin hätten die Anwendungen wenig geholfen) die psychiatrische Untersuchung eine endogene Depression mit erheblicher Somatisierung ergab.

Insoweit schließt sich der Senat im Wesentlichen den Ausführungen der Dr.A. an und vermag der Leistungsbeurteilung des Dr.L1. nicht zu folgen; zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat insoweit zunächst auf die Ausführungen des Sozialgerichts (§ 153 Abs.2 SGG). Wenn die Bevollmächtigte der Klägerin das Gutachten der Dr.A. deswegen rügt, weil diese im Gegensatz zum behandelnden Arzt Dr.S. und zum Sachverständigen Dr.L1. eine Depression nicht festgestellt haben sollte, so ist das so nicht richtig. Zum einen ist anhand der gesamten Krankengeschichte festzustellen, dass bei leichteren Störungen gelegentlich und vorübergehend ein ausgeprägtes depressives Syndrom zutage getreten ist, dieses aber nicht anhaltend war; das Erscheinungsbild der Klägerin zeigte sich z.B. während der durchgeführten beiden Heilverfahren und bei den Untersuchungen durch Dr.R. und Dr.A. nicht so gravierend. Zum anderen hat Dr.A. lediglich die ausgeprägte somatoforme Störung im Vordergrund gesehen und zum Zeitpunkt der Untersuchung eine eigenständige depressive Störung nicht feststellen können. Letztlich bestätigte sie aber die Richtigkeit der im Rentenverfahren gestellten Diagnosen, damit auch die depressiven Verstimmungen. Der Senat sieht es als unerheblich für die Beurteilung des Erwerbsvermögens an, ob zwei selbständige Gesundheitsstörungen "nebeneinander" vorliegen oder die eine im Rahmen der anderen besteht; dies hat keine Auswirkung auf die Wertung der Gewichtigkeit der Gesundheitsstörungen und das Ausmaß der Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, die unabhängig von der Zuordnung der Gesundheitsstörungen ist.

Bei der Beurteilung der Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit konnte der Senat dem Ergebnis des Dr.L1., der im Übrigen das Schmerzsyndrom nur als mäßig bezeichnet hatte, nicht folgen. Ergänzend zu den Ausführungen des Sozialgerichts weist der Senat darauf hin, dass das depressive Syndrom bisher nicht zu einem sozialen Rückzug geführt hat, wie bereits Dr.R. in seinem Gutachten vermerkt hatte. Sicherlich ist hierbei zu berücksichtigen, dass das soziale Umfeld der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland durch Herkunft und eingeschränkte Sprachkenntnisse - nicht gesundheitsbedingt - von vornherein beschränkt ist. Aus den vorliegenden Gutachten und Heilverfahrensberichten ist aber zu entnehmen, dass die Klägerin neben Spazierengehen und häufigem Fernsehen auch Umgang mit ihren Kindern pflegt, die Nachbarin besucht und gerne auch in die Türkei fährt, um ihre dortigen Verwandten und Bekannten zu besuchen. Die Mühen eines solchen Besuchs - angegeben wurde eine Autofahrt und eine künftig geplante Reise per Flugzeug - nimmt die Klägerin durchaus auf sich, so dass es eher darum geht, Anstrengungen ohne positiven Gewinn (Haushaltsarbeiten) zu vermeiden (sekundärer Krankheitsgewinn).

Als weiteres Argument sieht der Senat den Umstand, dass die Klägerin eine zumutbare konsequente Medikation nicht durchführt. Angeblich sollen verschiedene Psychopharmaka nicht geholfen haben (z.B.Saroten), so dass das Medikament mehrfach gewechselt wurde (u.a. Doxepin und Fluvoxamin - siehe Arztbrief des Dr.S. vom 26.09.2001). Die Klägerin wies bei Dr.A. viele Medikamente vor, auch solche, die bereits durch andere ersetzt und nicht in Gebrauch waren (aktuell soll jetzt Fluvoxamin sein). Anlässlich des von September bis November 2004 durchgeführten Heilverfahrens gab die Klägerin unter anderem Amitryptilin an und im Übrigen, dass sie die verschriebenen verschiedenen Psychopharmaka nur zeitweise eingenommen habe.

Dies kann der Senat mit dem laut Dr.L1. angeblichen ausgeprägten, anhaltenden, eine Erwerbstätigkeit verhindernden Krankheitsbild nicht in Einklang bringen. Unabhängig davon sollte die Klägerin auch eine Medikation, falls sie notwendig wäre, durchführen. Es entstehen hier erhebliche Zweifel, ob sie entweder die ihr zumutbaren Schritte zur Linderung ihrer Gesundheitsstörungen nicht unternimmt oder der Medikamente, abgesehen von gelegentlichen Phasen, überhaupt nicht bedarf.

Ausschlaggebend dafür, dass der Senat die Leistungsbeurteilung der Dr.A. der Meinung des Dr.L1. vorgezogen hat, war aber letztlich die Bewertung des Leistungsvermögens der Klägerin durch die Ärzte der R.-Klinik Ende des Jahres 2004 mit mittelschweren Arbeiten für mehr als sechs Stunden. Die Klägerin stand hier sechs Wochen zu einer umfassenden abschließenden Leistungsbeurteilung zur Verfügung, und durch die Integration in die Abteilung für türkische Migranten konnten Missverständnisse sprachlicher Art und eine Fehlbewertung des klägerischen Vorbringens oder Verhaltens aufgrund der Zugehörigkeit zu einem anderen Kulturkreis vermieden werden. Nur nebenbei wird erwähnt, dass den Klinikärzten auch die Untersuchungsbefunde des Dr.L1. bekannt waren, wie im Entlassungsbericht angeführt wurde. Wenn die Ärzte der Klinik trotz der "negativen dysfunktionalen Gedanken der Klägerin" (eheliche Probleme), denen letztlich wegen mangelnder Introspektionsfähigkeit der Klägerin nicht abgeholfen werden konnte, trotz der festgestellten Minderung des Antriebs sowie der Schwingungsfähigkeit und nicht zuletzt trotz des Misserfolgs des Heilverfahrens (gegen Ende war nur eine leichte Besserung festzustellen) Arbeitsfähigkeit und auch ein vollschichtiges Leistungsvermögen bescheinigten, so muss der Senat sich dem aufgrund der länger dauernden Beobachtung der Klägerin durch fachkompetente Ärzte und Therapeuten anschließen. Diese haben ihr Ergebnis, ohne die depressive Störung und die Somatisierungsstörung der Klägerin zu verkennen oder gering zu bewerten, schlüssig und überzeugend begründet. Andere sowohl neue als auch abweichende Gesichtspunkte waren aus den vom Senat beigezogenen sonstigen ärztlichen Unterlagen der behandelnden Ärzte nicht zu gewinnen.

Der Senat vermag nur das feststehende vollschichtige Erwerbsvermögen der Klägerin für körperlich leichte und mittelschwere Tätigkeiten - im Hinblick auf die psychischen Störungen vorsorglich - insoweit zu ergänzen, als Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit (u.a. Akkordarbeit) zu vermeiden sind.

Mit ihrem Leistungsvermögen ist der Klägerin der Arbeitsmarkt nicht verschlossen. Berücksichtigt werden dürfen hierbei von vornherein nicht mangelnde Sprachkenntnisse. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat dieses Kriterium außer Acht zu bleiben, weil es im Ergebnis auf eine ungerechtfertigte Besserstellung der ausländischen Versicherten hinauslaufen und der Rentenversicherung ein prinzipiell unkalkulierbares Risiko aufbürden würde (vgl. u.a. BSG vom 15.05.1991 - 5 RJ 92/89 in SozR 3-2200 § 1246 Nr.11).

Der Analphabetismus selbst stellt - jedenfalls im Falle der Klägerin - weder eine Krankheit noch eine (gesundheitliche) Behinderung dar. Gleichwohl kann er in Zusammenhang mit gesundheitsbedingten Einschränkungen des Erwerbsvermögens den Arbeitsmarkt unzugänglich machen (so BSG vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R in SozR 4-2600 § 44 Nr.1). An dieser Meinung, auf die sich die Klägerin berufen hat, hat der jetzt entscheidende Senat Zweifel, weil auch fehlende Sprachkenntnisse, fortgeschrittenes Alter und Langzeitarbeitslosigkeit keine (gesundheitsbedingten) Umstände sind, die allein für sich oder in Zusammenhang mit Krankheiten bzw. körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderungen bei der Beurteilung der Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarkts zu berücksichtigen sind. Legt der Senat gleichwohl die Auffassung des 5. BSG-Senats zugrunde, so ergibt sich aber dennoch keine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen", die eine Prüfung konkreter Verweisungstätigkeiten veranlasst hätte und bei Fehlen solcher konkreten Tätigkeiten zu dem Schluss führen würde, der Arbeitsmarkt wäre der Klägerin verschlossen. In dem Urteil des BSG vom 10.12.2003 lag der Sachverhalt wesentlich anders als in der jetzigen Berufung. Die dortige Klägerin konnte gesundheitsbedingt nur noch leichte körperliche Arbeiten verrichten, so dass das weite Feld der Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts, die Lesen und Schreiben nicht oder nicht unbedingt erfordern, entscheidend eingeengt war. Vorliegend genügt aber die Feststellung, dass das Restleistungsvermögen der Klägerin körperlich mittelschwere und leichte Arbeiten (mit wenigen zusätzlichen qualitatitven Einschränkungen) erlaubt, z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken leichter Gegenstände, wie z.B. Arzneimittel und Zusammensetzen von Teilen (BSG a.a.O. und Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19.12.1996 - GS 2/95 in SozR 3-2600 § 44 Nr.8 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung aller Umstände war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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