S 9 KR 10/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Bayreuth (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 9 KR 10/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 12.07.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2004 verurteilt, dem Kläger für das Jahr 2004 weitere 34,44 Euro zu erstatten.

II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung geleisteter Zuzahlungen.

Der am 09.07.1957 geborene Kläger ist verheiratet mit der am 26.11.1962 geborenen Frau C. F. und hat zwei Kinder: einen Sohn F., geboren am 04.05.2000, und eine Tochter U., geboren am 03.03.2002.

Am 22.03.2004 stellte der Kläger einen Antrag auf Befreiung von Zuzahlungen und wies bereits geleistete Zuzahlungen in Höhe von 40,00 EUR nach. Als Einkommen gab er an, aus einer Rente monatlich brutto 665,52 EUR zu erzielen, im Jahr 2003 habe er zudem Zinseinkünfte in Höhe von 0,20 EUR gehabt. Seinem Antrag legte er eine Bescheinigung seines Hausarztes Dr. K. bei, der zufolge der Kläger an einer schwerwiegenden chronischen Krankheit leidet.

Durch Bescheid vom 12.07.2004 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Belastungsgrenze 34,44 EUR betrage und ihm daher 5,56 EUR erstattet würden.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und brachte zur Begründung vor, dass er keinerlei Zuzahlungen zu leisten habe, da die nach § 62 Abs. 2 SGB V vorgesehenen Freibeträge höher lägen als seine Einnahmen.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 22.12.2004 mit der Begründung zurück, dass eine Sozialhilfe beziehende Familie im Jahr 2004 Zuzahlungen auf der Grundlage eines Regelsatzes von 287,00 EUR zu leisten habe. Beim Kläger müsse nach einer Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 19.01.2004 analog § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V ebenfalls dieser Betrag als Einkommen angesetzt werden, so dass sich hieraus eine Zuzahlungspflicht in Höhe von 34,44 EUR (287,00 EUR x 12 = 3.444,00 EUR, hiervon 1 %) ergebe.

Hiergegen hat der Kläger am 18.01.2005 Klage beim Sozialgericht Bayreuth erhoben. Er verweist darauf, dass die von der Beklagten zitierte Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen nicht verbindlich sei. Für die analoge Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V fehle es an einer planwidrigen Regelungslücke.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 12.07.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.12.2004 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2004 weitere 34,44 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist darauf, dass der Gesetzgeber durch die zum 01.01.2004 erfolgte Gesetzesänderung habe erreichen wollen, dass anstelle vorheriger vollständiger Befreiung für jeden Versicherten nun eine Zuzahlungspflicht bestehen bleibe. Andernfalls würde auch der Gleichheitsgrundsatz verletzt.

Den von der Beklagten für das Jahr 2005 vorgelegten Verwaltungsunterlagen ist zu entnehmen, dass der Kläger im Jahr 2004 keine Zinseinkünfte hatte.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gesamtakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind, soweit dem Antrag des Klägers nicht entsprochen wurde, rechtswidrig und verletzen diesen daher in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf vollständige Erstattung der von ihm geleisteten Zuzahlungen.

Nach § 62 Abs. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches - SGB V - in der ab 01.01.2004 geltenden Fassung haben Versicherte während jedes Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze zu leisten; wird die Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Jahres erreicht, hat die Krankenkasse eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Die Belastungsgrenze beträgt 2 v.H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 v.H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Die weitere Dauer der in Satz 2 genannten Behandlung ist der Krankenkasse jeweils spätestens nach Ablauf eines Kalenderjahres nachzuweisen und vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, soweit erforderlich, zu prüfen. Das Nähere zur Definition einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92.

Nach § 62 Abs. 2 SGB V in der ab 01.01.2004 geltenden Fassung werden bei der Ermittlung der Belastungsgrenzen nach Abs. 1 die Zuzahlungen und die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt der mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten und des Lebenspartners jeweils zusammengerechnet. Hierbei sind die jährlichen Bruttoeinnahmen für den ersten in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten um 15 v.H. und für jeden weiteren in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten und des Lebenspartners um 10 v.H. der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches zu vermindern. Für jedes Kind des Versicherten und des Lebenspartners sind die jährlichen Bruttoeinnahmen um den sich nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes ergebenden Betrag zu vermindern; die nach Satz 2 bei der Ermittlung der Belastungsgrenze vorgesehene Berücksichtigung entfällt. Zu den Einnahmen zum Lebensunterhalt gehören nicht Grundrenten, die Beschädigte nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach anderen Gesetzen in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes erhalten sowie Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Körper und Gesundheit gezahlt werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz. Abweichend von den Sätzen 1 bis 3 ist bei Versicherten, 1. die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz oder im Rahmen der Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach anderen Gesetzen in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes oder Leistungen nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten, 2. bei denen die Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung von einem Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge getragen werden sowie für den in § 264 genannten Personenkreis als Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nur der Regelsatz des Haushaltsvorstandes nach der Verordnung zur Durchführung des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (Regelsatzverordnung) maßgeblich.

Nach diesen Vorschriften trifft den Kläger keine Zuzahlungspflicht bzw. hat die Beklagte dem Kläger sämtliche Zuzahlungen zu erstatten, denn das Einkommen des Klägers und der mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen (12 x 655,52 EUR = 7.866,24 EUR) erreicht nicht die in § 62 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB V festgelegten Freibeträge (4.347,00 EUR + 2 x 3.648 EUR = 11.643 EUR).

Eine analoge Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V auf den Kläger ist nicht zulässig. Es fehlt bereits an einer Regelungslücke. Zwar hat der Gesetzgeber durch die Neuordnung der Regelungen zur Belastungsgrenze bei Zuzahlungen generell eine Belastungsgrenze vorgesehen, so dass grundsätzlich jeden Versicherten auch eine Zuzahlungspflicht trifft, die näheren Ausführungen in § 62 Abs. 2 Satz 1 bis 3 SGB V zeigen jedoch, dass Familien durch die Einräumung von Freibeträgen für Angehörige (denn es gibt nur Freibeträge für Angehörige) einen besonderen Schutz erfahren sollen (vgl. auch BT-Drucksache 15/1525 S. 77, 95). Die Anwendung des § 62 SGB V auf Familien ergibt, dass keine Zuzahlungspflicht besteht, wenn das Gesamteinkommen der Familie unterhalb der Freibeträge liegt. Dass dies ungewollt war, lässt sich § 62 SGB V und der Bundestagsdrucksache 15/1525 nicht entnehmen.

Eine analoge Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der Gleichbehandlung (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) geboten. Art. 3 GG fordert die Gleichbehandlung von Gleichem, nicht jedoch die Gleichbehandlung von Ungleichem.

Vorliegend liegen jedoch völlig unterschiedliche Personengruppen vor.

Zu bedenken ist hierbei schon, dass im Rahmen der Regelsatzverordnungen - also bei der Ermittlung des Bedarfs eines Sozialhilfeempfängers - berücksichtigt wird, dass Sozialhilfeempfänger seit 01.01.2004 nach § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V zuzahlungspflichtig sind (vgl. etwa Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.03.2004, 12 ME 64/04: "Mit der Änderung der §§ 37, 38 BSHG sowie von § 1 Abs. 1 Satz 2 der Regelsatzverordnung durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GMG - vom 14.11.2003 (BGBl I S. 2190 ff) sind Praxisgebühr sowie Zuzahlungen für Arznei-, Verbandmittel und Fahrkosten Bestandteil der Regelsatzleistungen geworden. Die Gewährung einmaliger Beihilfen für diesen Bedarf - auf der Grundlage der §§ 11, 21 BSHG - scheidet aus."). Hieraus folgt, dass bei der Bildung der ab 01.01.2004 geltenden Regelsätze bereits die Zuzahlungspflicht von Sozialhilfeempfängern berücksichtigt wurde, so dass hieraus nicht gefolgert werden kann, dass bei sonstigen Krankenversicherten eine Zuzahlungspflicht vorhanden sein muss.

Eine Vergleichbarkeit von einkommensschwachen Familien mit Sozialhilfe beziehenden Familien ist auch deshalb nicht gegeben, da einkommensschwache Familien bereits Beiträge zur Krankenversicherung von ihrem Bruttoeinkommen zu entrichten haben.

Im übrigen fehlt es auch an einer Ungleichbehandlung, die eine Gleichbehandlung gebieten könnte, denn der Kläger und seine Familie wird auch bei Nichtanwendung des § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V nicht besser gestellt als eine Sozialhilfe beziehende Familie, denn das Gesamteinkommen der Familie des Klägers liegt unterhalb von dem, was eine Sozialhilfe beziehende Familie zum Lebensunterhalt aufgrund der Regelsatzverordnung zur Verfügung hat, denn nach der Regelsatzverordnung für 2004 erhielt eine vierköpfige Sozialhilfe beziehende Familie einen Regelsatz von 100 % für den Haushaltsvorstand, einen Regelsatz von 80 v.H. des Regelsatzes für die Ehefrau (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 4 der Regelsatzverordnung) und für jedes Kind je 50 v.H. des Regelsatzes (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1 der Regelsatzverordnung), so dass sich hieraus für eine Sozialhilfe beziehende Familie ein Jahreseinkommen in Höhe von 9.643,20 ¤ (2,8 x 3444 EUR) ergibt, der Familie des Klägers standen im Jahr 2004 hingegen nur 7.866,24 ¤ (12 x 655,52 ¤) zur Verfügung.

Weder liegt somit eine Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte vor, noch liegt eine Besserstellung der Familie des Klägers vor, noch kann von einer ungewollten Regelungslücke die Rede sein.

Eine analoge Anwendung von § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V in dem von den Spitzenverbänden vorgeschlagenen Sinne ginge auch über das Schließen einer Regelungslücke hinaus, da nach den Vorstellungen der Spitzenverbände nicht nur einzelne, weitere Personengruppen in eine bestimmte Ausnahmevorschrift einbezogen werden sollen, sondern durch die analoge Anwendung eine allgemeine unterste Belastungsgrenze geschaffen werden soll (vgl. die Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 19.01.2004: " ... erscheint es sachgerecht, wenn dieser Regelsatz generell als Mindestsatz für die Berechnung der Belastungsgrenze durch die Krankenkasse angesetzt wird").

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes &8211; SGG -.

Die Berufung war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat(vgl. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG), da aufgrund der Verlautbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 19.01.2004 in der Verwaltungspraxis in einer Vielzahl von Fällen wie im vorliegenden Fall verfahren wird.
Rechtskraft
Aus
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