L 19 R 237/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 403/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 237/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.02.2003 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22.02.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2002 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1949 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er hat in der Türkei als Weber (ohne abgeschlossene Berufsausbildung) und in Deutschland als Webereiarbeiter, Maschinenarbeiter und zuletzt von Januar 1988 bis August 1997 als Keramikpolierer gearbeitet. Am 27.08.1997 hat er in der Türkei einen Verkehrsunfall erlitten, bei dem er multiple Verletzungen erlitt, während seine Ehefrau und eine seiner Töchter zu Tode kamen. Seit dem Unfall ist der Kläger arbeitsunfähig und arbeitslos.

Einen ersten Rentenantrag des Klägers vom 29.07.1998 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.11.1998 und Widerspruchsbescheid vom 11.04.1999 ab. Das anschließende Klageverfahren Az. S 10 RJ 403/99 SG Nürnberg wurde durch Klagerücknahme am 04.08.2000 beendet, nach einer Begutachtung des Klägers durch den Nervenarzt Dr.B ...

Am 03.12.2001 beantragte der Kläger erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte ließ ihn untersuchen durch den Sozialmediziner Dr.H. und lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 22.02.2002 ab. Der Kläger sei noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Bescheid vom 22.05.2002 nach ärztlicher Überprüfung durch Dr.L. zurück.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 31.05.2002 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Das SG hat Befundberichte des Allgemeinarztes Dr.J. (mit weiteren ärztlichen Unterlagen: u.a. Berichte vom Krankenhaus N.P., des Urologen Dr.K. und des Radiologen Dr.St.) und des Orthopäden Dr.B. zum Verfahren beigenommen.

Im Auftrag des Gerichts hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H1. das Gutachten vom 04.12.2002 nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstattet. Er diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung, eine andauernde Persönlichkeitsveränderung und eine mittelgradige chronisch rezidivierende Depression mit somatischem Anteil sowie neurologisch eine Bewegungseinschränkung von HWS und LWS, eine sensible diabetische Polyneuropathie und eine posttraumatische Schädigung des Nervus peronaeus links. Der Sachverständige erachtete den Kläger nur noch für fähig, im Umfang von weniger als drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der beschriebene Zustand und das daraus resultierende Leistungsbild bestehe seit Antragstellung am 03.12.2001. Der Verlauf sei inzwischen chronifiziert, so dass auch keine begründete Aussicht auf Besserung bestehe.

Die Beklagte hat zu dem Gutachten Stellung genommen durch den Nervenarzt Dr.M1., der Zweifel an der Leistungseinschätzung durch Dr.H1. äußerte und das im vorausgegangenen Gerichtsverfahren durch Dr.B. erstellte Gutachten für zutreffend erachtete. Er hat insoweit eine weitere nervenärztliche Begutachtung des Klägers angeregt. Mit Urteil vom 25.02.2003 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines am 03.12.2001 eingetretenen Leistungsfalles ab 01.01.2002 auf unbestimmte Zeit zu leisten. Das SG hat sich der Leistungsbeurteilung durch Dr.H1. angeschlossen, der die vorliegenden Befunde gewürdigt und seine Beurteilung schlüssig begründet habe. Die Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten seien beim Kläger weitgehend ausgeschöpft.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 24.04.2003 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Diese bemängelt, dass das SG keine weitere medizinische Sachaufklärung betrieben habe. Der Kläger sei in der Gemeinschaftspraxis Dres.H1., H2. u.a. behandelt worden und der Sachverständige habe sich in seinem Gutachten auch auf die Karteikarte seiner Praxiskollegin Dr.H2. gestützt, von deren Inhalt weder das SG noch die Beklagte Kenntnis hätten. Auch Dr.H2. habe beim Kläger ein deutliches Rentenbegehren gesehen (Bericht an den Hausarzt Dr.J. vom 19.12.2000).

Der Senat hat einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.J. vom 27.01.2004 eingeholt, der auch weitere ärztliche Unterlagen vorlegte: Bericht des Radiologen Dr.Simon, CT der LWS vom 13.01.2004; Berichte der Nervenärztin Dr.H2. vom 24.07.2000, 19.12.2000 und Krankenhausbericht vom 28.05.2002. Von der Nervenärztin Dr.H2. hat der Senat den gesonderten Befundbericht vom 29.01.2004 eingeholt. Auf Veranlassung des Senats hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.H2. vom Klinikum der Stadt Nürnberg das Gutachten vom 18.11.2004 nach zweimaliger Untersuchung des Klägers erstattet. Ihm haben dabei auch ein Bericht des Krankenhauses R. Neurolog. Klinik, vom 16.03.2004 und ein weiterer Bericht der Nervenärztin Dr.H2. vom 17.06.2004 vorgelegen. Dr.H2. hat folgende Diagnosen genannt: 1. Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode,

2. posttraumatische Belastungsstörung,

3. Zustand nach Atlasbogen-Fraktur 1997,

4. Spondylolysthese L5/S1 Grad I nach Meyerding,

5. Diabetes mellitus Typ II,

6. Verdacht auf diabetische Polyneuropathie.

Der Sachverständige erachtete den Kläger für fähig, leichte, gelegentlich auch mittelschwere Arbeiten täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Vermieden werden sollten dabei länger dauernde Zwangshaltungen und nervlich belastende Tätigkeiten. Therapeutische Maßnahmen sollten intensiviert werden, was zunächst die ambulante Therapie betreffe, ggf. auch eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Akutklinik. Die Beklagte hat sich in ihrer Stellungnahme vom 23.12.2004 der Leistungseinschätzung durch Dr.H2. angeschlossen. Der Kläger hat sich zur Begutachtung nicht geäußert.

Der Vertreter der Beklagten beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.02.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Hilfsweise beantragt er für den Fall, dass heute nicht endgültig entschieden wird, den Beschluss des Senates vom 26.01.2004 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Berufung anzuordnen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt er, eine Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigen Dr.H1. zu dem Gutachten Dr.H2. einzuholen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakten des SG Nürnberg sowie die Schwerbehinderten-Akte des AVF Nürnberg (GdB = 60, ohne Merkzeichen) vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich auch als begründet. Dem Kläger steht Rente wegen voller oder auch nur teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nicht zu, da er noch in der Lage ist, leichte und gelegentlich auch mittelschwere Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Die dem Kläger noch zumutbaren Berufstätigkeiten können vorwiegend im Sitzen sowie im Wechsel von Stehen, Sitzen und Gehen verrichtet werden. Nervlich belastete Tätigkeiten sollten dagegen vermieden werden, insbesondere Arbeiten unter Zeitdruck, solche mit besonderen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen sowie Tätigkeiten in Nachtschicht.

Dies ergibt sich für den Senat aus der Begutachtung des Klägers durch Dr.H2 ... Der Sachverständige hat den Zustand des Klägers seit 2001 (letzte Rentenantragstellung) als unverändert bezeichnet und stimmt im Ergebnis der Leistungsbeurteilung mit den vorausgegangenen Gutachten von Dr.B. vom 15.11.1999 (mit ergänzender Stellungnahme vom 10.07.2000) und dem Entlassungsbericht der K.-Klinik vom 09.05.2000 (stationärer Aufenthalt des Klägers vom 09.03. bis 06.04.2000) überein. In beiden Gutachten wie auch im Bericht über die Reha-Maßnahme konnten keine dauerhaften Leistungseinbußen beim Kläger erkannt werden, was das psychiatrische Gebiet betrifft. Soweit Funktionseinschränkungen angegeben wurden, bezogen sich diese hinsichtlich der Schwere der Arbeiten auf das chirurgisch-orthopädische Fachgebiet.

Es soll nicht angezweifelt werden, dass es sich auch bei Dr.H1. um einen sozialgerichtlich erfahrenen Sachverständigen handelt. Sowohl ihm wie auch später Dr.H2. haben Befundberichte und Verlaufskontrollen zum Befinden des Klägers, auch durch die Nervenärztin Dr.H2., zur Verfügung gestanden, wobei sich Dr.H1. zusätzlich auf Praxisunterlagen gestützt hat. Der wesentliche Unterschied im Ergebnis der Begutachtung durch Dr.H1. und Dr.H2. liegt darin, dass Dr.H1. beim Kläger bereits einen Zustand der vollen Erwerbsminderung auf Dauer annimmt, während Dr.H2., wie auch zuvor Dr.B., noch keine rentenrechtlich erhebliche zeitliche Leistungsminderung gesehen haben und weiterhin auf die Vordringlichkeit therapeutischer Bemühungen hingewiesen haben. Die von Dr.B. und auch von der K.-Klinik empfohlenen Maßnahmen sind nach Dr.H2. nie konsequent umgesetzt worden. Als Grund für das Ausbleiben einer derartigen Behandlung hat er das Fehlen eines hinreichenden Leistungsdruckes gesehen. Dies spricht dann aber dafür, dass die Funktionsfähigkeit des Klägers im Alltag nicht so schwer beeinträchtigt sein kann. Auch Dr.H2. geht beim Kläger vom Vorliegen einer mittelschwer ausgeprägten depressiven Episode aus. Er führt aber überzeugend aus, dass Personen mit leichten depressiven Episoden ihre normale Berufstätigkeit und sozialen Aktivitäten in der Regel nicht vollständig aufgeben, Personen mit schweren Episoden diese Aktivitäten nicht oder nur sehr begrenzt fortführen können; im Allgemeinen sind Menschen, die an mittelschwer ausgeprägten Episoden leiden, meist, wenn auch oft unter erheblichen Schwierigkeiten, in der Lage, soziale häusliche oder berufliche Aktivitäten fortzusetzen. Dies gilt auch für den Kläger, wie Dr.H2. aus der Anamneseerhebung und dem Verlauf der Beschwerden abgeleitet hat. Auch erscheint es nicht gesichert, dass die Intensivierung von therapeutischen Maßnahmen nicht doch noch innerhalb absehbarer Zeit eine deutliche und nachhaltige Verbesserung des Zustandes beim Kläger herbeiführen kann. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass wesentliche Bereiche des Verhaltens des Klägers noch einer Willensbeeinflussung zugänglich sind; das Gegenteil ist nach der Auffassung von Dr.H2. keinesfalls belegt.

Die Leistungsbeurteilung aus dem Gutachten von Dr.H2. ist für den Senat überzeugend. Der Sachverständige hat den gesamten Krankheitsverlauf beim Kläger seit dem Unfallereignis überblickt und gewürdigt; er hat aus dem beim Kläger im Vordergrund stehenden depressiven Geschehen noch keine Leistungsminderung für Erwerbstätigkeiten auf weniger als 6 Stunden täglich abgeleitet.

Der Kläger ist demnach bei Auswertung aller vorliegenden Sachverständigengutachten und des Reha-Entlassungsberichtes aus Bad Dürkheim weder voll noch teilweise erwerbsgemindert i.S. des Gesetzes. Der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Kläger ist noch in der Lage, eine Vielzahl körperlich leichter und geistig einfacherer Erwerbstätigkeiten zu verrichten, wobei es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht bedarf.

Die Einholung einer Stellungnahme von Dr.H1. war für den Senat nicht veranlasst. Es wurde nicht aufgezeigt, zu welchen - für die Entscheidung des Rechtsstreits bedeutsamen - Tatsachen Dr.H1. befragt werden sollte. Die bloße Erwartung des Klägers, dass Dr.H1. bei seiner im Gutachten geäußerten Leistungseinschätzung verbleiben wird, rechtfertigt nicht dessen erneute Anhörung.

Da der Rentenantrag des Klägers im Ergebnis ohne Erfolg geblieben ist, haben die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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