L 18 SB 9/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 SB 567/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 9/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.11.2003 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger das Merkzeichen "Bl" zusteht.

Bei dem 1961 geborenen Kläger hatte das Versorgungsamt Nürnberg (AVF) mit Bescheid vom 15.11.1989 als Behinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 "Sehbehinderung" festgestellt und das Merkzeichen "RF" zuerkannt.

Einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom 03.05.2000 wegen Erblindung des rechten Auges lehnte das AVF am 18.10.2000 ab und wies den Widerspruch nach Beiziehung eines augenfachärztlichen Gutachtens des Prof. Dr.L. vom 24.11.2000 mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2001 mit der Begründung zurück, die Behinderung sei mit einem GdB von 60 richtig bewertet.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) hat der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, für seine Behinderungen mit Wirkung ab 06.02.2002 einen Gesamt-GdB von 100 festzustellen und ihm ab 06.02.2002 die Merkzeichen "B", "G" und "H" zuzuerkennen sowie mit Wirkung ab 12.09.2002 das Merkzeichen "Bl". Das SG hat Unterlagen der Augenklinik der Universität W. beigezogen und Gutachten der Augenärztin Dr.L1. vom 21.02.2002 / 03.06.2002 und des Direktors der Augenklinik der Universität W. Prof. Dr.G. vom 06.11.2002 / 06.06.2003 / 04.09.2003 eingeholt. Diese Sachverständigen haben einen GdB von 100 vorgeschlagen und Prof. Dr.G. hat zusätzlich ab 12.09.2002 (Zeitpunkt der Untersuchung) die Merkzeichen "Bl" und "H" für gegeben erachtet. Der Beklagte hat Stellungnahmen der Versorgungsärztin Pause vom 12.03.2002 / 02.07.2002 / 10.12.2002 / 09.07.2003 / 02.10.2003 vorgelegt und sich am 14.07.2003 bereit erklärt, für die Gesundheitsstörung "Sehbehinderung" ab 07.11.2000 einen GdB von 70 sowie zusätzlich die Merkzeichen "B" und "G" festzustellen. Der Kläger hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen.

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 25.11.2003 stattgegeben und sich dabei auf die Gutachten der Sachverständigen Dr.L1. und Prof. Dr.G. gestützt: Beim Kläger habe sich die zentrale Sehschärfe objektiv verschlechtert und es liege nunmehr eine hochgradige Sehbehinderung vor, die einen GdB von 100 bedinge. Der morphologische Befund der Netzhautmitte bzw. des ganzen hinteren Pols lasse die subjektiven Angaben des Klägers glaubhaft erscheinen. Die früher vorhandene Sehschärfe von 0,2 am besseren rechten Auge sei bei den eingehenden gutachterlichen Prüfungen auch nicht annähernd erreicht worden. Auf beiden Augen liege nunmehr eine Sehschärfe von 1/50 oder weniger vor. Deshalb stünden dem Kläger neben den unstreitigen Merkzeichen "G" und "B" die Merkzeichen "Bl" ab 12.09.2002 und "H" ab 06.02.2002 zu.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Der vom Senat mit augenärztlichem Gutachten vom 09.08.2004 / 12.01.2005 gehörte Prof. Dr.R. (H.) hat beim Kläger eine Funktionsminderung von seiten der Augen entsprechend einem GdB von 100 ab 06.02.2002 sowie die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "H", "RF", "B" und "G" festgestellt. Ab dem 12.09.2002 hat er - wie Prof. Dr.G. - die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" bejaht.

Der Beklagte hat daraufhin eine Stellungnahme des Prof. Dr.B- vom 12.11.2004 vorgelegt, wonach zwar Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Befundes nachvollziehbar seien, jedoch bei Zusammenfassung der Visus-Befunde der drei gerichtlichen Gutachten dieser Teil des Befundes recht schlüssig sei. Die Angaben des Klägers ließen sogar auf eine gute Mitarbeit schließen. Er gehe nicht davon aus, dass es in einem weiteren Gutachten möglich sei, zu beweisen, dass die vom Beklagten beanstandeten Gutachten nicht korrekt durchgeführt worden seien. Beim Kläger liege ohne Zweifel eine erhebliche Sehminderung vor. Eine Differenzierung zwischen 0,05, 1/25 oder 1/50 sei durch augenärztliche Untersuchung derzeit nicht möglich. Die Versorgungsärztin Pause hat in ihrer Stellungnahme vom 03.12.2004 ausgeführt, dass selbst die Annahme, dass mehr für Blindheit spreche, als dagegen, für den erforderliche Vollbeweis nicht ausreiche. Die für den Blindheitsnachweis erforderliche mit an Sicherheit grenzende Wahrschienlichkeit sei nicht gegeben, was nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Antragstellers gehe.

Prof. Dr.R. hat demgegenüber ausgeführt, dass zwar eine befriedigende Erklärung der Verschlechterung fehle, jedoch die glaubhaften Angaben des Klägers den morphologischen Befund vollständig erklärten. Alle objektiven Untersuchungsergebnisse seien mit den subjektiven Angaben kompatibel. Damit sei aus seiner Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Blindheit anzunehmen.

Der Beklagte hat daraufhin am 03.05.2005 unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme der Versorgungsärztin Pause vom 10.02.2005 die Berufung auf das Merkzeichens "Bl" beschränkt.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 25.11.2003 insoweit abzuändern, als der Beklagte verpflichtet wurde, mit Wirkung ab 12.09.2002 das Merkzeichen "Bl" zuzuerkennen. Außerdem beantragt er, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.11.2003 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter einverstanden erkärt.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die beigezogene Schwerbehinderten- und Blindengeldakte des Beklagten, die Gerichtsakte des SG Nürnberg (Az: S 16 Bl 1/03) sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das Urteil des SG Nürnberg vom 25.11.2003 ist nicht zu beanstanden.

Die Entscheidung ergeht im schriftlichen Verfahren durch den Berichterstatter, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 153 Abs 1 iVm § 124 Abs 2 und § 155 Abs 1, 3 und 4 SGG).

Das Merkzeichen "Bl" ist in den Ausweis i.S. des § 69 Abs 5 Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch blind ist i.S. des § 72 Abs 5 des Zwölften Buches (SGB XII) oder entsprechender Vorschriften (§ 3 Schwerbehindertenausweis-Verordnung idF des Art 56 Nr 1 G vom 19.06.2001 I 1046 [1131] mWv 01.07.2001).

Gemäß § 72 Abs 5 SGB XII stehen Personen blinden Menschen gleich, deren beidäugige Gesamtschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger.

Der Kläger ist - unstreitig - nicht "blind" i.S. des vollständigen Verlustes seines Sehvermögens. Nach den Feststellungen der Prof. Dr.R. / Dr.G. ist er jedoch blind i.S. einer hochgradigen Sehbehinderung, da die beste korrigierte Sehschärfe am besseren linken Auge lediglich 1/50 beträgt. Damit liegt eine Störung des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vor, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" gegeben sind.

Die hochgradige Sehbehinderung des Klägers bedarf als anspruchsbegründende Tatsache des Vollbeweises. Für diesen Beweisgrad ist es nicht erforderlich, dass die anspruchsauslösdenden Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch noch zweifelt, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (BSG SozR 3-3100 § 38 Nr 2 mwN).

Die hochgradige Sehbehinderung des Klägers ist durch die gerichtlichen Untersuchungsergebnisse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Unstreitig bestehen beim Kläger funktionell bedeutsame Veränderungen als Folge der erblichen Netzhauterkrankung. Hierbei handelt es sich um eine X-chromosomale Retinoschisis. Daneben liegt eine starke Fehlsichtigkeit i.S. einer Übersichtigkeit i.V.m. einer Hornhautverkrümmung vor. Der Befund am Augenhintergrund des rechten Auges mit einem durchgreifenden Makulaforamen erklärt die hochgradige Sehminderung. Bereits 1977 hat der Augenarzt Dr.Frank einen entsprechenden Befund erhoben, damals allerdings mit einer Sehschärfe von 0,25. Bis zum Jahr 2000 blieb diese Sehschärfe weitgehend unverändert. Die erstmals am 06.02.2002 durch die Augenärztin Dr.L1. festgestellte Sehschärfereduktion auf 1/50 haben die Prof. Dr.G. / Dr.R. bestätigt.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass besonders im 3. bis 4. Lebensjahrzehnt bei einer X-chromosomalen Retinoschisis eine wesentliche Verschlechterung der Sehschärfe eintritt. Auch wenn es nicht typisch ist, dass eine solche Verschlechterung bis zum Status der Blindheit führt, sind andererseits solche Fälle bekannt. Die elektrophysiologischen Untersuchungsergebnisse mit Elektroretinogramm und Ableitung visuell evozierter Potenziale untermauern die subjektiven Angaben des Klägers. Die Angaben des Klägers zur erheblichen Sehverschlechterung in der Zeit vom 07.11.2000 bis 06.02.2002 sind durch den morphologischen Befund vollständig erklärt. Zwar haben objektive Untersuchungsverfahren erhebliche Schwankungsbreiten, so dass im Grenzbereich zwischen Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung häufig keine sichere Differenzierung möglich ist. Deshalb ist bei der Wertung zu berücksichtigen, ob die Angaben des Klägers glaubhaft sind. Nicht nur die vom SG und vom Senat gehörten Sachverständigen, sondern auch der vom Beklagten um eine Stellungnahme gebetene Prof. Dr.B- haben festgestellt, dass die Angaben des Klägers auf eine gute Mitarbeit schließen lassen. Auch dass der Kläger sich in fremden Räumen relativ sicher bewegen konnte, schließt die Annahme einer hochgradigen Sehminderung nicht aus. Nach den Feststellungen des Prof. Dr.R. besteht beim Kläger an beiden Augen ein weitgehend freies Gesichtsfeld. Die wesentliche Funktionseinschränkung besteht in der Reduktion der zentralen Sehschärfe und nicht in peripheren Gesichtsfeldeinschränkungen. Der Senat sieht nach alledem keinen Anlass, an der Richtigkeit der Ausführungen des Prof. Dr.R. zu zweifeln. Sein Gutachten beruht auf der von ihm selbst durchgeführten Untersuchung und den weiteren aktenkundigen Untersuchungen des Klägers. Der Sachverständige hat alle Untersuchungsergebnisse sorgfältig und differenziert ausgewertet und für den Senat gut nachvollziehbar erklärt.

Unter Würdigung der Argumente der gehörten Ärzte ist zur Überzeugung des Senats mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die gesetzlich geforderten Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bl" vorliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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