L 19 R 365/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 3 RJ 274/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 365/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 29.04.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Altersrente nach erfolgter Beitragserstattung.

Der 1937 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei. Er hat in Deutschland in der Zeit vom 05.10.1971 bis 31.05.1989 versicherungspflichtig gearbeitet. Unter dem 05.03.1993 beantragte der vom Kläger bevollmächtigte Y. D. für den Kläger die Beitragserstattung aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Der Antragsvordruck enthielt unter Ziff. VI den folgenden Hinweis in deutscher und türkischer Sprache: "Achtung - wichtiger Hinweis! Die Erstattung der Beiträge schließt weitere Ansprüche aus den bis dahin in sämtlichen Zweigen der deutschen Rentenversicherung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten (einschließlich Kindererziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten) aus, insbesondere den Anspruch auf Rente". Auf dem Antrag gab der Bevollmächtigte des Klägers an, dass er von diesem Hinweis Kenntnis genommen habe. Mit dem - dem Kläger zugestellten - Bescheid vom 20.05.1993 erstattete die Beklagte die in dem genannten Zeitraum vom Kläger zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung geleisteten Beiträge in Höhe von insgesamt 56.578,39 DM. Die Beklagte führte im Bescheid an, dass das bisherige Versicherungsverhältnis aufgelöst werde und Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nicht mehr bestünden.

Der Kläger beantragte am 14.02.2002 bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.02.2002 unter Hinweis auf die durchgeführte Beitragserstattung ab.

Hiergegen erhob der Kläger den Widerspruch vom 21.03.2002, den er mit Schreiben vom 06.12.2002 (Eingang am 10.12.2002) begründete. Ihm sei Altersrente zu gewähren, da der Erstattungsbescheid vom 20.05.1993 rechtswidrig und daher von der Beklagten zurückzunehmen sei. Die Beklagte habe es versäumt, ihn eindeutig und nachdrücklich auf die Folgen der Beitragserstattung für ihn und seine Familie hinzuweisen, insbesondere darauf, dass er im Alter praktisch ohne Einkommen sein werde. Der formularmäßige Hinweis auf dem Antragsvordruck genüge nicht einer nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu fordernden umfassenden Belehrung.

Den Antrag vom 10.12.2002, gerichtet auf Rücknahme des Erstattungsbescheides vom 20.05.1993, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.03.2003 ab. Der Kläger sei sowohl im Antragsformular als auch im Erstattungsbescheid ausreichend über die Folgen der Beitragserstattung aufgeklärt worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2003 wies die Beklagte den Widerspruch vom 21.03.2002 zurück. Ein Anspruch auf Regelaltersrente bestehe nicht, da mit der Beitragserstattung das bis dahin bestehende Versicherungsverhältnis aufgelöst worden sei und damit keine auf die für die Erfüllung der Wartezeit anrechnungsfähigen Zeiten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung mehr vorhanden seien.

Den Widerspruch des Klägers vom 27.03.2003 gegen den Bescheid vom 03.03.2003 wies die Beklagte ebenfalls zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.04.2003). Gründe für eine Rücknahme des Erstattungsbescheides vom 20.05.1993 bestünden nicht.

Der Kläger erhob am 28.04.2003 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG). Der Bescheid vom 26.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003 sei aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Altersrente zu verurteilen. Die Beklagte könne ihre ablehnende Entscheidung nicht auf die erfolgte Beitragserstattung stützen. Der Erstattungsbescheid vom 20.05.1993 sei rechtswidrig, da er nicht ausreichend über die Folgen der Beitragsrückerstattung aufgeklärt worden sei. An diese Aufklärung seien hohe Anforderungen zu stellen, da der Staat die Beiträge der Arbeitgeber einbehalte und mit der Beitragserstattung ein hervorragendes Geschäft mache. Über die Beschränkung der Erstattung auf den Arbeitnehmeranteil sei er ebenfalls nicht informiert worden. Eine individuelle Aufklärung sei um so mehr zu fordern, als er und andere Ausländer nicht oder nur unzureichend die deutsche Sprache beherrschen würden. Es sei nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht hinnehmbar, dass ein wirtschaftlich übermächtiger Vertragspartner den Versicherungsnehmer "in das offene Messer" laufen lasse und sich mit einem formularmäßigen Hinweis begnüge. Eine solche Verhaltensweise sei mit der Fürsorgepflicht des Staates nicht zu vereinbaren und verletze grundgesetzlich geschützte Positionen.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.04.2004). Der Kläger könne Ansprüche aus dem damals bestehenden, durch die Beitragserstattung aber aufgelösten Versicherungsverhältnis, nicht mehr geltend machen. Die mit Bescheid vom 20.05.1993 bestandskräftig durchgeführte Beitragserstattung könne nicht mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch beseitigt werden. Die Beklagte habe im Rahmen der Beitragserstattung selbstverständlich davon ausgehen können, dass einem Antragsteller bekannt sei, dass er nicht gleichzeitig eine Beitragserstattung und Rentenleistungen erwarten könne. Der Hinweis im Antragsvordruck auf den Ausschluss zukünftiger Ansprüche sei ausreichend. Ein Verstoß gegen Vorschriften der Verfassung sei nicht erkennbar.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers zum Bayer. Landessozialgericht. Er hält daran fest, dass die Beklagte mit dem Hinweis auf dem Antragsvordruck ihrer Aufkärungspflicht nicht genügt habe. Dieser Hinweis sei auch missverständlich, da nicht deutlich daraus hervorgehe, dass auch für Zeiten nach der Beitragserstattung Ansprüche auf Rentenleistungen nicht bestünden. Auf die Einbehaltung der Arbeitgeberbeiträge sei überhaupt nicht hingewiesen worden. Es wäre eine Aufklärung darüber geboten gewesen, dass er mit der Beitragserstattung nahezu auf die Hälfte seiner erworbenen Ansprüche verzichte. Das Unterlassen einer entsprechenden Aufklärung und Belehrung stelle einen schwerwiegenden Verstoß der Beklagten gegen die ihr obliegende Fürsorgepflicht sowie der Grundrechte dar, nämlich Art 6 Grundgesetz (GG), der Schutz von Ehe und Familie, und Art 14 GG.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 29.04.2004 und den Bescheid der Beklagten vom 26.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auf seinen Antrag vom 14.02.2002 Altersrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Versichertenakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Berufung erweist sich jedoch als unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger von der Beklagten eine Altersrente nicht beanspruchen kann.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003, mit dem diese die Gewährung von Altersrente abgelehnt hat. Der während des Klageverfahrens ergangene Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 30.04.2003 über die Ablehnung der Rücknahme des Erstattungsbescheides vom 20.05.1993 ist weder unmittelbar mit Klage angegriffen worden, noch ist er nach § 96 Abs 1 SGG kraft Gesetzes zum Gegenstand des Verfahrens geworden. Dieser Bescheid hat den mit der Klage angegriffenen Bescheid über die Ablehnung der Altersrente nicht geändert oder ersetzt. Einer Einbeziehung in entsprechender Anwendung des § 96 Abs 1 SGG aus prozessökonomischen Gründen bedarf es nicht. Vorliegend geht es darum, ob die Beklagte aufgrund des behaupteten Beratungsfehlers im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches verpflichtet ist, den Kläger so zu stellen, als ob der Erstattungsbescheid vom 20.05.1993 nicht ergangen wäre. Daneben kommt es nicht darauf an, ob der geltend gemachte Beratungsfehler auch zur Rechtswidrigkeit des Erstattungsbescheides führt und dieser Bescheid daher nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen ist.

Der Bescheid vom 26.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Altersrente nach § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), weil mit Durchführung der Beitragserstattung das bisherige Versicherungsverhältnis aufgelöst worden ist und Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nicht mehr bestehen (§ 210 Abs 6 Satz 2 und 3 SGB VI). Weitere Beiträge hat der Kläger nicht entrichtet, so dass sich der Anspruch auf Altersrente bereits aufgrund der sog. Verfallswirkung der Beitragserstattung nicht mehr ergeben kann.

Der Kläger kann nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellunganspruches verlangen, so gestellt zu werden, als sei eine Beitragserstattung nicht erfolgt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann die Verletzung von Nebenpflichten, die dem Versicherungsträger aus dem Versicherungsverhältnis obliegen, für die Versicherten einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen (vgl Urteil vom 24.07.2003, Az: B 4 RA 13/03 R, SozR 4-1200 § 46 Nr 1 S 4). Zu diesen Nebenpflichten zählen insbesondere die Pflichten zu speziellen Dienstleistungen des Versicherungsträgers wie Auskunft, Belehrung und "verständnisvolle Förderung" der Versicherten. Diese Pflichten sind verletzt, wenn sie, obwohl ein konkreter Anlass zu den genannten Dienstleistungen bestanden hat, nicht oder nur unzureichend erfüllt sind.

Ein konkreter Anlass in diesem Sinne besteht einerseits dann, wenn der Versicherte sich mit der Bitte um Beratung an den Versicherungsträger wendet (§ 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I -). Dies war vorliegend nicht der Fall, da sich der Kläger nicht mit einem Beratungsbegehren unmittelbar an die Beklagte gewandt hat. Andererseits ist der Versicherungsträger - wenn sich im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ein konkreter Anlass ergibt - auch ohne ausdrückliches Beratungsbegehren gehalten, den Versicherten von sich aus spontan auf klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig ist, dass jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde (vgl Urteil des BSG vom 26.10.1994, Az: 11 RAr 5/94, SozR 3-1200 § 14 Nr 16 S 49f). Insofern bestand für die Beklagte im Verfahren zur Beitragserstattung Anlass, auf die Verfallswirkung der Beitragserstattung hinzuweisen. Dem hat sie entsprochen und auf dem Antragsformular in deutscher und türkischer Sprache darüber belehrt, dass die Erstattung der Beiträge weitere Ansprüche aus den bis dahin in sämtlichen Zweigen der deutschen Rentenversicherung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten ausschließt. Ausdrücklich wird der Ausschluss eines Rentenanspruches genannt. Der Bevollmächtigte des Klägers hat unterschriftlich bestätigt, dass er von diesem Hinweis Kenntnis genommen hat. Dies ist dem Kläger entsprechend § 166 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnen.

Den Bedenken des Klägers, dieser Hinweis sei unzureichend, folgt der Senat nicht. Der Hinweis ist eindeutig. Er zeigt unmissverständlich an, dass die Beitragserstattung den Ausschluss zukünftiger Rentenleistungen zur Folge hat. Eines Zusatzes, wie vom Kläger gefordert, dass auch für Zeiten nach Durchführung der Beitragserstattung Rentenleistungen ausgeschlossen sind, bedarf es nicht. Denn es ist für jeden Laien offenkundig, dass Ansprüche aus einer Versicherung (gleich welcher Art) nicht mehr erwartet werden können, wenn die Versicherungsbeiträge erstattet und danach keine weiteren Beiträge geleistet worden sind.

Darüber hinaus wies der dem Kläger zugestellte Erstattungsbescheid vom 20.05.1993 den Zusatz auf, dass das bisherige Versicherungsverhältnis aufgelöst wird und Ansprüche aus den bis zur Erstattung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nicht mehr bestehen. Eine weitergehende Belehrung konnte von der Beklagten nicht erwartet werden. Eine Übersetzung in die türkische Sprache war nicht geboten, da die Amtssprache deutsch ist (§ 19 Abs 1 SGB X).

Einer Aufklärung dahingehend, dass Arbeitgeberbeiträge nicht erstattet werden, hat es entgegen der Auffassung des Klägers nicht bedurft. Mit der Beitragserstattung verzichtet der Versicherte nicht auf Ansprüche, die er aufgrund der Zahlung der Arbeitgeberanteile erworben hat. Denn die Zahlung des Arbeitgeberanteils hat keine Auswirkungen auf die Höhe des Rentenanspruchs des Versicherten, da sich die Rentenhöhe allein nach dem Einkommen des Versicherten, dem durchschnittlichen Einkommen aller Versicherten, dem Zugangsfaktor, dem Rentenartfaktor sowie dem aktuellen Rentenwert bemisst. Insofern ergibt sich die Rentenhöhe im Wesentlichen aus dem versicherten Arbeitsentgelt, zu dem der Arbeitgeberanteil nicht gehört, und nicht aus einer Rendite oder einem Rückkaufswert der vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber eingezahlten Beiträge (vgl Urteil des BSG vom 29.06.2000, Az: B 4 RA 57/98 R, SozR 3-2600 § 210 Nr 2). Im Übrigen bestehen verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Begrenzung der Beitragserstattung aus der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Hälfte der entrichteten Beiträge (Arbeitnehmeranteil) nicht (vgl Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.11.1986, Az: 1 BvR 772/85, SozR 2200 § 1303 Nr 34 mwN; Urteil des BSG vom 29.06.2000, aaO mwN, Urteil des Bayer. Landessozialgerichts vom 17.04.2002, Az: L 20 RJ 681/01).

Nach alledem ist das Urteil des SG nicht zu beanstanden und die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved