L 8 AL 380/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 AL 471/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 380/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 20.08.2004 und der Bescheid der Beklagten vom 05.06.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2002 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, über den Antrag der Klägerin auf Überbrückungsgeld vom 04.06.2002 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Überbrückungsgeld (Übbg) streitig.

Die 1974 geborene Klägerin bezog seit 01.12.2001 Arbeitslosengeld (Alg). Mit E-Mail vom 04.06.2002, gerichtet an die Sachbearbeiterin der Beklagten S., beantragte sie Übbg und führte aus, wie bei ihrem letzten Besuch am 03.05.2002 angedeutet, biete sich ihr trotz umfangreicher Bemühungen in ihrem Beruf derzeit nicht die geringste Chance einer Anstellung. Sie habe sich deshalb entschlossen, freiberuflich für Unternehmen zu arbeiten, und habe ein Unternehmen gefunden, für das sie seit 01.06.2002 tätig sein könne. Sie bitte, die Zahlung des Alg ab 01.06.2002 einzustellen.

Am 05.06.2002 reichte die Klägerin den ausgefüllten Formblattantrag ein. Mit Bescheid vom 05.06.2002 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Klägerin habe diesen verspätet gestellt, da sie die selbständige Tätigkeit bereits zum 01.06.2002 aufgenommen habe.

Mit ihrem Widerspruch trug die Klägerin vor, am Abend des 29.05.2002, einem Mittwoch, die Zusage eines Unternehmens bekommen zu haben, ab Juni für dieses freiberuflich tätig sein zu können. Wegen des Feiertages am 30.05.2002 und des Urlaubes der Sachbearbeiterin am 31.05.2002 habe sie diese nicht fristgerecht informieren können.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.08.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. In der ihr übergebenen Broschüre "Was? Wieviel? Wer?" sei sie darauf hingewiesen worden, dass Übbg vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit beantragt werden müsse. Die bestehende Rechtslage erlaube auch nach sorgfältiger Prüfung keine vom Ausgangsbescheid abweichende Entscheidung.

Zur Begründung ihrer zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ausgeführt, sie habe am 31.05.2002 die Kranken- und Rentenversicherung informiert und sich ebenfalls telefonisch an die Sachbearbeiterin S. gewandt, eine Kontaktaufnahme sei aber nicht möglich gewesen, da diese offenbar aufgrund des sog. Brückentages nicht erreichbar gewesen sei. Arbeitsbeginn für den ihr erteilten Auftrag sei Montag, der 03.06.2002, an der Betriebsstelle des Auftraggebers in M. gewesen. Sie sei den ganzen Tag über beschäftigt gewesen, weshalb es ihr nicht möglich gewesen sei, von diesem Auftrageber aus mit dem Arbeitsamt Kontakt aufzunehmen. Die Ablehnung wegen der um einen Tag verspäteten Antragstellung bedeute eine unbillige Härte im Sinne des § 324 SGB III.

Mit Gerichtsbescheid vom 20.08.2004 hat das SG die Klage abgewiesen. Die bloße Unkenntnis darüber, dass ein Anspruch auf die Leistung bestanden hätte, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt worden wäre, reiche für das Vorliegen einer unbilligen Härte nicht aus. Auch liege keine Verletzung der Aufklärungs- und Beratungspflicht durch die Beklagte vor, da die Klägerin nicht mit einem konkreten Beratungsbegehren an diese herangetreten sei. Für das Gericht sei nicht erkennbar, dass die Beklagte von dem ihr eingeräumten Ermessen in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht habe.

Mit ihrer Berufung macht die Klägerin geltend, nicht darauf hingewiesen worden zu sein, dass Übbg grundsätzlich vor Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit beantragt werden müsse. Sie habe am Freitag, den 31.05., permanent versucht, die zuständige Sachbearbeiterin telefonisch zu erreichen, was nicht möglich gewesen sei, da sämtliche Telefonleitungen besetzt gewesen seien und schließlich keine Verbindung mehr hergestellt worden sei.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 20.08. 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 05.06.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.08.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über ihren Antrag auf Überbrückungsgeld vom 04.06.2002 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Regelung hinsichtlich der unbilligen Härte sei vergleichbar mit den Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, was voraussetze, dass der Antragsteller die verspätete Antragstellung nicht zu vertreten habe. Hier liege das Versäumnis der rechtzeitigen Antragstellung in der Sphäre der Klägerin, ein Nichtwissen über die Möglichkeit der Leistung reiche nicht aus. Die Klägerin habe die Möglichkeiten, die Beklagte per Fax, E-Mail oder Benutzung des Hausbriefkastens zu erreichen, nicht genutzt. Ihr wäre es möglich gewesen, innerhalb eines Zeitraumes von drei Tagen, bei tatsächlicher Aufnahme der Tätigkeit erst ab 03.06.2002 von fünf Tagen einen formlosen Antrag auf andere Weise als nur per Telefon einzubringen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

Das Rechtsmittel erweist sich auch in der Sache als begründet. Die Bescheide der Beklagten sind aufzuheben, da die Ablehnung des Antrages eine unbillige Härte bedeutet und die Beklagte deshalb über den Antrag unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden hat.

Unstreitig hat die Klägerin die Leistung nach § 57 SGB III nicht vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses, nämlich der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit, im Sinne des § 324 Abs.1 Satz 1 SGB III beantragt. Jedoch liegt ein Fall der unbilligen Härte im Sinne von § 324 Abs.1 Satz 2 SGB III vor, weshalb die Beklagte die verspätete Antragstellung zulassen "kann".

Von dem ihr eingeräumten Ermessen hat die Beklagte schon deshalb keinen Gebrauch gemacht, weil sie die Möglichkeit einer unbilligen Härte jedenfalls während des Verwaltungsverfahrens in keiner Weise in Betracht gezogen hat.

Die Annahme einer unbilligen Härte kann hier nicht damit verneint werden, dass der Klägerin ein Verschulden an der nicht rechtzeitigen Antragstellung anzurechnen sei. Denn der Begriff der unbilligen Härte im Sinne des § 324 Abs.1 Satz 2 SGB III ist nicht identisch mit den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X. Vielmehr stellt § 324 Abs.1 Satz 2 SGB III eine spezialgesetzliche Vorschrift dar, weshalb gemäß § 27 Abs.5 SGB X die Vorschriften über die Wiedereinsetzung nicht anzuwenden sind. Würde man der Auffassung der Beklagten folgen, so hätte es einer spezialgesetzlichen Regelung gemäß § 324 Abs.1 Satz 2 SGB III gerade nicht bedurft, vielmehr hätte man es bei den Vorschriften über die Wiedereinsetzung nach § 27 SGB X belassen können. Deshalb muss eine verspätete Antragstellung auch in Fällen zugelassen werden können, in denen die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung deshalb nicht vorliegen würden, weil ein - ggf. leichtes - Verschulden des Antragstellers vorliegt. Umgekehrt ist allerdings davon auszugehen, dass im Falle eines unverschuldeten Versäumens der Antragsfrist von vornherein ein Fall der unbilligen Härte vorliegt; jedoch ist dieser Begriff eben auf diese Fallkonstellation nicht beschränkt (so auch Radüge in Hauck/Noftz, SGB III, Rdnr.11 zu § 324).

Eine unbilligen Härte liegt vor, wenn bei Abwägung des Interesses der Beklagten, den Antrag vor Eintritt des leistungsauslösenden Ereignisses zu erhalten, und dem Interesse des Antragstellers, die Leistungen auch bei verspäteter Antragstellung zu erhalten, Letzterem der Vorzug zu geben ist. Dies ist hier der Fall.

Bei Aufnahme der selbständigen Tätigkeit am 03.06.2002 hat die Klägerin die Frist nur um einen Tag versäumt. Da wegen des Wochenendes am 01. und 02.06. und des Feiertages am 30.05. sowie des Brückentages am 31.05. glaubhafterweise ein Kontakt mit der Sachbearbeiterin nicht herzustellen war, liegen objektive Gründe vor, die ein etwaiges Verschulden der Klägerin als geringgradig erscheinen lassen. Zudem ist die verspätete Antragstellung letztlich auf die knappen Termine und auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Klägerin die sich am Abend des 29.05. ergebende Möglichkeit, ab 03.06.eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen, sofort ergriffen und damit alles getan hat, um ihre Arbeitslosigkeit zu beenden. Es wäre widersinnig, von ihr zu verlangen, diese Möglichkeit auszuschlagen, nur um rechtzeitig und ausgiebig Kontakt mit der Beklagten aufnehmen zu können. In diesem Fall wäre wohl der Auftrag ohnehin verloren gewesen und die Selbständigmachung gescheitert.

Demgegenüber kann kein überragendes Interesse der Beklagten an einer Antragstellung noch am 31.05.2002 oder 02.06.2002 erkannt werden. Denn eine Sachbearbeitung wäre vor dem 03.06.2002 ohnehin nicht erfolgt. Auch der Gesichtspunkt, dass die Beklagte die Möglichkeit haben soll, den Antragsteller entsprechend zu beraten und zu verhindern, dass leistungschädliche Vorgänge eingeleitet werden, etwa im Rahmen der beruflichen Förderung nur zweckmäßige Maßnahmen in Betracht gezogen werden, ist im vorliegenden Fall nicht tangiert, da nicht erkennbar ist, welche dieser Gesichtspunkte für die Beklagte hier in Bezug auf die Selbständigmachung ab 03.06.2002 relevant gewesen wären.

Unabhängig vom Datum des Einganges des Antrages wäre eine Entscheidung über den Antrag vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit schon deshalb nicht möglich gewesen, weil Voraussetzung hierfür u.a. die Vorlage einer Stellungnahme einer fachkundigen Stelle über die Tragfähigkeit der Existenzgründung gemäß § 57 Abs.2 Nr.2 SGB III ist. Wegen der zeitlichen Konstellation war die Einreichung einer solchen Stellungnahme vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit von vornherein nicht möglich. In dieser Situation ist es der Klägerin in jedem Fall zuzugestehen, diese Stellungnahme nachträglich einzureichen. Dass dies bisher nicht geschehen ist, ist auf die unsachgemäße Entscheidung der Beklagten zurückzuführen und kann der Klägerin bei der Entscheidung über ihren Antrag nicht negativ angelastet werden. Vielmehr muss ihr eingeräumt werden, eine fachkundige Stellungnahme vorzulegen, die im Sinne einer nachträglich gestellten Prognose darlegt, ob aufgrund der vor dem 03.06.2002 bekannten Umstände von der Tragfähigkeit der Existenzgründung der Klägerin ausgegangen werden konnte. Da somit die für die Klägerin sprechenden Gesichtspunkte eindeutig überwiegen, und ein wesentliches Interesse der Beklagten an einem Eingang des Antrages vor dem 03.06.2002 nicht erkennbar ist (vgl. hierzu auch Kaiser in Wissing/Mutschler/Bartz/Schmidt-De Caluwe, SGB III, Rdnrn.6 - 8 zu § 324; Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, Rdnrn.32 - 34 zu § 324; Hünecke in Gagel, SGB III, Rdnr.16 ff. zu § 324), liegt eine unbillige Härte vor, weshalb die Beklagte zu verpflichten war, über die Bewilligung des Übbg unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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