S 20 SO 69/05 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 20 SO 69/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin im Schuljahr 2005/2006 vom 08.08.2005 an, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung, Einzelfallhilfe zu ihrer Beschulung durch das Freie Gymnasium Nauen (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII) im zeitlichen Umfang von 13 Stunden je Schulwoche zu erbringen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten dieses Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Gegenstand des Rechtsschutzbegehrens in diesem Verfahren ist eine Einzelfallhilfe zum Besuch des Freien Gymnasiums N ... (Privatschule, Ersatzschule).

Die Antragstellerin, geboren am ...1993, leidet unter einem Down-Syndrom, das als geistige Behinderung anerkannt ist. Nach sechs Grundschuljahren (Grundschule am ...platz in N ...) wurde sie gemäß dem Wunsch ihrer Eltern zur weiterführenden Schulbildung in das Freie Gymnasium N ... aufgenommen (Mittelstufe, Rahmenplan für geistig Behinderte) gemäß der Bildungsempfehlung des Förderausschusses dieser Schule (Sitzung vom 16.12.2004) aufgenommen.

Der Förderausschuss stellte fest, dass die Antragstellerin im Ergebnis – wenn das Staatliche Landesschulamt W ... 7,5 Lehrerwochenstunden für die sonderpädagogische Betreuung zur Verfügung stelle – einen weiteren Betreuungsbedarf von 13 Stunden je Schulwoche hat.

Die Eltern der Antragstellerin beantragten mit Schreiben vom 03.02.2005 bei dem Antragsgegner Einzelfallhilfe in entsprechendem Umfang. Das Staatliche Schulamt B ... erkannte mit Schreiben vom 10.02.2005 den fortbestehenden sozialpädagogischen Förderbedarf gemäß der Bildungsempfehlung an. In ihrer Amtsärztlichen Stellungnahme vom 13.06.2005 - nach Untersuchung – bestätigte die Ärztin Dr. B. den zusätzlichen Betreuungsbedarf bei Fortführung der integrativen Beschulung.

Mit Bescheid vom 27.06.2005 lehnte der Antragsgegner die beantragte Einzelfallhilfe insbesondere mit der Begründung ab, das Land B ... (Staatliches Schulamt B ...) sei vorrangig zur Leistung verpflichtet und eine angemessene Schulbildung könne der Antragstellerin auch an der Förderschule für geistig Behinderte in M ... vermittelt werden.

Das Ziel, vom Antragsgegner zur Beschulung durch das Freie Gymnasium in N ... im Schuljahr 2005/2006 Einzelfallhilfe zu erhalten, verfolgt die Antragstellerin weiter mit ihrem Antrag vom 29.06.2005 an das Sozialgericht. Zur Begründung ihres Antrags trägt die Antragstellerin insbesondere vor, die integrative Beschulung sei nach dem Brandenburgischen Schulgesetz vorrangig, es sei nicht rechtens, die Antragstellerin, auf den Besuch einer Förderschule für geistig behinderte Kinder zu verweisen, um damit Einzelfallhilfe zu erübrigen.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin ab dem Schuljahr 2005/2006 eine Einzelfallhilfe für den Schulbesuch des Freien Gymnasiums N ... im Umfang von 13 Wochenstunden zu bewilligen und die Kosten hierfür zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurück zu weisen.

Sie führt gegen einen Anspruch vor allem an, der Besuch des Freien Gymnasiums N ... sei nicht der einzige Weg, eine angemessene Schulbildung zu erhalten, mangels einer Zuweisung durch die Schulbehörde, für den Besuch von Ersatzschulen in B ... nicht vorgesehen, gäbe es keine verbindliche Vorentscheidung über das Bestehen eines Betreuungsbedarfs, ein Rechtsanspruch auf integrierte Beschulung bestehe nicht, wenn der Schulträger nicht alle hierfür erforderlichen Betreuungsleistungen selbst erbringen könne (Schriftsatz vom 27.07.2005).

Die Verwaltungsakten des Antragsgegners sind beigezogen.

II.

Der Anordnungsantrag ist nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zulässig, denn er zielt auf die Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass in Bezug auf den Gegenstand dieses Verfahrens noch kein Widerspruchsbescheid ergangen ist.

Der Anordnungsantrag ist auch begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Sozialgericht eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Die einstweilige Anordnung setzt zunächst einen Anordnungsanspruch voraus. Dieser Anordnungsanspruch ist zu bejahen, wenn der Rechtsanspruch nach den in Betracht zu ziehenden Anspruchsnormen – hier nach § 53 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII oder nach § 3 BbgSchulG – aufgrund der hier nur möglichen summarischen Prüfung des zugrunde zu legenden Sachverhalts begründet erscheint. Ob der Rechtsanspruch nach der einen oder nach der anderen Vorschrift letztlich begründet ist, kann hier dahinstehen, weil der Anordnungsanspruch allein auf die Verpflichtung der Antragsgegnerin gerichtet ist; wegen der Eilbedürftigkeit hat das Sozialgericht von einer Beiladung des Landes Brandenburg, vertreten durch das Staatliche Schulamt B ..., abgesehen.

Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 53 Abs. 1 SGB XII hat ein Behinderter Anspruch auf Einzelfallhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe zur angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht. Wegen ihrer Behinderung gehört die Antragstellerin – unstreitig – zum Kreis der Leistungsberechtigten.

Der Anspruch setzt das Bestehen eines Betreuungsbedarfs im einem hinreichend sicher festgestellten Umfang während des kommenden Schuljahres voraus. Vor allem unter Würdigung der Diskussion im Förderausschuss (Sitzung vom 16.12.2004) und seiner Bildungsempfehlung vom selben Tage ist der Sachverhalt eines (zusätzlichen) Betreuungsbedarfs im zeitlichen Umfang von 13 Stunden je Schulwoche im Schuljahr 2005/2006 glaubhaft dargetan. Die Gegenstände der bedarfsgerechten zusätzlichen Betreuung an den Schultagen, insbesondere während des Unterrichts, und ihr zeitlicher Umfang lassen sich anhand des ausführlichen Protokolls über die Sitzung des Förderausschusses am 16.12.20024 nachvollziehen.

In Bezug auf den zusätzlichen Betreuungsbedarf der Antragstellerin stellt sich nicht die Frage der Grenzen des Wunsch- und Wahlrechts (§ 9 SGB XII), denn es gibt vorliegend keine Anhaltspunkte dafür, dass der Besuch einer weiterführenden öffentlichen Schule keinen oder nur einen geringeren zusätzlichen Betreuungsbedarf nach sich zöge als der Besuch einer weiterführenden (privaten) Ersatzschule. Die Entscheidung der Eltern, dass die Antragstellerin ihrer Schulpflicht in einem privaten Gymnasium und nicht in einer öffentlichen Schule oder gar in einer Förderschule für geistig Behinderte nachkommt, ist rechtlich begründet durch das Brandenburgische Schulgesetz (§ 29 Abs. 2, §§ 122 ff BbgSchulG); einer Zuweisung durch das Staatliche Schulamt (§ 50 Abs. 2 BbgSchulG) bedarf es nicht. Liegt mangels Zuweisungsbefugnis keine Zuweisung vor und kann sie auch deswegen nicht vorliegen, so spricht dies nicht gegen die Angemessenheit der Schulbildung durch das private Gymnasium, denn das Recht der Eltern, den Regelfall der integrierten Beschulung für ihr behindertes Kind (§ 29 Abs. 2 BbgSchulG) zu wählen, wird nicht für den Fall eingeschränkt, dass die Eltern eine Beschulung durch eine Ersatzschule wählen.

Neben einem Anordnungsanspruch, wie ausgeführt, liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die wesentlichen Nachteile, die die getroffene einstweilige Anordnung abwenden will, bestehen darin, dass die Antragstellerin ohne Einzelfallhilfe den Besuch des Freien Gymnasiums N ... nicht von Beginn der Unterrichtszeit des neuen Schuljahres an aufnehmen kann; eine Vorfinanzierung der Einzelfallhilfe durch die Eltern bis zu einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung erscheint nicht zumutbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved