S 18 KR 304/05

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 304/05
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
§ 131 Abs. 5 SGG ist auch in den Fällen der verbundenen Anfechtungs- und Leistungs- oder Verpflichtungsklage anwendbar und nicht auf reine Anfechtungsklagen beschränkt.
I. Der Widerspruchsbescheid vom 13.04.2005 wird aufgehoben. Der Beklagten wird aufgegeben, nach Aufklärung des Sachverhalts über den Widerspruch gegen die Ablehnung des Antrags auf Gewährung einer stationären Vorsorge-maßnahme neu zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außerge-richtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Vorsorgemaßnahme. Am 02.11.2004 beantragte der 1997 geborene Kläger unter Vorlage eines Vorschlages seines behandelnden Facharztes für Kinder-heilkunde eine stationäre Maßnahme zur Vorsorge, mit dem Ziel, eine Verschlimmerung der beste-henden Adipositas und Ernährungsstörung zu vermeiden. Beigefügt war ein Befund der Adiposi-tassprechstunde des Universitätsklinikums D vom 04.11.2003, beruhend auf einer Untersuchung vom 20.05.2003, in dem mitgeteilt wird, dass der Kläger in das komplexe Adipositasschulungsprogramm K aufgenommen worden sei, das sich voraussichtlich über 18 Monate erstreckt. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 23.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.04.2005, gestützt auf Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ab, weil die ambu-lanten Behandlungsmaßnahmen noch nicht ausgeschöpft seien. Hiergegen richtet sich die am 13.05.2005 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage, mit welcher der Kläger weiterhin einen Anspruch auf Gewährung einer stationären Maßnahme verfolgt. Wegen der Einzelheiten des Sachver-halts wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann über den Rechtsstreit gemäß § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten keine Gründe vorgetragen haben, die einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid entgegen stehen würden. Die Klage ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbescheids ohne Entscheidung in der Sache gemäß § 131 Abs. 5 Satz 1 und 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begründet. Nach diese Vorschrift kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Vorschrift ist ? entgegen der von der Beklagten für sich in Anspruch genommenen Kommentie-rung bei Mayer-Ladewig SGG § 131 Rn. 18 ? auch im Rahmen der kombinierten Anfechtungs- und Leistungs- oder Verpflichtungsklage anwendbar und nicht auf reine Anfechtungsklagen beschränkt. Zwar ist der § 113 Absatz 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), dem § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG wörtlich nachgebildet ist, nach der Rechtsprechung der des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 06.07.1998, Az. 9 C 45/97) auf Anfechtungsklagen beschränkt. Die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG verweist auf § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO, setzt sich je-doch mit der Rechtsprechung zu dieser Vorschrift nicht auseinander (Deutscher Bundestag, Drucksa-che 15/1508, Seite 29). Eine Übernahme dieser Rechtsprechung auf die Anwendbarkeit des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG ist jedoch weder zwingend noch sachdienlich. Der Gesetzgeber verfolgt mit der Einfügung der Vorschrift das explizite Ziel, dem Gericht zeit- und kostenintensive Sachverhaltsauf-klärungen zu ersparen, die gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs (SGB) Zehntes Buch (X) ? Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz ? in erster Linie der Behörde im Rahmen des Verwaltungsverfahrens obliegen und deren Kosten im sozialgerichtlichen Verfahren wegen des Grundsatzes der Kostenfreiheit (§ 183 SGG) nach derzeitiger Rechtslage in der Regel nicht auf die Verfahrensbeteiligten abgewälzt werden können. Die Gesetzesbegründung merkt in diesem Zusam-menhang an, dass nach den Beobachtungen der Praxis die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen werde, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlage-rung auf die Gerichte führe. Das gesetzgeberische Anliegen, diesem Missstand entgegenzuwirken, trifft indessen auf alle Klageverfahren zu, denen ein Verwaltungsverfahren mit der Verpflichtung der Behörde zur Amtsermittlung vorangegangen ist. Gerade bei der verbundenen Anfechtungs- und Leis-tungsklage handelt es sich um die wichtigste Klag eart in den Angelegenheiten der sozialen Leistungs-verwaltung. Ihr Ausschluss aus dem Anwendungsbereich des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG würde die Norm damit gerade in diesem Kerngebiet der sozialgerichtlichen Streitentscheidung leer laufen las-sen, was mit der Ausweitung der Regelung auf das sozialgerichtliche Verfahren unvereinbar wäre. Auch die systematische Einfügung des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG am Ende einer Vorschrift über An-fechtungs- und Verpflichtungsklage spricht dafür, dass sie sich auf diese beiden Klagearten bezieht. Anders verhält es sich mit § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO, der nach den Vorschriften über die Anfech-tungsklage, aber vor den Vorschriften über die Leistungs- und Verpflichtungsklage (§ 113 Abs. 4 und 5 VwGO) eingefügt ist. Die Interessenlage des Bürgers steht der Anwendung des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG auf verbundene Anfechtungs- und Leistungs- oder Verpflichtungsklagen trotz der damit verbundenen Verfahrensverzögerung nicht entgegen. Denn die Verzögerung ist im Wesentlichen den nachzuholenden Amtsermittlungen geschuldet, die anderenfalls nicht minder zeitintensiv im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens durchgeführt werden müssten. Zudem sichert die Zurückversetzung in den Stand vor Erlass der Ablehnungsbescheide dem Bürger die Durchführung eines ? erst unter Be-achtung des Untersuchungsgrundsatzes ? ordnungsgemäßen Verwaltungsverfahrens und somit die sozialgerichtlichen Instanzen für evtl. spätere Einwendungen gegenüber dem Ergebnis der Ermittlun-gen. Die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, ein Bescheidungsurteil (§ 131 Abs. 3 SGG) zu erlassen, ist daneben in Leistungs- und Verpflichtungssachen in der Regel nicht ausreichend, um den vom Ge-setzgeber mit der Anfügung des § 131 Abs. 5 SGG angestrebten Zweck zu erreichen; denn diese Mög-lichkeit greift nur ein, wenn entweder nur ein Bescheidungsanspruch verletzt ist, namentlich in den Fällen der Untätigkeit der Behörde, oder wenn das Gericht in Ermessensangelegenheiten gehindert ist, seine Entscheidung an die Stelle der Entscheidung der Behörde zu setzen. In allen anderen Fällen wäre das Gericht ohne die Regelung des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG zur Ermittlung des Sachverhalts bis zur Entscheidungsreife hinsichtlich des Bestehens des streitgegenständlichen Leistungs- oder Ver-pflichtungsanspruchs ? mindestens dem Grunde, oftmals auch der Höhe nach ? verpflichtet. Als Grundlage für einen Anspruch auf Gewährung einer Vorsorge- bzw. Rehabilitationsmaßnahme kommt vorliegend § 23 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 und Abs. 4 des Sozialgesetzbuchs (SGB) Fünftes Buch (V) ? Gesetzliche Krankenversicherung ? in Betracht. Danach haben Versicherte Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, wenn diese not-wendig sind, um unter Anderem einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken sowie Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden. Rei-chen die Leistungen der ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln nicht aus, kann die Krankenkasse aus medizinischen Gründen erforderliche ambulante Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten erbringen; reichen auch diese nicht aus, kann die Kran-kenkasse Behandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einer vertraglichen Vorsorgeeinrichtung erbringen. Die Entscheidung über die Gewährung einer stationären Vorsorgemaßnahme hängt damit entschei-dend davon ab, ob die wohnortnahen Möglichkeiten der ambulanten Versorgung mit Arznei-, Ver-band-, Heil- und Hilfsmitteln ausgeschöpft sind. Dies kann an Hand der von der Beklagten im Ver-waltungsverfahren durchgeführten Ermittlungen nicht festgestellt werden. Im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids war die ursprüngliche Dauer der ambulanten Komplexmaßnahme K in der Adipositassprechstunde des Universitätsklinikums D abgelaufen. Um den weiteren Therapiebedarf einschätzen zu können, wäre eine aktuelle Beurteilung der Rehabilitationsbedürftigkeit an Hand der Ergebnisse der ambulanten Maßnahme geboten gewesen. Indem die Beklagte ? trotz des ausdrücklichen Hinweises von Dr. med. B in seiner Stellungnahme vom 10.01.2005, dass für eine neue Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der beantragten Maßnahme eine aktuelle Stellungnahme der Universitätskinderklinik abzufordern sei ? ohne weitere Sachaufklärung den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen hat, verstieß sie gegen ihre Pflichten aus § 20 Abs. 1 und 2 und § 21 Abs. 1 SGB X, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, Art und Umfang der Ermittlungen ohne Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten zu bestimmen, alle für den Einzelfall bedeutsamen Umstände zu berücksichtigen, und sich der Beweis-mittel zu bedienen, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erfor-derlich hält, insbesondere Auskünfte jeder Art einzuholen, Beteiligte anhören, Zeugen und Sachver-ständige vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverstän-digen und Zeugen einholen, Urkunden und Akten beiziehen und den Augenschein einnehmen. Art und Umfang der noch erforderlichen Ermittlungen sind erheblich. Denn es bedarf nicht nur der Anforderung der Therapieberichte aus dem K-Adipositasschulungsprogramm. Zu klären ist darüber hinaus über den behandelnden Facharzt für Kinderheilkunde und gegebenenfalls über die Adiposi-tassprechstunde des Universitätsklinikums D, welche aktuellen Befunde derzeit vorliegen, ob unter Berücksichtigung der bereits ausgeschöpften ambulanten wohnortnahen Maßnahmen noch ein konkre-ter Therapiebedarf besteht und, wenn ja, ob dieser die Einleitung einer ggf. stationären Kompaktmaß-nahme rechtfertigt. Je nach Ergebnis der einzuholenden Auskünfte kann darüber hinaus eine Begut-achtung mit persönlicher Untersuchung des Klägers durch den Medizinischen Dienst der Krankenver-sicherung oder einen anderen Sachverständigen angezeigt sein. Die notwendigen Sachverhaltsermittlungen sind gemäß § 131 Abs. 5 SGB V der Beklagten auf-zugeben, weil diese hierzu gemäß § 20 SGB X bereits im Verwaltungsverfahren verpflichtet gewesen wäre, weil ihr die Durchführung der Ermittlungen unter Rückgriff auf die ihr mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zur Verfügung stehenden fachlichen Kapazitäten zumutbar ist und weil so der Anspruch des Klägers auf ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren durchgesetzt wer-den kann. Die Beteiligten sind zur Möglichkeit der Zurückversetzung ins Verwaltungsverfahren ge-mäß § 131 Abs. 5 SGB V angehört worden. Sachliche Bedenken sind dagegen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Das Gericht hat von der Möglichkeit, die angefochtenen Bescheide aufzuhe-ben, nur hinsichtlich des Widerspruchsbescheids Gebrauch gemacht. Zum Einen war bei Erlass des Ausgangsbescheids die ambulante Adipositasschulung im Rahmen des K-Projekts noch nicht abge-schlossen, so dass zum damaligen Zeitpunkt die Begründung des Ausgangsbescheids der Rechtslage entsprochen hat. Zum Anderen erscheint eine Zurückversetzung in den Stand des Vorverfahrens aus-reichend, um die Rechte des Klägers zu wahren. Die sich bereits aus der Aufhebung des Wider-spruchsbescheids ergebende Verpflichtung zur Neubescheidung des Widerspruchs nach Abschluss der Sachaufklärung wurde in die Entscheidungsformel der Klarstellung halber mit aufgenommen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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