L 6 VJ 9/95

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 19 V 209/91
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VJ 9/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11.11.1994 abgeändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob die Klägerin wegen eines Impfschadens Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) hat. Die am 27.04.1957 geborene Klägerin wurde am 18.06.1959 gegen Pocken geimpft. Im Februar 1989 beantragte sie - vertreten durch ihre Mutter J ... S ... - erstmals Versorgung nach dem BSeuchG wegen einer geistigen Behinderung - die Klägerin ist im W ... Landeskrankenhaus M ... untergebracht - als Folge der am 18.06.1959 vorgenommenen Impfung. Zur Begründung wurde im wesentlichen vorgetragen, dass vor der Impfung keinerlei Krankheiten oder Körperschäden bestanden hätten. Ihre Behinderung habe sich erstmals ca. vier bis sechs Wochen nach der Impfung bemerkbar gemacht. Der im Herbst 1959 aufgesuchte Kinderarzt Dr. P ... habe eine HNO- ärztliche Untersuchung empfohlen, die im Januar 1960 im Jung- S ...-Krankenhaus S ... durchgeführt worden sei. Auf Anraten des Landesarztes Dr. H ... im Herbst 1960 sei sie 1961 in der W ... Klinik für Jugendpsychiatrie G ... stationär untersucht und beobachtet worden. Bei der weiteren stationären Abklärung sei im Januar 1963 in der U ... K ... ein frühkindlicher Gehirnschaden diagnostiziert worden.

In dem Impfschadensbericht des Gesundheitsamtes des H ... vom 10.05.1989 heißt es u.a., nach Angaben der Mutter habe die Klägerin etwa zwei Wochen nach dem Impftermin aufgehört zu sprechen und eine tiefgreifende Verhaltensstörung gezeigt. Ferner seien Jaktationen aufgetreten.

Unter Auswertung u.a. des Impfschadensberichtes vom 10.05.1989, beigezogener Berichte des Kinderarztes Dr. P ... vom 28.02.1989, des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. F ... vom 21.02.1989 sowie der beigezogenen Krankengeschichte der W ... Klinik für Psychiatrie M ... erstellte die Regierungsmedizinalrätin Dr. B ... am O ...-O ... eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 08.09.1989. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass aufgrund der gesamten Vorgeschichte und insbesondere der fehlenden Hinweise auf einen Hirnschaden sonstiger Genese es mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass die heute bestehende schwerste geistige Behinderung Folge einer aufgrund der Pockenschutzimpfung aufgetretenen Enzephalopathie sei. Soweit die Mutter der Klägerin gegenüber dem Kreisarzt 1965 (ärztliches Gutachten für die Aufnahme in eine Heil- und Kranken anstalt für Geisteskranke vom 16.03.1965) angegeben habe, sie habe veränderte Reaktionen seit September 1958 beobachtet, dürfte es sich hierbei um eine Verwechselung handeln, da in allen anderen Berichten ausgeführt sei, eine Entwicklungsstörung sei erst nach der am 18.06.1959 durchgeführten Pockenschutzimpfung beobachtet worden.

Die Versorgungsverwaltung folgte dieser Stellungnahme nicht und zog u.a. noch die Krankenakte der U ... K ... (stationäre Behandlung vom 28.12.1962 bis 25.01.1963) sowie den jugendpsychiatrischen Befundbericht der W ... Klinik für Jugendpsychiatrie G ... vom 21.08.1961 (stationäre Untersuchung und Beobachtung der Klägerin vom 11.08. bis 16.08.1961) bei.

Mit Bescheid vom 12.12.1989 lehnte es das Versorgungsamt Soest ab, der Klägerin Versorgung nach dem BSeuchG zu gewähren. In der Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, die beigezogenen Unterlagen enthielten keinerlei Hinweise darauf, dass innerhalb des Inkubationszeitraums nach der Impfung am 18.06.1959, also innerhalb eines Zeitraumes bis zu drei Wochen nach der Impfung, eine Erkrankung (z.B. Komplikationen am Nervensystem) aufgetreten sei, die als Impfschaden gewertet werden könne. Ein Impfschaden sei auch aufgrund des Berichtes des Dr. F ... nicht nachgewiesen. Denn Dr. F ... könne nicht angeben, wann genau eindeutige Zeichen eines hirnorganischen Prozesses erstmalig aufgetreten bzw. von dem Hausarzt Dr. D ... festgestellt worden seien. Außerdem habe die Mutter der Klägerin bei einer Untersuchung durch den Kreisarzt am 16.03.1965 angegeben, sie habe veränderte Reaktionen seit September 1958, also bereits vor der Impfung, beobachtet. Von besonderer Bedeutung seien auch die Angaben in dem jugendpsychiatrischen Befundbericht der Westfälischen Klinik für Jugendpsychiatrie Gütersloh vom 21.08.1961. Hieraus ergebe sich ebenfalls, dass bereits im Winter 1958/59 ein Entwicklungsrückstand bzw. eine Entwicklungsverzögerung mit Verhaltensstörungen aufgetreten seien.

Mit ihrem hiergegen am 10.01.1990 eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass die gegenüber der Klinik Gütersloh gemachte Angabe "Winter 1958/59" auf einer Verwechselung mit dem Winter 1959/60" beruhe. Richtig sei, dass vor der Impfung keiner lei Abnormalitäten festgestellt worden seien. Zur Stützung ihres Vorbringens reichte die Klägerin eine eidesstattliche Versicherung des Dr. F ... (undatiert) sowie eine schriftliche Erklärung der H ... H ... vom 10.05.1990 ein.

Der Beklagte holte von dem Arzt für Nerven- und Gemütsleiden Dr. W ... eine gutachtliche Stellungnahme vom 12.03.1991 ein und ließ von dem Leitenden wissenschaftlichen Direktor des Institutes für Impfwesen und Virologie der Gesundheitsbehörde H ... Dr. N ... aufgrund des Akteninhaltes ein Gutachten vom 29.08.1991 erstellen. Beide Ärzte kamen im Ergebnis zu der Beurteilung, es sei nicht nachgewiesen, dass nach der Impfung am 18.06.1959 ein Impfschaden eingetreten sei.

Dementsprechend wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.10.1991 den Widerspruch der Klägerin zurück.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin weiterhin Versorgung nach dem BSeuchG begehrt und die Auffassung vertreten, ihre geistige Behinderung sei mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Pockenimpfung am 18.06.1959 zurückzuführen. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens hat sie sich zur Begründung im wesentlichen auf das Ergebnis der vom Sozialgericht durchgeführten Beweisaufnahme gestützt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.12.1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.10.1991 zu verurteilen, bei ihr ab Februar 1989 einen Hirnschaden mit schwerem Intelligenzdefekt, mit aggressiver Verhaltensstörung und Inkontinenz, mit leichten spastisch-motorischen Störungen und mit einem klinisch inapparenten Anfallsleiden als Impfschaden anzuerkennen und ihr ab Februar 1989 Versorgung nach einer MdE von 100 v.H. zu bewilligen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat keine Möglichkeit gesehen, von seiner bisherigen Beurteilung abzuweichen. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der H ... H ..., der A ... S ...-O ..., der E ... G ... sowie des Dr. F ... und des Dr. P ... als Zeugen. Alsdann ist weiter Beweis erhoben worden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. K ... vom 29.01.1994. Der Sachverständige ist insgesamt zu dem Ergebnis gekommen, dass die kausale Zuordnung des bei der Klägerin bestehenden und mit einer MdE um 100 v.H. zu bewertenden Hirnschadens zur Pockenimpfung vom 18.06.1959 davon abhänge, zu welcher Entscheidung das Gericht anhand der Akten, der Zeugenaussagen und der (bisher nicht eigens dokumentierten) Aussagen der Mutter hinsichtlich des Datums des Beginns der Auffälligkeiten und hinsichtlich der postvakzinalen Akutsymptomatik komme. Impfschaden und Impfschadensfolgen seien zu verneinen, wenn die Auffälligkeiten bereits im Winter 1958/59 begonnen haben und keine postvakzinale Akutsymptomatik im Juli 1959 angenommen werde. Hätten die Auffälligkeiten zwar im Winter 1958/59 begonnen, werde aber eine postvakzinale Akutsymptomatik im Juli 1959 angenommen, so sei auf einen Impfschaden mit Verschlimmerung eines vorbestehenden Leidens zu schließen. Demgegenüber sei der gesamte heutige Dauerschaden als Impfschadensfolge anzusehen, wenn ohne Vorschädigung im Juli 1959 eine postvakzinale Akutsymptomatik mit nunmehr erst anschließender Ausbildung der cerebralen Dauersymptomatik angenommen werde.

Mit Urteil vom 11.11.1994 hat das Sozialgericht der Klage statt gegeben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin -wie beantragt- Versorgung zu gewähren. Zur Begründung hat es sich auf die Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K ... gestützt. Dabei ist es davon ausgegangen ist, dass vor der Impfung keinerlei Verhaltensauffälligkeiten aufgetreten seien und dass die nach der Impfung an der Klägerin gemachten Beobachtungen das Symptommuster einer postvakzinalen Enzephalopathie der nicht-konvulsiven Art innerhalb der Inkubationszeit widerspiegeln würden.

Gegen dieses ihm am 15.12.1994 zugestellte Urteil richtet sich die am 13.01.1995 eingelegte Berufung des Beklagten. Der Beklagte ist der Auffassung, die Berichte der Westfälischen Klinik für Jugend psychiatrie G ... vom 21.08.1961 und der U ... K ... vom 09.02.1963 und das ärztliche Gutachten vom 16.03.1965 belegten unzweideutig, dass bei der Klägerin ein Vorschaden bestanden habe. Diese Berichte zeigten aber auch, dass es in dem maßgeblichen Zeitraum keinen Impfschaden gegeben habe. Insbesondere seien die aus Nr. 57 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) folgenden besonderen Anforderungen nicht erfüllt. Hiernach sei insbesondere zu beachten, dass bei der Pockenschutzimpfung in der Regel eine Parallelität zwischen dem Schweregrad des Symptombildes der postvakzinalen Enzephalopathie und dem Ausmaß der Folgen bestehe. Nach einer symptomarmen Enzephalopathie sei nicht mit einem sehr schweren Schaden zu rechnen. Eine gravierende Erkrankung nach der Pockenimpfung innerhalb der Inkubationszeit hätte mit Sicherheit Niederschlag zumindest in den Krankengeschichten der seit 1959 praktisch ununterbrochen in ärztlicher Behandlung gewesenen Klägerin gefunden. Insgesamt meint er, ein Impfschaden sei nicht nachgewiesen. Zur weiteren Stützung sei nes Vorbringens hat er eine gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr. S ... vom 02.02.1998 vorgelegt. Im übrigen sieht er sich durch die Beurteilung des im Berufungsverfahrens gehörten Sachverständigen Prof. Dr. E ... in seiner Auffassung bestätigt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11.11.1994 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zur weiteren Begründung ihres Anspruchs stützt sie sich insbesondere auf die Beurteilung des im Berufungsverfahrens nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen Prof. Dr. W ...

Im Berufungsverfahren sind Sachverständigengutachten eingeholt worden von Prof. Dr. E ... vom 20.01.1996 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 21.04.1996 und 09.09.1999 sowie auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. W ... vom 14.12.1997. Prof. Dr. E ... verneint einen Impfschaden. Demgegenüber geht Prof. Dr. W ..., der sich im übrigen im wesentlichen der Beurteilung des Prof. Dr. K ... anschließt, davon aus, dass die Klägerin nach der Pockenimpfung am 18.06.1959 eine dem Impfalter entsprechende postvakzinale Enzephalopathie erlitten habe.

Im Termin am 26.11.1996 hat der Senat die Mutter der Klägerin Johanna Schneider angehört.

Beigezogen worden sind Krankenunterlagen der W ... Klinik für Jugendpsychiatrie und des Gesundheitsamtes des H ...

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die Inhalte der Gerichtsakten, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogenen Krankenunterlagen Bezug genommen. Die Inhalte dieser Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, der Klägerin Versorgung nach dem BSeuchG zu gewähren. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Beschädigtenversorgung, weil ein Impfschaden nicht nachgewiesen ist.

Nach § 51 Abs. 1 BSeuchG erhält, wer durch eine Impfung, die ge setzlich vorgeschrieben oder ( ...) von einer zuständigen Behörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen worden ist, einen Impfschaden erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden.

Die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Schädigung (unübliche Impfreaktion) innerhalb der Inkubationszeit und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) müssen nachgewiesen sein (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9; BSG SozR 3100 § 89 Nr. 11). Zur Anerkennung einer nachgewiesenen Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt da gegen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG), d.h. es muß mehr für als gegen einen sol chen Kausalzusammenhang sprechen (BSG SozR 3850 § 51 Nrn. 8, 10,§ 52 Nr. 1). Die Legaldefinition in § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG stellt klar, dass Impfschaden nicht jede Gesundheitsstörung ist, die mit Wahrscheinlichkeit auf der Impfung beruht, sondern nur der über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende. Welche Impfreaktionen danach als Impfschäden anzusehen sind, lässt sich im allgemeinen den AHP - jeweils Nr. 57 der AHP 1983 und AHP 1996 - entnehmen. Die AHP geben den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, das ist die sogenannte Schulmedizin, entsprechenden aktuellen Kenntnis- und Wissensstand wieder, u.a. auch über die Auswirkungen und Ursachen von Gesundheitsstörungen nach Impfungen. Zwar beruhen die AHP weder auf Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften, so dass sie keinerlei Normqualität haben. Dennoch wirken sie in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit, haben deshalb norm ähnlichen Charakter und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen heranzuziehen (vgl.BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19 m. w. N.).

Nach den maßgeblichen Richtlinien der AHP sind bei einer Pocken- Schutzimpfung Impfschäden u.a. Komplikationen am Nervensystem in Form einer postvakzinalen Enzephalopathie (überwiegend bei Kindern unter zwei Jahren) und postvakzinale Enzephalitis (Encephalomyelitis) bei einer Inkubationszeit von drei Tagen bis drei Wochen, meist sieben bis 10 Tage (AHP 1983 Nr. 57 S. 183 ff.; AHP 1996 Nr. 57 S. 228 ff.). Akute Erscheinungen sind hiernach: Bewusstseins trübung bis zur Bewusstlosigkeit, Fieber über den 10. Tag nach der Impfung hinaus, seitenbetonte oder generalisierte Krampfanfälle (besonders oft bei der Enzephalopathie), Gliedmaßenlähmungen, gelegentlich isolierte Hirnnervenlähmungen, seltener Meningismus.

Hierzu heißt es in den AHP weiter: "Die postvakzinale Enzephalopathie (bzw. Enzephalitis) geht nicht immer mit ausgeprägten derartigen Symptomen einher; sie kann auch symptomarm (aber nicht symptomlos!) verlaufen und wird dann oft als "blande Enzephalopathie" bezeichnet. Wenn eine solche Enzephalopathie zur Frage steht, ist neben einer genauen Festlegung der Krankheitserscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Apathie, abnorme Schläfrigkeit, Nahrungsverweigerung, Erbrechen), die während der Inkubationszeit nach der Impfung vorgelegen haben, eine eingehende Ermittlung und Würdigung des weiteren Verlaufsnotwendig. Dabei ist vor allem zu prüfen, ob auf einen Entwick lungsknick (deutlicher Entwicklungsstillstand, Verlust bereits erworbener Fähigkeiten) im Anschluß an die Impfung geschlossen werden kann oder ob eine Progredienz von hirnorganischen Störungen zu erkennen ist. Bei einem Impfschaden ist eine solche Progredienz nicht zu erwarten, wenn nicht hirnorganische Anfälle den Hirnschaden mitbestimmen. Überdies muß beachtet werden, dass in der Regel eine Parallelität zwischen dem Schweregrad des Symptombildes und der postvakzinalen Enzephalopathie (bzw. Enzephalitis) und dem Ausmaß der Folgen besteht; nach einer symptomarmen Enzephalopathie ist nicht mit einem sehr schweren Hirnschaden zu rechnen."

In Anwendung der vorstehend genannten Grundsätze sind die für die begehrte Versorgung erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Maßgeblich hierfür ist, dass ein Impfschaden im Sinne des § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG nicht nachgewiesen ist. Unter Würdigung aller Umstände vermag der Senat nunmehr vier Jahrzehnte nach der Impfung nicht zu seiner vollen Überzeugung ("Vollbeweis", d.h. zur Überzeugung des Gerichts von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder eines so hohen Grades an Wahrscheinlichkeit, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt - vgl. u.a. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 6. Auflage, Rdnr. 6 a zu § 103 und Rdnr. 5 zu § 118 -) festzustellen, dass die Klägerin einen Impfschaden erlitten hat.

Die Gutachten des Prof. Dr. K ... und des Prof. Dr. W ..., auf die die Klägerin ihren Anspruch vornehmlich stützt, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Die von den Sachverständigen be schriebenen Hinweise auf Symptome einer konvulsiven Form (sogenannte blande Verlaufsform) einer postvakzinalen Enzephalopathie reichen nicht aus, einen Impfschaden nachzuweisen. Soweit Prof.Dr. W ... - anders als Prof. Dr. K ... - eine postvakzinale Enzephalopathie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annimmt, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Für den Nachweis eines Impfschadens reicht es nicht aus, dass - wie von Prof. Dr. W ... zur Begründung seiner Auffassung angeführt - innerhalb der Inkubationszeit Krankheitserscheinungen wahrscheinlich gemacht werden können, die dem Symptomenkomplex einer nicht konvulsiven Form einer postvakzinalen Enzephalopathie entsprechen. Vielmehr muß nachgewiesen sein, dass entsprechende Krankheiserscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten, wie sie in den AHP (vgl. oben) beschrieben sind, innerhalb der Inkubationszeit von drei Tagen bis drei Wochen nach der Impfung tatsächlich aufgetreten sind. Ein solcher Nachweis ist hier unter Würdigung aller Um stände nicht erbracht. Vielmehr verbleiben hieran nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der medizini schen Beurteilungen des Prof.Dr. K ... und des Prof. Dr ... ernste und vernünftige Zweifel.

Entgegen der Auffassung des Prof. Dr. W ... kann eine sich progredient entwickelnde prävakzinale Schädigung, wie sie der Beklagte angenommen und auch Prof. Dr. E ... beschrieben hat, nicht ausgeschlossen werden. Zudem spricht auch die Schwere des heutigen Krankheitsbildes dagegen, dass es auf einer blande verlaufenden postvakzinalen Enzephalopathie beruht.

Ärztliche Unterlagen, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung aufgetretene Krankheitssymptome einer Enzephalopathie nachweisen könnten, sind nicht vorhanden. Auch der erste für die Zeit nach der Impfung vorliegende Bericht des Kinderarztes Dr. P ... enthält keinerlei verwertbare Hinweise auf eine im Zusammenhang mit der Impfung aufgetretene cerebrale Erkrankung. Soweit Dr. F ... in seinem Bericht vom 21.02.1989 eine postvakzinale Meningo- Enzephalitis angegeben hat, sind seine Angaben insgesamt nicht geeignet, ein entsprechendes Krankheitsbild nachzuweisen. Denn Dr. F ... hat die Klägerin selbst nicht körperlich untersucht. Zudem hat er die Klägerin nach dem Umzug der Familie bereits eine Zeit lang vor der Impfung überhaupt nicht gesehen und sie nach der Impfung jedenfalls erst nach Ablauf der Inkubationszeit wieder getroffen.

Allein die von den Zeugen und der Mutter J ... S ... bekundeten durch keinerlei medizinischen Unterlagen belegten Verhal tensänderungen reichen nicht aus, eine innerhalb der Inkubationszeit im Zusammenhang mit der Impfung aufgetretene cerebrale Erkrankung nachzuweisen.

Unter Würdigung aller medizinischen Unterlagen hat der Senat - an ders als Prof. Dr. W ... - erhebliche Zweifel, dass sich die Klägerin bis zur Impfung altersentsprechend entwickelt hat.

Zweifel an einer bis zur Impfung normal verlaufenden Entwicklung ergeben sich zunächst aus der Vorgeschichte, die anläßlich des jugendpsychiatrischen Befundberichtes der Westfälischen Klinik für Jugendpsychiatrie vom 21.08.1961 erstellt worden ist. Denn hier nach fiel bereits im Winter 1958/59 auf, dass die Klägerin in ihrer Entwicklung stehengeblieben bzw. ein Rückgang eingetreten ist. Da die Vorgeschichte damals unter Verwendung eines von den Angehörigen der Klägerin ausgefüllten Fragebogens mit besonderer Sorgfalt und nur gut zwei Jahre nach der Impfung am 18.06.1959 erstellt worden ist, ist es kaum nachvollziehbar und auch aufgrund der geltend gemachten Verwechselung des Winters 1958/59 mit dem Winter 1959/60 nicht erklärlich, dass in der ausführlichen Vorgeschichte weder die Impfung selbst, noch die nach dem heutigen Vor trag - etwa vier Jahrzehnte nach der Impfung - im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung, also bereits Mitte 1959 und nicht erst im Winter 1959/60, aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten keinerlei Erwähnung gefunden haben.

Zudem legen auch die Unterlagen der Universitäts-Klinik Köln (stationäre Behandlung vom 28.12.1962 bis 25.01.1963) die Annahme einer Vorschädigung nahe. Denn in der Anamnese heißt es: "Normale Entwicklung bis zum Alter von 1 1/2 Jahren. Seitdem praktisch Stillstand. Hat nicht gelernt, Sätze zu sprechen. Nur Mama, Papa".

Auch hiernach ist bereits mit 1 1/2 Jahren, also etwa im Winter 1958/59 ein Entwicklungsstillstand eingetreten. Bei normaler Entwicklung bis zur Impfung ist es zudem unverständlich, dass die Klägerin niemals gelernt hat, Sätze zu sprechen sondern - wie in der Anamnese angegeben - nur Mama und Papa. Zum Zeitpunkt der Impfung war die Klägerin bereits über zwei Jahre alt. Im Alter von zwei Jahren kann ein gesundes Kind, worauf der Sachverständige Prof. Dr. E ... hingewiesen hat, aber bereits Sätze mit drei Wörtern sprechen und verfügt über einen Wortschatz von 100 bis 200 Wörtern. Über ein solches Sprachvermögen verfügte die Klägerin aber auch nach den von der Mutter anlässlich ihrer Anhörung durch den Senat gemachten Angaben aber niemals. Denn auch hiernach sprach sie vor der Impfung noch keine Sätze.

Die hieraus folgenden Zweifel an einer altersentsprechend verlaufenden Entwicklung der Klägerin bis zur Impfung lassen sich auch durch die Bekundungen der Zeugen nicht ausräumen.

Zwar haben die Zeuginnen die Klägerin als ein bis zur Impfung normal entwickeltes und fröhliches Kind beschrieben. Der Senat stellt auch nicht in Frage, dass dieser von den Zeugen wiedergegebene Eindruck ihrem heutigen Erinnerungsvermögen nach nunmehr vier Jahrzehnten entspricht. Dennoch ist der Beweiswert dieser Angaben aber angesichts der oben erörterten medizinischen Unterlagen nur gering. Entwicklungsrückstände eines Kleinkindes sind in der Regel von Außenstehenden, die die Entwicklung des Kindes nicht kontinuierlich täglich verfolgen können, nicht ohne weiteres erkennbar. Auch soweit der Zeuge Dr. F ... einen normalen Entwicklungsverlauf angibt, rechtfertigt dies nicht den Schluß, dass Störungen tatsächlich erst nach der Impfung aufgetreten sind. Denn der frühere Nachbar Dr. F ... hat - wie bereits oben ausgeführt - die Klägerin nach dem Umzug der Familie jedenfalls auch bereits einige Zeit vor der Impfung nicht mehr gesehen. Etwaige in dieser Zeit aufgetretene Verhaltensauffälligkeiten hätte er schon deshalb nicht bemerken können.

Da Dr. F ... die Klägerin zudem innerhalb der Inkubatiosnzeit nicht gesehen hat, sind seine Angaben unter Würdigung aller Umstände nicht geeignet, Symptome einer innerhalb der Inkubations zeit aufgetretenen im Zusammenhang mit der Impfung stehenden cerebralen Erkrankung nachzuweisen.

Dies gilt auch für die Bekundungen der vom Sozialgericht gehörten Zeuginnen. Zwar haben die Zeuginnen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung Verhaltensauffälligkeiten der Klägerin beschrieben. Schon wegen der oben ausgeführten erheblichen Zweifel an einer altersgemäßen Entwicklung der Klägerin läßt sich hieraus aber nicht der Schluß ziehen, dass diese Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit einer postvakzinalen Enzephalopathie stehen. Vielmehr ist es ebenso gut möglich, dass die von den Zeugen bemerkten Verhaltensauffälligkeiten auf einer progredient verlaufenden prävak zinalen Schädigung beruhten.

Auch die Angaben der im Berufungsverfahren gehörten Mutter der Klägerin Johanna Schneider sind unter Würdigung aller Umstände ebenfalls nicht geeignet, einen Impfschaden nachzuweisen. Zwar beschreibt die Mutter heute innerhalb der Inkubationszeit auf getretene Krankheitserscheinungen und Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine unübliche Impfreaktion hinweisen. Der Senat vermag sich aber nicht davon zu überzeugen, dass sich das Verhalten der Klägerin innerhalb der Inkubationszeit tatsächlich so verändert hat, wie heute nach über vier Jahrzehnten geschildert. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die heute vorgetragenen Verhaltsänderungen - wie bereits oben ausgeführt - in den früheren zeitnäheren medizinischen Unterlagen bzw. den entsprechenden ausführlichen Anamnesen keinerlei Erwähnung gefunden haben. Wenn sich das Verhalten der Klägerin innerhalb der Inkubationszeit tatsächlich so geändert haben sollte, wie nunmehr begründet, ist es nur schwer verständlich, dass der Kinderarzt Dr. P ... erst im November 1959, also erst etwa sechs Monate nach der Impfung, aufgesucht worden ist. Abgesehen hiervon enthalten auch die damaligen Untersuchungen keinerlei Hinweise auf diese Verhaltensänderungen. Anläßlich ihrer Anhörung durch den Senat vermittelte die Mutter der Klägerin den Eindruck, dass sie sich an die genauen zeitlichen Abläufe nicht mehr erinnern kann. Hierfür spricht auch, dass bei Antragstellung im Februar 1989 noch angegeben worden ist, die Behinderung der Klägerin habe sich erstmals vier bis sechs Wochen nach der Impfung bemerkbar gemacht.

Insgesamt hält es der Senat unter Würdigung aller Umstände für nicht nachgewiesen, dass innerhalb der Inkubationszeit tatsächlich Symptome einer postvakzinalen Enzephalopathie aufgetreten sind.

Darüberhinaus sprechen auch die vom Beklagten und vom Sachverständigen Prof. Dr. E ... aufgezeigten weiteren medizinischen Gesichtspunkte dagegen, dass die Klägerin eine im Zusammenhang mit der Impfung stehende blande Enzephalopathie erlitten hat. Trotz der von der Klägerin gegen die Beurteilung des Prof. Dr. E ... wegen der Verwechselung der Großväter erhobenen Einwendungen hatte der Senat keine Bedenken, die im übrigen von Prof. Dr. E ... überzeugend dargestellten medizinischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Denn seine medizinische Beurteilung steht erkennbar mit den oben wiedergegebenen Grundsätzen der AHP (Ziffer 57) in Einklang. Hiernach ist zu beachten, dass in der Regel eine Paralleli tät zwischen dem Schweregrad des Symptombildes der postvakzinalen Enzephalopathie und dem Ausmaß der Folgen besteht. Nach einer symptomarmen Enzephalopathie ist nicht mit einem sehr schweren Hirnschaden zu rechnen. Angesichts dieser Parallelitätsregel spricht die Schwere des heutigen Krankheitsbildes, wie von Prof. Dr. E ... im einzelnen dargelegt, dagegen, dass es auf der von Prof. Dr. W ... beschriebenen blanden Form einer postvakzinalen Enzephalopathie beruht. Zudem spricht auch neben den von Prof. Dr. E ... angeführten weiteren medizinischen Gesichtspunkten die beschriebene progrediente Entwicklung der Erkrankung der Klägerin grundsätzlich gegen die Annahme eines Impfschadens.

Schließlich finden sich nach der auch insoweit überzeugenden medizinischen Beurteilung der Sachverständigen Prof. Dr. E ... auch keine Gesichtspunkte dafür, dass eine etwaige Vorschädigung der Klägerin, für die - wie oben ausgeführt - vieles spricht, durch die Impfung verschlimmert worden ist. Abgesehen hiervon kann auch nach den Beurteilungen des Prof. Dr. K ... und des Prof. Dr. W ... eine richtungsgebende Einwirkung der Impfung auf eine Vorschädigung nur dann bejaht werden, wenn eine postvakzinale Enzephalopathie aufgetreten ist. Ein solcher Impfschaden ist aber - wie oben ausgeführt - nicht nachgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, § 160 Abs. 2 Ziffer 1 SGG. Maßgeblich sind für die Entscheidung vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalles.
Rechtskraft
Aus
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