L 6 V 78/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 6 V 79/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 V 78/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10.10.1996 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1955 geborene Klägerin begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Am 12.05.1993 hatte die Klägerin zumindest ab Nachmittag die Herren D.S., J.A. und E.R. in ihrer Wohnung zu Besuch. Im Verlauf des Zusammentreffens, bei dem auch Alkohol konsumiert wurde, hatten die Klägerin und J.A. verbale Auseinandersetzungen mit D.S. Nachdem E.R. gegen 20.00 Uhr die Wohnung verlassen hatte, warfen die Klägerin und J.A. dem ihnen an einem Couchtisch gegenübersitzenden D.S. u.a. erneut vor, daß er arbeitslos war. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung schlug D.S. vor Wut zwei leere Bierflaschen zusammen. Splitter der Flaschen trafen die Klägerin am linken Auge.

Auf Strafanzeige der Klägerin wurde D.S. vom Amtsgericht (AG) Coesfeld wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt (rechtskräftiges Urteil vom 09.06.1994, Az. 3a Ls 41 Js 987/93). Das AG ist nach Zeugenvernehmung davon ausgegangen, daß D.S. damit hätte rechnen müssen, daß durch das Zusammenschlagen der Bierflaschen einer der Anwesenden verletzt werden konnte. Im Zivilrechtsstreit vor dem Landgericht Münster (Az. 2 0 470/94) verpflichtete sich D.S. durch Vergleich zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 25.000 DM an die Klägerin.

Im Dezember 1995 beantragte die Klägerin wegen des Vorfalls bei dem Beklagten Versorgung. Dieser wies den Antrag nach Beiziehung der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Münster (Az. 41 Js 987/93) mit Bescheid vom 22.01.1996 und Widerspruchsbescheid vom 18.03.1996 mit der Begründung zurück, daß kein vorsätzlicher tätlicher Angriff vorgelegen habe.

Mit ihrer Klage vom 19.04.1996 hat die Klägerin vorgetragen, D.S. habe ihr durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine schwere gesundheitliche Schädigung zugefügt. Er habe in Jähzorn gehandelt; nach ihrer Ansicht hätte er beim Zusammenschlagen der beiden Bierflaschen damit rechnen können, daß sie von umherfliegenden Splittern an ihrem Auge getroffen werde.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22.01.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.1996 mit Wirkung ab Antragstellung am 12.12.1995 zu verurteilen, die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen im Bereich des linken Auges als Schädigungsfolge im Sinne des OEG anzuerkennen und ihr dafür ab Antragstellung Versorgungsleistungen nach dem OEG i.v.m.d. Bundesversorgungsgesetz (BVG) in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht Münster hat einen Befundbericht von dem Allgemeinmediziner Dr. B. eingeholt, in dem dieser u.a. einen Augenverlust links beschreibt.

Mit Urteil vom 10.10.1996 hat das SG die Klage abgewiesen, weil eine vorsätzliche Körperverletzung der Klägerin nicht festzustellen sei; das Zusammenschlagen der Bierflaschen habe vielmehr auf J.A. gezielt.

Gegen das am 22.10.1996 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21.11.1996 Berufung eingelegt und vorgetragen, infolge des Streites habe D.S. vor Wut zwei Bierflaschen, die er in den Händen hielt, vor dem Gesicht des Zeugen J.A. zusammengeschlagen. Damit habe ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff vorgelegen. Unerheblich sei, daß der Angriff nicht gegen sie gerichtet gewesen sei, da eine Identität zwischen Verletztem und der angegriffenen Person nicht erforderlich sei. D.S. habe trotz Erkennens der Möglichkeit des Erfolgseintritts gleichwohl sein gefährliches Unternehmen durchgeführt und somit zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Im übrigen komme es auf den Vorsatz im Hinblick auf den eingetretenen Schaden nicht an; ausreichend sei z.B., daß durch Schreckschüsse auf das Opfer eingewirkt werde. Das Zusammenschlagen der Bierflaschen sei mit einem solchen Schreckschuß zu vergleichen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10.10.1996 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.01.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.1996 zu verurteilen, eine Erblindung des linken Auges als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihr ab Dezember 1995 Versorgung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat J.A. und D.S. als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 08.04.1997 und wegen der weitereren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Münster (Az. 41 Js 987/93) und des Landgerichts Münster (2 0 470/94) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen; denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Opferentschädigung.

Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige Versorgung, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person" eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Voraussetzung ist ein tätlicher Angriff als eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung, der als schädigender Vorgang sowohl hinsichtlich seiner objektiven als auch subjektiven Merkmale erwiesen sein muß (Urteil des BSG vom 28.03.1984, 9a RVg 1/83, SozR 3800 § 1 Nr. 4). Mithin muß auch der erforderliche Vorsatz des tätlichen Angriffs nachgewiesen sein (Urteil des BSG vom 22.06.1988, 9/9a RVg 3/87, Breithaupt 1989, 488, 489; Beschluss des BSG vom 22.06.1988, 9/9a BVG 4/87, Breithaupt 1989, 131, 134), wobei ggf. aus dem Tatablauf auf die erforderliche feindselige Einstellung geschlossen werden kann (Urteil des BSG vom 24.04.1991, RVg 1/89.) Fehlt es an diesem Nachweis, geht das zu Lasten der Klägerin, der die objektive Beweis- oder Feststellungslast obliegt.

Von dem Vorliegen eines solchen vorsätzlichen tätlichen Angriffs gegen die Klägerin oder den Zeugen J.A. vermochte sich der Senat nach dem gesamten Verfahrensergebnis nicht zu überzeugen. Dahinstehen kann dabei, ob ein tätlicher Angriff überhaupt durch nur bedingten Vorsatz begangen werden kann (vgl. hierzu BSG vom 22.06.1988 a.a.O. m.w.N.; Urteil des LSG NRW vom 21.05.1996, L 6 V 40/94). Selbst bedingter Vorsatz ist nämlich nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden, vernünftige Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit festzustellen.

Nach allgemein gültiger Definition genügt für die Annahme bedingten Vorsatzes, daß der Täter es für möglich hält, aber billigend in Kauf nimmt, daß er bei seiner Tat eine andere Person verletzt. Bewußt fahrlässig handelt dagegen derjenige, der über die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert, dann aber pflichtwidrig darauf hofft, daß er sich nicht realisieren werde; unbewußte Fahrlässigkeit liegt vor, wenn dem Täter die Voraussicht im Hinblick auf den Erfolg fehlt, er sich aber bei erforderlicher Sorgfalt der Gefahr und damit der Möglichkeit eines Schadens bewußt werden hätte können.

Vorliegend lassen sich sowohl das kognitive Element des bedingten Vorsatzes, nämlich das Erkennen des D.S., daß sein Handeln möglicherweise zu einer - gleich wie gearteten - Verletzung der Klägerin oder des Zeugen J.A. führen könnte, und damit gleichzeitig das voluntative Element, nämlich daß ein solcher möglicher Erfolgseintritt gebilligt wird, nicht feststellen. Zumindest ebenso gut möglich ist nämlich, daß D.S. bei seiner Handlung die Möglichkeit einer Verletzung anderer pflichtwidrig ausgeschlossen oder gar überhaupt nicht in Betracht gezogen hat.

Die Angaben des D.S. im Strafverfahren lassen keinen gesicherten Rückschluß auf einen bedingten Vorsatz zu; sie schließen diesen vielmehr aus. D.S. hat nämlich angegeben: Daß die Splitter soweit flogen, hätte ich nie gedacht." Damit gibt er selber an, daß er eine Gefährdung anderer für ausgeschlossen bzw. für nicht möglich gehalten hat, so daß allenfalls bewußte Fahrlässigkeit in Betracht käme. Der Senat verkennt dabei nicht, daß die Angaben eines nicht geständigen Täters vielfach oder sogar in der Regel allenfalls nur bedingt verwertbar sind. Dies ändert aber nichts daran, daß der erforderliche Nachweis der subjektiven Seite einer Vorsatztat durch die Angaben des D.S. nicht geführt ist.

Aber auch die Angaben der Klägerin und des Zeugen J.A. sowie die äußeren Tatumstände lassen ebenfalls einen sicheren Rückschluß auf einen bedingten Vorsatz nicht zu. Soweit die Klägerin zunächst vor dem SG vorgetragen hat, D.S. hätte damit rechnen können, daß sie von umherfliegenden Splittern an ihrem Auge getroffen werde, hat sie eine unbewußte Fahrlässigkeit geschildert. Diese Beurteilung ist im Ergebnis zu teilen; zumindest handelt es sich dabei um einen durchaus plausiblen anderen Geschehensverlauf, der zu der o.a. Beweislastentscheidung führt. Der Verlauf des Abends am 12.05.1993 läßt nämlich die - naheliegende - Bewertung zu, daß D.S. die Flaschen völlig unreflektiert zusammengeschlagen hat und allenfalls bei Ausübung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können, daß eine Verletzung anderer möglich ist, d.h. D.S. hat lediglich unbewußt fahrlässig gehandelt. Bei dieser Beurteilung kommt es nicht einmal darauf an, daß D.S. sowohl nach den Bekundungen des Zeugen J.A. im Strafverfahren als auch nach den Angaben der Klägerin im Zivilverfahren nicht unerhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hat und damit aller Lebenserfahrung nach alkoholisch bedingt einerseits enthemmt anderseits in seiner geistigen Beurteilungsfähigkeit beeinträchtigt war. Vielmehr ist entscheidend, daß sowohl die Klägerin als auch der Zeugen J.A. angeben, daß D.S. die Flaschen vor lauter Wut bzw. vor lauter „Brast" oder auch Jähzorn zusammengeschlagen hat. Denn Ausfluß der von Klägerin und Zeugen übereinstimmend angegebenen Wut sind gerade nahezu unkontrollierte, zumindest unreflektierte Handlungen, bei denen Gedanken über die möglichen Auswirkungen des eigenen Tuns nicht aufkommen. Dementsprechend gibt auch die Klägerin an, D.S. wäre es in seinem Brast völlig egal gewesen, ob er sich bei seiner Aktion selber verletzt hätte. Bei bewußtem Handeln, bei dem die Möglichkeit der Schädigung anderer erkannt wird, liegt, wenn die Vorstellungen über den möglichen Tatverlauf schon so weit gediehen sind, bei der vorliegenden Fallgestaltung aber der Gedanke an eine mögliche eigene Schädigung auf der Hand. Würde dies aber erkannt, dann käme es in der Regel bei verständigem Gedankenablauf nicht zu der Handlung; denn die Gefahr einer Selbstschädigung wird in der Regel nicht bewußt billigend in Kauf genommen. Ebenso spricht die Einschätzung des Zeugen J.A., D.S. habe ihn nicht bedroht und hätte sich das auch wohl nicht getraut, gegen einen bedingten Vorsatz des D.S. Wenn diese Einschätzung nämlich zutrifft, ist nicht nachzuvollziehen, aus welchem Grund D.S. dennoch eine Verletzung des Zeugen hätte in Kauf nehmen sollen.

Selbst wenn die jetzigen Angaben der Klägerin und des Zeugen J.A., die Entfernung zu den Bierflaschen im Zeitpunkt des Aufeinanderschlagens habe ca. 1 Meter betragen, gegenüber den ersten Angaben der Klägerin bei Dr. L., es sei eine Entfernung von 2 bis 3 Metern gewesen, als zutreffend unterstellt werden, ergibt sich auch daraus kein Rückschluß auf die tatsächlichen Erkenntnisse und den Willen des D.S. Aus diesem Umstand kann lediglich geschlossen werden, daß D.S. bei gebotener Sorgfalt mit der Gefahr einer Verletzung anderer hätte rechnen müssen.

Fehl geht die Klägerin mit ihrem Vorbringen, das Zusammenschlagen der Flaschen sei mit einem Schreckschuß zu vergleichen, dieser sei aber eine Gewalttat gegen eine Person. Denn auch bei Abgabe eines Schreckschusses wird ein Tun gefordert, das unmittelbar auf eine Person zielt und auf diese einwirken soll (Schoreit, Kommentar zum OEG, § 1 Rdnr. 51). Feststellen läßt sich vorliegend aber nur, daß D.S. gewaltsam auf zwei Bierflaschen eingewirkt hat. Sichere Feststellungen über die innere Tatseite, also den Vorsatz und die Zielrichtung, lassen sich jedoch - wie o.a. - nicht treffen; insbesondere fehlt es an dem Nachweis, daß D.S. wenigstens mit bedingtem Vorsatz außer auf die Bierflaschen auch auf eine Person - sei es die Klägerin oder den Zeugen J.A. - in welcher Form auch immer einwirken wollte oder eine solche Einwirkung zumindest billigend in Kauf genommen hat.

Die Klägerin kann auch keine Entschädigung nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 OEG verlangen. Nach Abs.2 Nr. 2 steht die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen einem tätlichen Angriff i.S. des Abs. 1 gleich. Auf gemeingefährliche Weise in diesem Sinne wird jemand nur dann verletzt, wenn das schädigende Mittel nach seiner Beschaffenheit und nach der Art seiner Verwendung für eine unbestimmte Zahl anderer Personen eine konkrete Möglichkeit einer Gefährdung von Leib und Leben geschaffen hat und wenn der Täter die Wirkung der entfesselten Kraft nicht bestimmend abgrenzen und beherrschen kann (Urteil vom 22.06.1988, a.a.O.). In diesem Sinne kann das Zusammenschlagen von zwei leeren Bierflaschen nicht gewertet werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Anlaß, die Revision zuzulassen, bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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