L 4 KR 112/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 521/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 112/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. Februar 2004 aufgehoben.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Januar 2002 und 11. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2002 verurteilt, dem Kläger Kosten in Höhe von 19.632,37 EUR zu erstatten. III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Behandlungskosten in Höhe von 19.632,37 EUR zu bezahlen.

Der 1936 geborene Kläger ist freiwilliges Mitglied der Beklagten. Er litt an einem lymphatisch-metastatsierenden Parotistumor links und befand sich zwischen 1998 und 2001 insgesamt siebenmal in der A.-Klinik W. zur Behandlung mit regionaler Chemotherapie und Operation. Die Beklagte hat die Kosten der Therapie übernommen, die nach dessen Angaben nur von Prof. Dr.A. durchgeführt wird.

Der jetzt streitgegenständliche Therapieabschnitt begann am 10.12.2001. Am 14.12.2001 bescheinigte Prof.Dr.A. (für die Krankenkasse), dass er am 31.12.2001 in der Klinik in W. ausscheiden werde. Für den Kläger bestehe nur die Möglichkeit, sich mit dieser speziellen Therapieform in der Privatklinik des Prof.Dr.A. in B. weiterbehandeln zu lassen. Die Beklagte hörte zur Weiterbehandlung den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK, Dr.R.) an. Dieser führte am 08.01.2002 aus, bei der Behandlung durch Prof.Dr.A. handle es sich um ein zweifelhaftes Verfahren, das nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Die Fortführung könne aus sozialmedizinischer Sicht nicht empfohlen werden. Der Kläger solle sich in einer onkologischen Schwerpunktpraxis oder einer onkologischen Ambulanz einer Universitätsklinik vorstellen. Die Beklagte hat daraufhin dem Kläger mit Schreiben vom 10.01.2002 mitgeteilt, falls die außervertragliche Behandlung gewünscht werde, seien weitere Unterlagen erforderlich. Eine Kostenübernahme sei nach dem jetzt vorliegenden MDK-Gutachten nicht möglich. Dem Kläger wurden ambulante onkologische Praxen in M. genannt und er wurde auf die onkologischen Abteilungen der Universitätskliniken verwiesen. Nachdem sich Prof.Dr.A. an die Beklagte gewandt und der MDK sich erneut geäußert hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.03.2002 eine Kostenübernahme für die außervertragliche Chemotherapie ab. Der Kläger legte hiergegen am 28.03.2002 Widerspruch ein; es habe nicht nur eine Chemotherapie stattgefunden, sondern es sei außerdem in der Klinik des Prof.Dr.A. eine Operation durchgeführt worden. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2002 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht München (SG) Klage erhoben. Der Kläger hat die Honorarvereinbarungen und Behandlungsverträge mit Prof.Dr.A. sowie die Rechnungen zweier Privatkliniken für stationäre Aufenthalte vorgelegt. Auf Antrag des Klägers ist Prof. Dr.S. (HNO-Arzt) als Gutachter nach § 109 SGG gehört worden. Im Gutachten vom 23.10.2003 hat der Sachverständige ausgeführt, dem Kläger sei, nachdem ein Rezidiv des 1998 operierten Adenokarzinoms festgestellt worden war, in der A.-Klinik W. am 11.12.2001 eine Katheterspritze in die Aorta carotis eingelegt worden. Am 14.12.2001 habe Prof.Dr.A. , Chefarzt dieser Klinik, sein Ausscheiden zum 31.12.2001 bescheinigt mit dem Hinweis, dass diese spezielle Therapieform in der Privatklinik in B. weitergeführt werden müsse, da bis jetzt noch keine Klinik für Kassenpatienten gefunden worden sei. Der Kläger sei dann am 07.02.2002 wegen des am 29.11.2001 festgestellten Tumorrezidivs in der A.klinik B. nachoperiert worden, am 20.02.2002 sei eine nochmalige Operation erfolgt. Zwischenzeitlich seien 13 Zyklen einer Chemotherapie über den neu implantierten Arteria-carotis-Katheter durchgeführt worden. Während des stationären Aufenthalts vom 14.11. bis 17.11.2002 sei die Entfernung dieses Katheters vorgenommen worden. Der Gutachter ist zu dem Ergebnis gelangt, trotz der insgesamt ungünstigen Prognose, die Adenokarzinome der Ohrspeicheldrüse aufweisen, sei der Gesundheitzustand des Klägers gut. Die von Prof.Dr.A. durchgeführte langjährige Behandlung habe zu einem bemerkenswerten Erfolg geführt. Wenig verständlich sei die Feststellung des Dr.R. (MDK), dass eine erneute Chemotherapie nicht angezeigt sei. Aufgrund des nachgewiesenen erneuten Karzinoms sei die Chemotherapie und Nachoperation unbedingt lebensnotwendig gewesen. Der Schlussfolgerung des Dr.R. , es handle sich um ein zweifelhaftes Behandlungsverfahren, könne nicht gefolgt werden. Es bestünden ohne Zweifel hinreichende stationäre Behandlungsmöglichkeiten in den deutschen Hochschulkliniken, die jedoch mit der speziellen Behandlungsmethode, nämlich der örtlichen Anwendung von Zytostatika auf arteriellem Wege häufig nicht hinreichend vertraut seien. Ob die Situation des Klägers eine Notfallsituation dargestellt habe, könne der Gutachter nicht entscheiden, es habe sich auf jeden Fall um eine lebensbedrohliche Krankheit gehandelt.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 26.02.2004 abgewiesen. Es bestehe kein Anspruch auf Kostenerstattung der Privatarztrechnungen des Prof.Dr.A. und der privaten Rechnungen der Nichtvertragsklinik B ... Eine unaufschiebbare Leistung liege ersichtlich nicht vor, da hierunter nur Notfälle und andere dringliche Bedarfslagen fallen. Der Kläger habe sich zuletzt im Dezember 2001 in Behandlung bei Prof.Dr.A. in der Vertragsklinik in W. befunden. Die anschließende Privatbehandlung sei weder unaufschiebbar gewesen, noch sei es dem Kläger nicht zumutbar gewesen, vertragsärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Außerdem habe die Behandlung bereits am 14.12.2001 begonnen, der von Prof. Dr.A. gestellte Antrag sei erst am 19.12.2001 bei der Beklagten eingegangen. Damit scheitere der Erstattungsanspruch am rechtzeitigen Antragserfordernis. Von einem Systemversagen sei nicht auszugehen, das Ausscheiden eines Arztes aus einer Vertragsklinik und der Wechsel in eine private Klinik seien kein Grund, um begonnene Behandlungen auf privatärztlicher Basis fortführen zu können und von der Beklagten Kostenerstattung zu verlangen.

Hiergegen richtet sich die am 13.05.2004 eingegangene Berufung des Klägers. Das SG erkenne zutreffend, dass es sich bei der Behandlung durch Prof.Dr.A. um eine einheitliche Behandlung gehandelt habe. Da diese Behandlung bereits im November 2001 begonnen habe, sei es offensichtlich, dass der Kläger nicht mit der Durchführung gewartet hat, bis er eine Ablehnung durch die Krankenkasse erhalten hatte. Der Kläger habe die Behandlung im Vertrauen darauf begonnen, dass die Kosten wie bisher auch von der Krankenkasse getragen würden, im Verlauf der Behandlung habe der Behandler an eine Privatklinik ohne Kassenzulassung gewechselt. Es habe sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung gehandelt, die durchgeführte Behandlung sei die einzig erforderliche gewesen; deshalb liege ein Ausnahmefall vor. Die Behandlung habe vier Chemotherapien, die Operation zur Entfernung des Tumors und vier weitere Chemotherapien im Anschluss umfasst. Der Abschluss der Behandlung sei in der Vertragsklinik geplant gewesen, aufgrund Komplikationen sei es nicht dazu gekommen. Als Prof.Dr.A. die Klinik schneller als geplant verließ, sei der Katheter bereits gesetzt gewesen, eine Weiterbehandlung also dringend erforderlich. In diesem Fall könne dem Kläger kein Arzt- und Methodenwechsel zugemutet werden. Die Vertragsklinik in W. hätte den Kläger nicht weiterbehandeln können, Prof.Dr.A. habe sein Team mitgenommen.

Nach der mündlichen Verhandlung am 07.10.2004 hat der Senat Prof.Dr.S. als Sachverständigen ergänzend gehört. Er ist im Gutachten vom 02.03.2005 zu dem Ergebnis gekommen, die am 10.12.2001 begonnene Therapie stelle eine einheitliche Behandlung dar. Es werde für unwahrscheinlich gehalten, dass durch einen anderen Operateur in einem zugelassenen Krankenhaus die Behandlung erfolgreich verlaufen wäre, da die in Deutschland allgemein übliche Anwendung der systemischen Zytostatika-Applikation in der Mehrzahl der Behandlungsfälle bei Parotiskarzinomen erfolglos bleibe. Die Behandlung durch Prof.Dr.A. sei solange erforderlich gewesen, bis die eingehenden Untersuchungen sichergestellt hatten, dass ein weiteres Tumorwachstum nicht nachgewiesen werden konnte. Die Behandlungszeit bei Prof. Dr.A. sei nicht unnötig verlängert worden.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 26.02.2004 und der Bescheide der Beklagten vom 10.01.2001 und 11.03.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2002 zu verurteilen, die Kosten der Fortsetzung der Behandlung in Höhe von 19.632,37 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat das Gutachtensergebnis anerkannt, zur Beendigung des Rechtsstreits jedoch um eine mündliche Verhandlung gebeten.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten und des Sozialgerichts sowie des Senats, insbesondere auf das eingeholte Gutachten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, die wegen der Höhe des Beschwerdewertes nicht der Zulassung gemäß § 144 SGG bedarf, ist zulässig und begründet.

Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass für die Kostenerstattung als Anspruchsgrundlage § 13 Abs.3 Sozialgesetzbuch V (SGB V) in Betracht kommt. Danach hat die Krankenkasse die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn sie entweder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und der Versicherte sich die Leistungen selbst beschafft hat. Entgegen der Auffassung des SG sind die Voraussetzungen dieser Norm erfüllt.

Es ist im vorliegenden Fall von einer Behandlung als Ganzes auszugehen, d.h. eine getrennte Beurteilung hinsichtlich einzelner Behandlungsabschnitte scheidet aus, da die stationäre Behandlung insgesamt bezweckte, den lymphatisch-metastasierenden Parotis-Tumor links mit Hilfe der Therapie durch Prof. Dr.A. zu heilen bzw. eine Verschlimmerung zu verhüten (§ 27 Abs.1 Satz 1, 2 Nr.1 SGB V) zu. Sie stellte sich als Fortsetzung der von der Beklagten bewilligten und bis zum streitigen Behandlungsabschnitt finanzierten Behandlung dar. Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei einer Gesamtbehandlung eine getrennte Beurteilung hinsichtlich einzelner Behandlungsschritte unzulässig ist (BSG vom 16.09.1997, BSGE 81, 54).

Dem Kostenerstattungsanspruch steht die fehlende Anfrage wegen Kostenübernahme nicht entgegen. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Beklagte seit 1998 bis zum Ausscheiden des Prof. Dr.A. die Kosten der stationären Behandlung des Klägers in der A.-Klinik in W. unbeanstandet übernommen hat. Der Kläger hat seit 1998 an einem lymphatisch metastasierenden Parotistumor gelitten. Bei den bisher zu Lasten der Beklagten durchgeführten Therapiemaßnahmen und den jetzt noch streitigen handelt es sich um Teile eines einheitlichen Behandlungsvorganges. Damit war eine nochmalige Anfrage des Klägers bei der Beklagten wegen der Kostenübernahme nicht mehr erforderlich. Der Kläger hat zwar nicht vor der ab 10.12.2001 fortgesetzten und vom Sozialgericht zutreffend als einheitlich dargestellten Behandlung die weitere Kostenübernahme beantragt; er konnte dies jedoch nicht tun, weil er bei Behandlungsbeginn selbst nicht wusste, dass die Behandlung nicht, wie in den früheren Jahren, unmittelbar als Sachleistung von der Beklagten zu erbringen war. Die Mitteilung des Behandlers Prof.Dr.A. , er werde die Klinik verlassen, erfolgte erst nach dem 10.12.2001. Am 19.12.2001 ging die Mitteilung des Prof.Dr.A. dann bei der Beklagten ein. Die Antragstellung, die erst nach Beginn der Behandlung erfolgte, war vor der hier streitigen Behandlung nicht möglich.

Aufgrund des Sachverständigengutachtens des Prof.Dr.S. vom 02.03.2003 steht für den Senat fest, dass der Kläger die Behandlung bei Prof.Dr.A. weiterführen musste. Es lag insoweit eine notstandsähnliche Situation vor, nämlich eine schwerwiegende, d.h. lebensbedrohliche Erkrankung, für die keine andere Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung stand, als die Fortsetzung der Therapie durch Prof.Dr.A. (vgl. BSG vom 19.10.2004 SGb 2004, 746). Die Fortsetzung der Behandlung mit den hier allein von Prof.Dr.A. praktizierten Behandlungsmethoden, die als ein einheitliches Geschehen aufzufassen ist, war medizinisch erforderlich und zweckmäßig, da sie in Vertragskrankenhäusern nicht angeboten wurde (§ 12 Abs.1 SGB V).

Der Sachverständige Prof.Dr.S. hat hierzu ausgeführt, dass die beim Kläger am 10.12.2001 begonnene Behandlung in den Einzelschritten Chemotherapie-Operation-Chemotherapie eine einheitliche Behandlung dargestellt hat, die auch zur Beendigung des Tumorleidens geführt hat. Er hält es für unwahrscheinlich, dass durch einen anderen Operateur in einem zugelassenen Krankenhaus die Fortsetzung der Behandlung ab 01.01.2002 erfolgreich verlaufen wäre, da die in Deutschland allgemein übliche Anwendung der systemischen Zytostatika-Applikation in weitaus der Mehrzahl der Behandlungsfällen bei Parotiskarzinomen erfolglos bleibt. Die Behandlung war also so lange medizinisch notwendig, bis die eingehenden Untersuchungen sichergestellt hatten, dass ein weiteres Tumorwachstum nicht nachgewiesen werden konnte. Die Beklagte hat überdies die medizinische Notwendigkeit der hier streitigen Behandlung anerkannt.

Damit sind dem Kläger die tatsächlich entstandenen Kosten zu erstatten.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Unterliegen der Beklagten in beiden Rechtszügen. Sie hat die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1, 2 SGG zuzulassen, sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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