L 2 P 55/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 P 9/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 55/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 20. November 2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:

Der 1973 geborene Kläger leidet an einer schweren Intelligenzminderung (Oligophrenie). Er wurde aufgrund eines Gutachtens vom 11.01.1995 der Pflegestufe II zugeordnet. Zur Überprüfung, ob die Pflege sichergestellt sei, wurde ein Gutachten der Pflegefachkraft H. vom MDK vom 07.03.2001 nach Untersuchung am 26.02.2001 eingeholt. Diese bewertete den Hilfebedarf in der Körperpflege mit 90, bei der Ernährung mit 16 und bei der Mobilität mit 33, in der Grundpflege insgesamt mit 139 Minuten, in der hauswirtschaftlichen Versorgung mit 60 Minuten. Auf den Höherstufungsantrag vom 18.04.2002 hin wurde ein weiteres Gutachten der Pflegefachkraft R. vom 02.07.2002 nach Untersuchung am 27.06.2002 eingeholt. In der Körperpflege wurde ein Hilfebedarf von 108 Minuten angegeben, wobei auf die Wasch- und Duschvorgänge 45 Minuten entfielen. In der Ernährung wurde der Hilfebedarf mit 30 und in der Mobilität mit 37, in der Grundpflege insgesamt mit 175 Minuten bewertet.

Mit Bescheid vom 04.07.2002 wurde eine Höherstufung abgelehnt.

Zur Begründung des Widerspruchs wurden Berichte der R. Werkstätten, einer Werkstatt für Behinderte, in der sich der Kläger damals befand, vom 16.01. und 08.04.2002 vorgelegt. Das Verhalten des Klägers sei für die Mitarbeiter sehr anstrengend.

Im Gutachten vom 02.09.2002 führte die Pflegefachkraft G. aus, bei der Körperpflege sei der Hilfebedarf mit 126 Minuten zu bewerten, wobei auf die Körperreinigungsvorgänge 60 Minuten entfielen. Für die Ernährung sei ein Hilfebedarf von 36 Minuten anzunehmen, hierbei für die Nahrungsaufnahme 30 Minuten. Für die Mobilität wurden 46 Minuten angesetzt, in der Grundpflege insgesamt 208 Minuten.

Die Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.2002 als unbegründet zurückgewiesen.

Im hiergegen gerichteten Klageverfahren hat das SG in der mündlichen Verhandlung vom 20.11.2003 die Mutter des Klägers als Zeugin vernommen. Mit Urteil vom 20.11.2003 hat es die Klage abgewiesen.

Zur Begründung der Berufung übersandte der Kläger ein Attest des Dr.Z ... Der Kläger bedürfe der ständigen Fürsorge und Aufsicht durch den Vater, der auch die medikamentöse Behandlung überwachen müsse. Der Kläger leide neben der erheblichen Intelligenzminderung unter einer generalisierten Epilepsie und massiven Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen.

Im Auftrag des Gerichts erstattete die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.A. nach Untersuchung am 08.05.2004 das Gutachten vom 10.05.2004: Eine einigermaßen sinnvolle Kommunikation sei nicht möglich. Den Eltern gegenüber sei der Kläger aggressiv, verbal aufbrausend, nur teilweise artikuliert. Er könne weder lesen noch schreiben. Es bestünden erhebliche soziale und emotionale Defizite. Er lasse sich nur bedingt beeinflussen und führen. Sinn und Zweck bestimmter Handlungen seien mit ihm nicht zu erörtern. Selbst die täglich wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens habe er nur teilweise erlernt, so z.B. das Benutzen der Toilette und die Nahrungsaufnahme. Beide Vorgänge würden erschwert durch psychomotorische Unruhe, die plumpe Grob- und Feinmotorik und die fehlende Konzentrationsfähigkeit. Ohne ständige Aufforderung, Beaufsichtigung und Übernahme verschiedener Verrichtungen wäre der Kläger nicht in der Lage, den Grundanforderungen der Körperpflege zu genügen. Er neige zu hochgradiger Verschmutzung bei Nahrungsaufnahme und Nahrungsausscheidung. Nach Angaben der Eltern werde morgens eine Teilwäsche des Oberkörpers durchgeführt, ferner mehrmals täglich Waschen von Händen und Gesicht. Für die Teilwäsche des Oberkörpers seien 10 Minuten und für die dreimal tägliche Hand- und Gesichtswäsche noch einmal 6 Minuten zur Anrechnung zu bringen. Beim Duschen und Baden sei bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass zu beiden Verrichtungen zwei Pflegepersonen notwendig seien da der Kläger ansonsten die entsprechenden Handlungen nicht zulasse und weglaufe. Nach Angaben der Eltern werde fünfmal in der Woche geduscht und zweimal in der Woche gebadet. Für das Duschen seien wegen der zwei Pflegepersonen jeweils zweimal 20 Minuten, insgesamt fünfmal 40 Minuten pro Woche, also 29 Minuten täglich anzusetzen, für das Baden zweimal jeweils 25 Minuten, in der Woche insgesamt 100 Minuten, täglich somit 14 Minuten. Für Zahnpflege fielen 10 Minuten an, für das Rasieren jeden zweiten Tag 20 Minuten. Der Kläger suche unkontrolliert die Toilette auf, die Eltern seien nicht in der Lage, jeden Toilettengang zu begleiten bzw. zu kontrollieren. Dennnoch sei es glaubhaft, dass sie versuchten, hier Einfluss zu nehmen. Für das Wasserlassen sollten sechsmal 3 Minuten und für den Stuhlgang zweimal 6 Minuten angerechnet werden. Insgesamt betrage der Hilfebedarf bei der Körperpflege 109 Minuten. für die mundgerechte Zubereitung seien dreimal 3 Minuten, insgesamt 9 Minuten anzurechnen. Auf Nachfrage werde versichert, dass der Kläger nicht gefüttert werde. Beim Essen ergebe sich lediglich ein allgemeiner Aufsichtsbedarf, damit er während des Essens nicht ständig wegrenne und sich nicht im Übermaß verschmutzt; eine eigentliche Hilfe zur Nahrungsaufnahme finde nicht statt. Im Bereich der Mobilität sei es wegen der Widerstandshandlungen gerechtfertigt, die Zeitkorridore zu überschreiten und für das Ankleiden 20 Minuten und für das Entkleiden 10 Minuten zur Anrechnung zu bringen. Ansonsten sei regelmäßiger Hilfebedarf im Bereich der Mobilität nicht erkennbar. Es würden zwar die Medikamente nach den vorgelegten Unterlagen immer wieder geändert, aber keineswegs im wöchentlichen Intervall. Beim Gehen, Stehen und Treppensteigen sei keine Hilfe notwendig. Es bestehe die Notwendigkeit der kompletten hauswirtschaftlichen Versorgung.

Die Betreuer des Klägers wandte ein, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Gesamtbewertung für den Bereich der Grundpflege mit 148 Minuten relativ niedrig ausfalle, obwohl die Gutachterin davon ausgehe, dass beim Duschen und Baden zwei Pflegepersonen notwendig seien. Neben dem Duschen und Baden werde für das Waschen nur noch ein Bedarf von insgesamt 16 Minuten angenommen; dies sei nicht im Einklang damit, dass der Kläger nach den Feststellungen der Sachverständigen zu hochgradiger Verschmutzung insbesondere bei Nahrungsaufnahme und Nahrungsausscheidung neige. Es seien noch mehrere Teilwäschen des Unterkörpers erforderlich, wenn man die Angaben der Eltern berücksichtige, wonach der Kläger nach dem Stuhlgang sauber gemacht werden müsse. Diese Zeitwerte könnten nicht bereits bei den Hilfeleistungen Wasser lassen sowie Darmentleerung enthalten sein. Auch würde nicht differenziert, ob und inwieweit in dem Zeitansatz für Ankleiden und Entkleiden das Richten der Bekleidung nach Wasser lassen und Stuhlgang enthalten sein soll. Die Gutachterin konstatiere, es sei nicht zu erkennen, inwieweit sich der Hilfebedarf in den letzten Jahren verändert haben solle, obwohl sich aus den ärztlichen Stellungnahmen ergebe, dass die Konzentrationsstörungen, die Unruhe und das aggressive Verhalten in den letzten Jahren zugenommen hätten. Es sei erforderlich, nochmals ein ausführliches Pflegegutachten einzuholen.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 20.08.2004 führte Dr.A. aus, die Differenz für den Bereich der Körperpflege von 126 Minuten in dem Juli-Gutachten des MDK und von 109 Minuten in ihrem Gutachten sei dadurch erklärbar, dass sie sich voll an die Angaben der Eltern gehalten habe. Berücksichtige man, dass im Vorgutachten davon ausgegangen worden sei, dass der Untersuchte zweimal wöchentlich geduscht werde, wie angegeben, und nie gebadet, so lasse sich nachvollziehen, dass statt dessen täglich eine Teilwäsche des Unterkörpers und eine Ganzkörperwäsche fünfmal wöchentlich durchgeführt worden sei. Für das Richten der Kleidung nach Stuhlgang und Wasser lassen sei fälschlicherweise keine Zeit angerechnet worden, hierfür wären zusätzlich 10 Minuten anzusetzen. Der Zeitbedarf von 15 Minuten für das tägliche Rasieren erscheine ihr etwas zu hoch, ebenso für die Zahnpflege mit 15 Minuten. Zu hoch sei auch der Zeitbedarf für den Bereich der Ernährung, da lediglich die Nahrung mundgerecht zubereitet werde, von den Eltern aber ausdrücklich versichert werde, dass der Sohn nicht gefüttert werde. Der Zeitbedarf in dem MDK-Gutachten vom Juli 2002 hinsichtlich des An- und Ausziehens könne von ihr nicht nachvollzogen werden, sie habe nicht den Eindruck gehabt, dass täglich mehrmals die Kleidung gewechselt werde. Jeder Gutachter setze etwas andere Schwerpunkte, es erscheine nicht sinnvoll, aus jedem Gutachten die höchsten Zeitansätze zu nehmen, dann zu addieren und somit zu einem maximalen Zeitaufwand zu kommen. Es werde nochmals betont, dass sich die Angaben weitgehend auf die beim Hausbesuch gemachten Angaben der Eltern stützten.

Der Betreuer des Klägers erklärte, es sei nicht wahr, dass gegenüber Dr.A. erklärt worden sei, der Kläger werde nicht gefüttert. Aus den bereits vorgelegten Attesten ergebe sich, dass die Konzentrationsstörungen sowie die Unruhe und das aggressive Verhalten zugenommen hätten. Es müsse nochmals ein ausführliches Pflegegutachten eingeholt werden.

Der Kläger übersandte ein Attest des Dr. Z. vom 14.02.2005, in dem ihm eine hochgradige Behinderung mit zusätzlichen Elementen starker Verhaltensauffälligkeiten und massiv reduzierter Möglichkeit der psychosozialen Eingliederung attestiert wurden.

Auf Anfrage des Senats teilte die Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Bezirksklinikum R. , im Schreiben vom 25.04.2005 mit, nach dem Ergebnis aller Untersuchungen, dem klinischen Verlauf und der Behandlung während der siebenmaligen stationären Aufenthalte zwischen 1990 und 2004, zuletzt im Mai 2004, handele es sich diagnostisch um Störungen im Sozialverhalten mit aggressiven Verhaltensweisen sowie um ein cerebrales Anfallsleiden bei Oligophrenie vom Grade einer leicht- bis mittelgradigen Intelligenzminderung bei Verdacht auf pränatale Hirnschädigung unbekannter Genese. Bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, im Bereich der Körperpflege wie z. B. Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darmentleerung und Blasenentleerung sei der Kläger relativ selbstständig, müsse jedoch kontrolliert werden. Er sei in der Lage, selbstständig, mit Besteck zu essen, das Essen müsse ihm nicht mundgerecht hergerichtet werden. Er sei selbständig beim Aufstehen, beim Zubettgehen, beim An- und Auskleiden, beim Gehen und Stehen, Treppensteigen sowie beim Verlassen der Wohnung. Zu einem selbstständigen und eigenverantwortlichen Leben erscheine er prinzipiell nicht in der Lage, daher sei er bei der hauswirtschaftlichen Versorgung auf Hilfe angewiesen. Der Zeitaufwand, den ein Angehöriger für die Hilfeleistung bei den einzelnen Verrichtungen der Grundpflege im Tagesdurchschnitt benötige, werde auf ca. zwei Stunden geschätzt, für die hauswirtschaftliche Versorgung sei ein Zeitaufwand von ca. drei Stunden anzusetzen.

Die Beklagte wies im Schreiben vom 03.05.2005 darauf hin, ein Hilfebedarf, der zur Gewährung der Pflegestufe III führen würde, werde vom Bezirksklinikum nicht bescheinigt. Der Betreuer des Klägers wandte ein, die Angaben im Bericht des Bezirksklinikums seien nicht zutreffend, der Hilfebedarf sei erheblich größer.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27.07.2005 stellte der Kläger den Antrag, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 20.11.2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.07.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides am 16.12.2002 zu verurteilen, ihm Leistungen ab 18.04.2002 nach der Pflegestufe III zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet.

Die für die Pflegestufe III erforderlichen 240 Minuten in der Grundpflege werden nicht erreicht, weshalb ein Anspruch auf die entsprechende Leistung nicht besteht. Die schlüssigen und überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Dr.A. belegen einen Hilfebedarf von insgesamt 158 Minuten in der Grundpflege. In dem Gutachten vom Juli 2002 wurden für die Körperreinigung 60 Minuten angenommen, während Dr.A. auf 59 Minuten kommt; im Ergebnis besteht keine wesentliche Differenz.

Ob der Kläger tatsächlich gefüttert werden muss, kann dahinstehen. Würde man den in den MDK-Gutachten angenommenen zusätzlichen Hilfebedarf von 30 Minuten hinzurechnen, so käme man auch auf der Basis des Gutachtens Dr.A. nur auf 188 Minuten. Die Divergenz beruht offensichtlich darauf, dass die MDK-Gutachten die allgemeine Überwachung des Essvorganges und das eventuell erforderliche Auffordern und Verhindern des Weglaufens als Pflegebedarf bewertet haben, während Dr.A. der Meinung ist, dass damit keine eigentliche Hilfe bei der Nahrungsaufnahme stattfindet. Entscheidend ist, ob eine Plegeperson durch die Überwachung des Essvorganges so gebunden ist, dass sie zu anderen Verrichtungen nicht fähig ist. Dies ist zu verneinen.

Insgesamt ist die Pflegestufe III trotz der von den Ärzten bescheinigten Verschlechterung des Zustandes, was die Unruhe und Verhaltensauffälligkeit betrifft, gegenwärtig nicht begründbar.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nr.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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