L 2 U 40/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 46/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 40/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Anerkennung seines Halswirbelsäulenleidens wie eine Berufskrankheit gemäß § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der 1936 geborene Kläger war von 1953 bis zur Stilllegung seines Betriebes am 30. November 1998 als Zahntechniker bzw. selbständiger Zahntechnikermeister tätig. Erstmals 1993 beantragte er bei der Beklagten erfolglos (Bescheid vom 6. Oktober 1993 und Widerspruchsbescheid vom 26. November 1993) u. a. die Anerkennung seiner Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) als Berufskrankheit. Mit Schreiben vom 8. September 1995 bat er um Prüfung, ob seine Berufskrankheit in die Liste der Berufskrankheiten (eventuell Nr. 2103) einzuordnen sei bzw. um Leistungsübernahme gemäß § 551 Abs. 2 RVO. Die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2104 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) scheiterte daran, dass die Tätigkeit, die für die Entstehung der Krankheit ursächlich war oder sein kann, noch nicht aufgegeben worden war (Bescheid vom 26. Mai 1997). Nach Einstellung des Betriebes zum 30. November 1998 erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Dezember 1998 "vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen (Raynaud-Syndrom) der linken Hand mit Schwere- und Taubheitsgefühl" als Berufskrankheit nach Nr. 2104 der Anlage 1 zur BKV mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. ab 1. Dezember 1998 an. Außerdem wurde festgestellt, dass u. a. HWS-Syndrom, Bandscheibenvorfall C 6/7 sowie HWS-Spondylarthrose nicht als Folgen der Berufskrankheit anerkannt würden. Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1999) und Klage (Aktenzeichen S 8 U 48/99) blieben erfolglos. Das Berufungsverfahren (Aktenzeichen L 2 U 67/00) wurde durch einen vom Gericht vorgeschlagenen Vergleich beendet, in dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger einen rechtsmittelfähigen Bescheid über die Anerkennung bzw. Ablehnung einer Entschädigung aufgrund eines Versicherungsfalls nach § 551 Abs. 2 RVO zu erteilen und als Datum der Antragstellung den 11. September 1995 zugrunde zu legen.

Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 5. November 2001 fest, dass keine Leistungsansprüche wegen der Erkrankung der HWS bestünden. Eine Erkrankung, die wie eine Berufskrankheit anzuerkennen sei, liege nicht vor. Es gäbe keinerlei gesicherte arbeitsmedizinische Erkenntnisse, dass bei Zahntechnikern Belastungen aufträten, die zu Erkrankungen der HWS führen könnten, so dass die Anerkennung der Erkrankung im Sinne von § 551 Abs. 2 RVO wie auch § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) abzulehnen sei.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 2002 zurück und führte zur Begründung aus, es gäbe seit Aufnahme der Ziffer 2109 in die Berufskrankheitenliste keine neuen medizinischen Erkenntnisse zu anderen Verursachungen von HWS-Erkrankungen und ihrem Ursachenzusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als die durch Tragen schwerer Lasten auf der Schulter gewonnenen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. April 2002 abgewiesen. Das Begehren des Klägers sei als Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 6. Oktober 1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1993, mit dem die Anerkennung der HWS-Erkrankung als Berufskrankheit abgelehnt worden sei, nach §§ 44, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu werten. Die Erkrankung der HWS erfülle jedoch, wie die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden zu Recht bestätigt habe, weder die Voraussetzungen der Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV, noch die Voraussetzungen für die Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO oder § 9 Abs. 2 SGB VII. Es möge zwar zutreffen, dass 70 % aller Zahntechniker unter Schulter- und Nackenbeschwerden litten, dies könne jedoch keine besondere statistische Häufigkeit von Erkrankungen der HWS begründen, weil diese Beschwerden wie bei anderen sitzenden Tätigkeiten am Schreibtisch ganz überwiegend auf Verspannungen der Schulter-Nacken-Muskulatur zurückzuführen sein dürften. Die Annahme einer allgemeinen Umkehr der Beweislast im Sinne einer Vermutung der Verursachung einer Erkrankung durch berufliche Belastungen gehe völlig fehl. § 9 Abs. 3 SGB VII, wonach unter bestimmten Voraussetzungen der Ursachenzusammenhang zwischen einer beruflichen Tätigkeit und einer Erkrankung vermutet werden solle, komme schon deshalb nicht zum Tragen, weil diese Regelung voraussetze, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer in der Anlage zur BKV genannten Berufskrankheit erfüllt seien. Dies sei vorliegend aber gerade nicht der Fall.

Gegen den am 15. Mai 2002 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 29. Mai 2002 eingegangenen Berufung, mit der er vorträgt, es sei für ihn nicht nachvollziehbar, dass sein HWS-Syndrom keine Anerkennung als Berufskrankheit finde, weil seiner Meinung nach ein Kausalzusammenhang zwischen den Vibrationsschäden in den Händen und der Wirbelsäulenerkrankung bestehe. Zudem bestehe bei ihm eine besondere berufliche Betroffenheit, so dass eine Erhöhung der MdE um 10 bis 20 v. H. zu erwägen sei. Nach dem Gesundheitsbericht 15 der Berufsgruppe Zahntechniker der GEK-Edition der Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse vom Januar 1999 seien 70 % der Zahntechniker von Erkrankungen im Bereich der HWS betroffen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 5. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seine Erkrankungen im Bereich der Halswirbelsäule wie eine Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat eine Auskunft des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 6. September 2004 eingeholt, der zufolge derzeit keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage der Verursachung einer Erkrankung der HWS als Folge der Tätigkeit als Zahntechniker vorlägen. Der Auskunft waren Berichte des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 30. November 1999, 27. Januar 2000 und 14. September 2001 an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zu einer Petition des Klägers zu diesem Thema beigefügt.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet, denn die angefochtenen Bescheide verletzen den Kläger - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat - nicht in seinen Rechten, weil er keinen Anspruch auf Anerkennung seines HWS-Leidens wie eine Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO hat.

Soweit der Kläger einen Kausalzusammenhang zwischen dem bereits als Berufskrankheit anerkannten Vibrationsschaden der linken Hand und dem Wirbelsäulenleiden behauptet, ist eine Überprüfung in diesem Rechtsstreit nicht möglich, da Gegenstand des Verfahrens allein die Anerkennung des HWS-Leidens nach § 551 Abs. 2 RVO ist. Über eine Zuordnung des HWS-Leidens zum Vibrationsschaden nach BK Nr. 2104 der Anlage zur BKV hat die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 1999 entschieden, dass HWS-Syndrom, Bandscheibenvorfall C 6/7 und HWS-Spondylarthrose nicht als Folgen der Berufskrankheit anerkannt werden. Ebenso verhält es sich mit einer Erhöhung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit.

Nach § 551 Abs. 2 RVO sollen die Unfallversicherungsträger im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKV bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Die Vorschrift eröffnet somit in Abweichung vom Listen- oder Enumerationsprinzip des Abs. 1 die Möglichkeit, ausnahmsweise auch Krankheiten zu entschädigen, die nicht in der BKV aufgeführt sind. Als Ausnahmeregelung ist sie jedoch keine individuelle Härteklausel, nach der nur deshalb zu entschädigen wäre, weil die Nichtentschädigung für den Betroffenen eine individuelle Härte bedeuten würde, und sie will auch nicht erreichen, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine Berufskrankheit entschädigt werden soll. § 551 Abs. 2 RVO bezieht sich vielmehr ausschließlich auf solche Krankheiten, die nur deshalb nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen worden sind, weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen in ihrer Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage 1 zur BKV noch nicht vorhanden oder dem Verordnungsgeber nicht bekannt waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (BSGE 59, 295, 297 m. w. N.). Die Entscheidung des Verordnungsgebers, welche Krankheit er als Berufskrankheit bezeichnet, wird dadurch aber nicht berührt. Die Rechtsprechung ist nicht befugt, neue Berufskrankheiten zu bezeichnen. Es obliegt allein dem Verordnungsgeber, zu prüfen, ob nach medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen eine Krankheit als Berufskrankheit zu beurteilen ist, und diese in der Rechtsverordnung zu bezeichnen. Bezeichnet der Verordnungsgeber bestimmte Krankheiten nicht als Berufskrankheiten, sind sie nicht zu entschädigen. Eine Krankheit kann daher nach § 551 Abs. 2 RVO nur dann als Berufskrankheit entschädigt werden, wenn "neue Erkenntnisse" erst nach dem Erlass der letzten BKV bekannt geworden sind oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitsreife verdichtet haben (vgl. BSGE 44, 90, 94; 49, 148, 150).

Entsprechende neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frage der Verursachung der bei dem Kläger bestehenden Erkrankungen im Bereich der HWS, die zur sog. Verordnungsreife führen könnten, sind derzeit nicht ersichtlich. Dies ergibt sich insbesondere aus der Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 6. September 2004. Allein der Umstand, dass nach dem Gesundheitsbericht 15 Berufsgruppe Zahntechniker der GEK-Edition bei einer unter 2.000 Zahntechnikern aus dem gesamten Bundesgebiet durchgeführten Befragung zu gesundheitlichen Brennpunkten, typischen Leiden, bestehenden Belastungen und möglichen Krankheitsursachen, an der sich 640 Zahntechniker beteiligt haben, 70 % über Schulter- und Nackenbeschwerden klagten und 55 % häufige Rückenbeschwerden angaben, belegt noch keine besondere Betroffenheit der Gruppe der Zahntechniker im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO. Zwar basiert das Erhebungsinstrument, ein neunseitiger Fragebogen, auf einem vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands e.V. entwickelten Fragebogen, doch vermag die bei der Beantwortung der Fragen geforderte - notwendigerweise subjektive - Einschätzung der Betroffenen zu beruflichen Belastungen und Zusammenhängen zwischen belastenden Situationen und Erkrankungen keine medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis über eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zu begründen. Sie kann allenfalls den Anstoß zu einer medizinisch-wissenschaftlich begleiteten epidemiologischen Studie geben, die für die Bildung einer fundierten wissenschaftlichen Erkenntnis erforderlich ist. Zudem ist zu berücksichtigen, dass neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nicht bereits dann vorliegen, wenn einzelne Wissenschaftler eine bestimmte Auffassung vertreten, vielmehr muss es sich um die überwiegende Meinung der auf diesem Teilgebiet tätigen Wissenschaftler handeln (vgl. BT-Drucks. 13/2204, S. 78). Die für eine Anerkennung wie eine Berufskrankheit gemäß § 551 Abs. 2 RVO geforderten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, dass Zahntechniker durch ihre Tätigkeit - insbesondere eine gebeugte Arbeitshaltung - in erheblich höherem Maß als die übrige Bevölkerung der Gefahr ausgesetzt sind, eine Erkrankung der HWS zu erleiden, lagen und liegen jedoch nicht vor.

Die Berufung war somit zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt, orientiert am Ergebnis der Hauptsache, aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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