Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 31 Vs 378/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SB 152/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. September 1997 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 16. Januar und 03. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. November 1996 verurteilt, bei der Klägerin ab Januar 1998 einen Grad der Behinderung von 50 (fünfzig) festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Berufungsverfahrens zur Hälfte zu erstatten; im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte stellte bei der im März 1943 geborenen Klägerin im Jahre 1990 einen GdB von 60 wegen der Behinderung Narbe nach op. Gewebsneubildung re. Unterarm fest (Bescheid vom 19. März 1990). Im Februar 1995 leitete er von Amts wegen eine Überprüfung dieses Bescheides ein, im Mai 1995 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag, weil als weitere Behinderung Auswirkungen eines neu aufgetretenen Wirbelsäulenleidens zu berücksichtigen seien. Nach Beiziehung und Auswertung von Befundberichten der behandelnden Ärzte gelangte der Beklagte zu der Einschätzung, dass für die 1990 mit einem GdB von 60 anerkannte Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewährung nur noch ein GdB von 10 zutreffend sei, und hörte die Klägerin zu der aufgrunddessen beabsichtigten Herabsetzung des GdB an. Anschließend stellte er den GdB unter Berücksichtigung der weiteren Behinderung Wirbelsäulenverschleißerscheinungen, Bandscheibenvorwölbung, Kalksalzarmut nur noch mit 20 fest (von Amts wegen und auf den Antrag der Klägerin ergangene Bescheide vom 16. Januar und 03. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. November 1996).
Mit ihrer Klage vom 02. Dezember 1996 hat die Klägerin die Beibehaltung des GdB von 60 begehrt und gemeint, ein solcher GdB recht fertige sich auch unter Berücksichtigung der Heilungsbewährung wegen der Auswirkungen weiterer, zwischenzeitlich hinzugetretener körperlicher Regelwidrigkeiten.
Die Klägerin hat beantragt,
die Bescheide vom 16.01.1996, 03.09.1996 und 05.11.1996 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er habe den Sachverhalt erneut überprüft und folge im Ergebnis dem gerichtlichen Sachverständigen, der den GdB ebenfalls mit 20 eingeschätzt habe. Das Gehörleiden stelle noch keine Behinderung dar.
Das Sozialgericht (SG) hat ein schriftliches Sachverständigengutachten des Arztes für Orthopädie Dr. J ... aus M ... sowie Befundberichte des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. T ... sowie des Urologen Dr. I ..., beide aus W ..., eingeholt und alsdann die Klage abgewiesen, weil der Beklagte den GdB mit 20 zutreffend festgestellt habe (Urteil vom 26. September 1997, dem Bevollmächtigten der Klägerin am 12. November 1997 zugestellt).
Mit ihrer Berufung vom 01. Dezember 1997 hat die Klägerin ihr Begehren auf Feststellung eines GdB von 60 zunächst weiterverfolgt und Anfang 1998 mitgeteilt, es finde u.a. wegen neu aufgetretener Schwindelanfälle derzeit eine nervenärztliche Behandlung statt.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ihr Begehren beschränkt. Sie beantragt nur noch,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.09.1997 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 16.01., 03.09. und 05.11.1996 zu verurteilen, bei ihr einen GdB von 50 ab Januar 1998 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit die Feststellung eines höheren GdB als 40 begehrt wird.
Er hat zunächst das angefochtene Urteil für richtig gehalten, indes nach Auswertung der im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte durch seinen versorgungsärztlichen Dienst gemeint, wegen eingetretener Änderungen sei ab Januar 1998 ein GdB von 40 zutreffend. Hierzu hat er sich u.a. auf versorgungsärztliche Stellungnahmen des Dr. Keller vom 19. Juni 1998 und des Dr. M ... vom 27. November 1998 bezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, ins besondere wegen des Inhalts der vom Senat beigezogenen Befundberichte der behandelnden Ärzte, wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (SchwbG-Akten, Gz: ...) Bezug genommen. Sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet.
Ausweislich ihres Sachantrages hat die Klägerin ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 ab Januar 1998 beschränkt und damit die Feststellungen in den angefochtenen Bescheiden im übrigen konkludent akzeptiert. Soweit die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt, ist das angefochtene Urteil unrichtig geworden und die Klägerin durch die angefochtenen Bescheide beschwert, § 54 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Denn diese sind rechtswidrig geworden, weil aufgrund einer zwischenzeitlich eingetretenen wesentlichen Änderung im Gesamtbehinderungszustand ab Januar 1998 ein GdB von 50 festzustellen ist, §§ 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), 4 Abs. 1 und 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Für die Entscheidung des Senats ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Dabei kann offenbleiben, ob die Klägerin durch ihren Sachantrag in erster Instanz ihr Klagebegehren auf eine reine Anfechtungsklage beschränkt hat. Denn der Beklagte hat sich jedenfalls sachlich auf die während des Berufungsverfahrens eingetretenen Änderungen eingelassen und dadurch auf seinen Vorrang zur Gesetzesausführung konkludent verzichtet (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 13 = Breithaupt 1997, 350, 353; Urteil vom 27.08.1998, Az: B 9 SB 13/97 R S. 3). Damit ist jedenfalls eine wirksame Klageänderung von der reinen Anfechtungsklage zur kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erfolgt, §§ 153 Abs. 1, 99 Abs. 1 und 2 SGG.
Aufgrund des Ergebnisses der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der GdB ab Januar 1998 in Anwendung der maßgeblichen Bewertungskriterien der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit ... nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (im folgenden: AP 96) 50 beträgt. Bei dieser Einschätzung folgt der Senat im wesentlichen der durch die beratenden Ärzte des Beklagten vorgenommenen Auswertung der von den behandelnden Ärzten mitgeteilten Befunde, insbesondere den Einschätzungen der Dres. K ... und M ...
Danach ist im Vergleich zu 1990 zunächst eine wesentliche Änderung insoweit eingetreten, als die damals anerkannte Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewährung, ohne dass sich die tatsächliche Funktionsbeeinträchtigung geändert hat, nicht mehr mit einem Einzel-GdB für das Funktionssystem Haut zu berücksichtigen ist, vgl. Ziff. 26.17 S. 133 AP 96, die insoweit den 1990 noch maßgeblichen AP 83 (Ziff. 26.17 S. 102) entsprechen.
Andererseits sind für die Bemessung des GdB zahlreiche neu aufgetretene Behinderungen zu berücksichtigen.
So ist zunächst eine "Harninkontinenz Grad II" aufgetreten, die nach Ziff. 26.12 S. 110 AP 96 mit einem GdB von - mindestens - 20 zu bewerten ist. Außerdem hat sich bei der Klägerin ein seelisches Leiden manifestiert, das sowohl Merkmale einer anhaltenden post traumatischen Belastungsstörung als auch einer somatoformen Schmerzstörung aufweist. Dieses Leiden beruht nach den Angaben des behandelnden Nervenarztes Dr. H ...auf einer seelischen Dekompensation, da es der Klägerin nicht gelingt, ihre eigenen Behinderungen - insbesondere ihr früheres Krebsleiden - aber auch das Hodenkrebsleiden ihres Sohnes seelisch zu verarbeiten. Zusätzlich leidet sie aufgrund einer familiären Belastung unter einer Schlaganfallphobie. Es ist nachvollziehbar, dass diese Beeinträchtigungen zu einem Verlust an Lebensfreude und Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit führen. Wenn Dr. M ... für diese "neurotischen Störungen" in Anwendung von Ziff. 26.3 S. 60 AP 96 einen Einzel-GdB von 20 "gegen 30 tendierend" annimmt, so ist dies mindestens zutreffend. Nicht zutreffend sind und nicht mit den AP 96 in Einklang stehen allerdings seine Ausführungen insoweit, als er unter Einbeziehung der weiteren Regelwidrigkeiten "Schwindel" und "Migräne" für den neurologisch-psychiatrischen Fachbereich einen GdB von 30 bildet, da es sich hierbei um einen unzulässigen "Fachbereichs-GdB" handelt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9 = Breithaupt 1995, 130, 132). Tatsächlich sind unterschiedliche Funktionssysteme betroffen. Denn die genannte seelische Störung betrifft das Funktions system Gehirn einschließlich Psyche, während die weiteren Regel widrigkeiten "Migräne" und "Schwindelanfälle" ein anderes Funktionssystem betreffen. Dabei hält der Senat anders als Dr. M ..., der die Schwindelsymptomatik in Anlehnung an Ziff. 26.5 S. 73 AP 96 ("Hör- und Gleichgewichtsorgan") bewerten will, die von Dr. L ... geäußerten Auffassung für zutreffend, "Schwindel" und "Migräne" zusammenzufassen und wie ein Migräneäquivalent zu behandeln. Damit ist diese Funktionsbeeinträchtigung entsprechend Ziff. 26.2 AP 96 (Funktionssystem Kopf und Gesicht) zu bewerten. Bei der Subsumtion des von Dr. H ... mitgeteilten und von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bestätigten Sachverhaltes unter die AP 96 ergibt sich, dass dieser Behinderungskomplex wegen der Anfallshäufigkeit und -intensität wie eine "echte Migräne mittlerer Verlaufsform" zu bewerten ist, wofür ein Einzel-GdB von 20 bis 40 vorgesehen ist. Auch hier ist mindestens ein GdB von 20 "gegen 30 tendierend" zutreffend.
Zur Überzeugung des Senats ergibt sich unter Berücksichtigung dieser neuen, zum Teil während des Berufungsverfahrens erstmals auf getretenen Behinderungen, dass dem von Dr. M ... ohne ein begründendes Wort unterbreiteten Bewertungsvorschlag nicht gefolgt werden kann, weil der GdB tatsächlich nicht 40 sondern 50 beträgt. Denn es liegen vier wesentliche, das Ausmaß der Behinderung maßgeblich bestimmende und deshalb den GdB jeweils erhöhende gesundheitliche Regelwidrigkeiten vor, die jeweils unabhängig voneinander wirksam werden oder - z.B. bei somatoformer Schmerzstörung und den Wirbelsäulenbeschwerden - sich gegenseitig ungünstig beeinflussen. Soweit diese mit Einzel-GdB-Werten von 20 zu berücksichtigen sind, handelt es sich aufgrund der nachgewiesenen Beeinträchtigungen überwiegend um Werte, die bereits zum höheren 30er-Wert tendieren. Das gilt zum einen für die Behinderung im Bereich des Funktionssystems Rumpf. Hier sind nämlich alle drei Wirbelsäulenabschnitte betroffen, wobei im Bereich der Halswirbelsäule eine mittelgradige und im übrigen - noch - geringgradige Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen sind. Aber auch die Auswirkungen der gesundheitlichen Regelwidrigkeiten der Funktionssysteme Harnorgane, Gehirn einschließlich Psyche und Kopf und Gesicht sind mit Einzel-GdB-Werten von 20 bis 30 eher am unteren Rande des durch die AP 96 vorgegebenen Ermessensspielraumes angesiedelt, wobei der Senat bei den beiden letztgenannten Funktionssystemen bereits einen Einzel-Wert von etwa 30 für zutreffend hält.
Soweit der Beklagte die Auswirkungen dieser gesundheitlichen Regelwidrigkeiten für den Zeitraum ab Januar 1998 als erwiesen ansieht, hält der Senat diese Einschätzung - wie auch die Klägerin - für zutreffend.
Damit kann in diesem Verfahren offenbleiben, wie sich die weiteren Behinderungen im Bereich der Funktionssysteme Arme und Beine auf den GdB auswirken und ob - etwa im Bereich der Funktionssysteme Atmung und Gehör - weitere berücksichtigungsfähige Behinderungen vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG. Die Rechtssache ist insbesondere nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil für die Entscheidung die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte stellte bei der im März 1943 geborenen Klägerin im Jahre 1990 einen GdB von 60 wegen der Behinderung Narbe nach op. Gewebsneubildung re. Unterarm fest (Bescheid vom 19. März 1990). Im Februar 1995 leitete er von Amts wegen eine Überprüfung dieses Bescheides ein, im Mai 1995 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag, weil als weitere Behinderung Auswirkungen eines neu aufgetretenen Wirbelsäulenleidens zu berücksichtigen seien. Nach Beiziehung und Auswertung von Befundberichten der behandelnden Ärzte gelangte der Beklagte zu der Einschätzung, dass für die 1990 mit einem GdB von 60 anerkannte Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewährung nur noch ein GdB von 10 zutreffend sei, und hörte die Klägerin zu der aufgrunddessen beabsichtigten Herabsetzung des GdB an. Anschließend stellte er den GdB unter Berücksichtigung der weiteren Behinderung Wirbelsäulenverschleißerscheinungen, Bandscheibenvorwölbung, Kalksalzarmut nur noch mit 20 fest (von Amts wegen und auf den Antrag der Klägerin ergangene Bescheide vom 16. Januar und 03. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. November 1996).
Mit ihrer Klage vom 02. Dezember 1996 hat die Klägerin die Beibehaltung des GdB von 60 begehrt und gemeint, ein solcher GdB recht fertige sich auch unter Berücksichtigung der Heilungsbewährung wegen der Auswirkungen weiterer, zwischenzeitlich hinzugetretener körperlicher Regelwidrigkeiten.
Die Klägerin hat beantragt,
die Bescheide vom 16.01.1996, 03.09.1996 und 05.11.1996 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er habe den Sachverhalt erneut überprüft und folge im Ergebnis dem gerichtlichen Sachverständigen, der den GdB ebenfalls mit 20 eingeschätzt habe. Das Gehörleiden stelle noch keine Behinderung dar.
Das Sozialgericht (SG) hat ein schriftliches Sachverständigengutachten des Arztes für Orthopädie Dr. J ... aus M ... sowie Befundberichte des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. T ... sowie des Urologen Dr. I ..., beide aus W ..., eingeholt und alsdann die Klage abgewiesen, weil der Beklagte den GdB mit 20 zutreffend festgestellt habe (Urteil vom 26. September 1997, dem Bevollmächtigten der Klägerin am 12. November 1997 zugestellt).
Mit ihrer Berufung vom 01. Dezember 1997 hat die Klägerin ihr Begehren auf Feststellung eines GdB von 60 zunächst weiterverfolgt und Anfang 1998 mitgeteilt, es finde u.a. wegen neu aufgetretener Schwindelanfälle derzeit eine nervenärztliche Behandlung statt.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ihr Begehren beschränkt. Sie beantragt nur noch,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.09.1997 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 16.01., 03.09. und 05.11.1996 zu verurteilen, bei ihr einen GdB von 50 ab Januar 1998 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit die Feststellung eines höheren GdB als 40 begehrt wird.
Er hat zunächst das angefochtene Urteil für richtig gehalten, indes nach Auswertung der im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte durch seinen versorgungsärztlichen Dienst gemeint, wegen eingetretener Änderungen sei ab Januar 1998 ein GdB von 40 zutreffend. Hierzu hat er sich u.a. auf versorgungsärztliche Stellungnahmen des Dr. Keller vom 19. Juni 1998 und des Dr. M ... vom 27. November 1998 bezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, ins besondere wegen des Inhalts der vom Senat beigezogenen Befundberichte der behandelnden Ärzte, wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (SchwbG-Akten, Gz: ...) Bezug genommen. Sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet.
Ausweislich ihres Sachantrages hat die Klägerin ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 50 ab Januar 1998 beschränkt und damit die Feststellungen in den angefochtenen Bescheiden im übrigen konkludent akzeptiert. Soweit die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt, ist das angefochtene Urteil unrichtig geworden und die Klägerin durch die angefochtenen Bescheide beschwert, § 54 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Denn diese sind rechtswidrig geworden, weil aufgrund einer zwischenzeitlich eingetretenen wesentlichen Änderung im Gesamtbehinderungszustand ab Januar 1998 ein GdB von 50 festzustellen ist, §§ 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), 4 Abs. 1 und 3 Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Für die Entscheidung des Senats ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Dabei kann offenbleiben, ob die Klägerin durch ihren Sachantrag in erster Instanz ihr Klagebegehren auf eine reine Anfechtungsklage beschränkt hat. Denn der Beklagte hat sich jedenfalls sachlich auf die während des Berufungsverfahrens eingetretenen Änderungen eingelassen und dadurch auf seinen Vorrang zur Gesetzesausführung konkludent verzichtet (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 13 = Breithaupt 1997, 350, 353; Urteil vom 27.08.1998, Az: B 9 SB 13/97 R S. 3). Damit ist jedenfalls eine wirksame Klageänderung von der reinen Anfechtungsklage zur kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erfolgt, §§ 153 Abs. 1, 99 Abs. 1 und 2 SGG.
Aufgrund des Ergebnisses der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der GdB ab Januar 1998 in Anwendung der maßgeblichen Bewertungskriterien der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit ... nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (im folgenden: AP 96) 50 beträgt. Bei dieser Einschätzung folgt der Senat im wesentlichen der durch die beratenden Ärzte des Beklagten vorgenommenen Auswertung der von den behandelnden Ärzten mitgeteilten Befunde, insbesondere den Einschätzungen der Dres. K ... und M ...
Danach ist im Vergleich zu 1990 zunächst eine wesentliche Änderung insoweit eingetreten, als die damals anerkannte Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewährung, ohne dass sich die tatsächliche Funktionsbeeinträchtigung geändert hat, nicht mehr mit einem Einzel-GdB für das Funktionssystem Haut zu berücksichtigen ist, vgl. Ziff. 26.17 S. 133 AP 96, die insoweit den 1990 noch maßgeblichen AP 83 (Ziff. 26.17 S. 102) entsprechen.
Andererseits sind für die Bemessung des GdB zahlreiche neu aufgetretene Behinderungen zu berücksichtigen.
So ist zunächst eine "Harninkontinenz Grad II" aufgetreten, die nach Ziff. 26.12 S. 110 AP 96 mit einem GdB von - mindestens - 20 zu bewerten ist. Außerdem hat sich bei der Klägerin ein seelisches Leiden manifestiert, das sowohl Merkmale einer anhaltenden post traumatischen Belastungsstörung als auch einer somatoformen Schmerzstörung aufweist. Dieses Leiden beruht nach den Angaben des behandelnden Nervenarztes Dr. H ...auf einer seelischen Dekompensation, da es der Klägerin nicht gelingt, ihre eigenen Behinderungen - insbesondere ihr früheres Krebsleiden - aber auch das Hodenkrebsleiden ihres Sohnes seelisch zu verarbeiten. Zusätzlich leidet sie aufgrund einer familiären Belastung unter einer Schlaganfallphobie. Es ist nachvollziehbar, dass diese Beeinträchtigungen zu einem Verlust an Lebensfreude und Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit führen. Wenn Dr. M ... für diese "neurotischen Störungen" in Anwendung von Ziff. 26.3 S. 60 AP 96 einen Einzel-GdB von 20 "gegen 30 tendierend" annimmt, so ist dies mindestens zutreffend. Nicht zutreffend sind und nicht mit den AP 96 in Einklang stehen allerdings seine Ausführungen insoweit, als er unter Einbeziehung der weiteren Regelwidrigkeiten "Schwindel" und "Migräne" für den neurologisch-psychiatrischen Fachbereich einen GdB von 30 bildet, da es sich hierbei um einen unzulässigen "Fachbereichs-GdB" handelt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9 = Breithaupt 1995, 130, 132). Tatsächlich sind unterschiedliche Funktionssysteme betroffen. Denn die genannte seelische Störung betrifft das Funktions system Gehirn einschließlich Psyche, während die weiteren Regel widrigkeiten "Migräne" und "Schwindelanfälle" ein anderes Funktionssystem betreffen. Dabei hält der Senat anders als Dr. M ..., der die Schwindelsymptomatik in Anlehnung an Ziff. 26.5 S. 73 AP 96 ("Hör- und Gleichgewichtsorgan") bewerten will, die von Dr. L ... geäußerten Auffassung für zutreffend, "Schwindel" und "Migräne" zusammenzufassen und wie ein Migräneäquivalent zu behandeln. Damit ist diese Funktionsbeeinträchtigung entsprechend Ziff. 26.2 AP 96 (Funktionssystem Kopf und Gesicht) zu bewerten. Bei der Subsumtion des von Dr. H ... mitgeteilten und von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bestätigten Sachverhaltes unter die AP 96 ergibt sich, dass dieser Behinderungskomplex wegen der Anfallshäufigkeit und -intensität wie eine "echte Migräne mittlerer Verlaufsform" zu bewerten ist, wofür ein Einzel-GdB von 20 bis 40 vorgesehen ist. Auch hier ist mindestens ein GdB von 20 "gegen 30 tendierend" zutreffend.
Zur Überzeugung des Senats ergibt sich unter Berücksichtigung dieser neuen, zum Teil während des Berufungsverfahrens erstmals auf getretenen Behinderungen, dass dem von Dr. M ... ohne ein begründendes Wort unterbreiteten Bewertungsvorschlag nicht gefolgt werden kann, weil der GdB tatsächlich nicht 40 sondern 50 beträgt. Denn es liegen vier wesentliche, das Ausmaß der Behinderung maßgeblich bestimmende und deshalb den GdB jeweils erhöhende gesundheitliche Regelwidrigkeiten vor, die jeweils unabhängig voneinander wirksam werden oder - z.B. bei somatoformer Schmerzstörung und den Wirbelsäulenbeschwerden - sich gegenseitig ungünstig beeinflussen. Soweit diese mit Einzel-GdB-Werten von 20 zu berücksichtigen sind, handelt es sich aufgrund der nachgewiesenen Beeinträchtigungen überwiegend um Werte, die bereits zum höheren 30er-Wert tendieren. Das gilt zum einen für die Behinderung im Bereich des Funktionssystems Rumpf. Hier sind nämlich alle drei Wirbelsäulenabschnitte betroffen, wobei im Bereich der Halswirbelsäule eine mittelgradige und im übrigen - noch - geringgradige Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen sind. Aber auch die Auswirkungen der gesundheitlichen Regelwidrigkeiten der Funktionssysteme Harnorgane, Gehirn einschließlich Psyche und Kopf und Gesicht sind mit Einzel-GdB-Werten von 20 bis 30 eher am unteren Rande des durch die AP 96 vorgegebenen Ermessensspielraumes angesiedelt, wobei der Senat bei den beiden letztgenannten Funktionssystemen bereits einen Einzel-Wert von etwa 30 für zutreffend hält.
Soweit der Beklagte die Auswirkungen dieser gesundheitlichen Regelwidrigkeiten für den Zeitraum ab Januar 1998 als erwiesen ansieht, hält der Senat diese Einschätzung - wie auch die Klägerin - für zutreffend.
Damit kann in diesem Verfahren offenbleiben, wie sich die weiteren Behinderungen im Bereich der Funktionssysteme Arme und Beine auf den GdB auswirken und ob - etwa im Bereich der Funktionssysteme Atmung und Gehör - weitere berücksichtigungsfähige Behinderungen vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG. Die Rechtssache ist insbesondere nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil für die Entscheidung die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind.
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