L 9 KR 53/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 KR 1201/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 53/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2004 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Es ist streitig, ob die Klägerin die Versorgung mit einer Fingerepithese verlangen kann.

Die 1988 geborene Klägerin erlitt im Januar 2002 einen Unfall, der zum Verlust eines Teils des Ringfingers an der rechten Hand führte.

Die Eltern der Klägerin beantragten im Januar 2003 unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S und einem Kostenvoranschlag der Firma BOrthopädie-Technik GmbH in Höhe von 2.174,91 EUR die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit einer Fingerepithese. Die Beklagte holte eine medizinische Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) von S D ein. Dieser gelangte zu der Beurteilung, dass eine medizinische Indikation nicht vorliege; die Epithese sei aus kosmetischen Gründen verordnet worden. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. März 2003 die Kostenübernahme ab. Dagegen legte die Mutter der Klägerin Widerspruch ein, den sie damit begründete, dass die Behinderung ihrer Tochter zu psychischen Leiden führe. Ihre Tochter befinde sich seit dem Krankheitsverlauf in psychologischer Behandlung. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2003 zurück. Unter Hinweis auf die Ausführungen des MDK begründete sie ihre Entscheidung damit, dass die Versorgung mit der beantragten Epithese gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) verstoßen würde. Lediglich die Ausstattung mit einer herkömmlichen Epithese, welche als Platzhalter fungiere, sei erforderlich und zweckmäßig.

Hiergegen hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, die sie damit begründet hat, dass die geltend gemachte Versorgung mit einer Fingerepithese nicht lediglich eine kosmetische Versorgung sei, sondern medizinisch indiziert sei: Die Epithesenversorgung sei notwendig, um die Funktionsfähigkeit der rechten Hand wiederherzustellen. Die Klägerin strebe eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich an, die ohne die Versorgung mit einer Epithese oder mit einer Prothese im herkömmlichen Sinne nicht gewährleistet sei. Daneben befinde sich die Klägerin wegen der erlittenen Unfallfolgen in psychologischer Behandlung.

Zur Sachaufklärung hat das Sozialgericht ärztliche Auskünfte des Facharztes für Chirurgie Dr. R sowie der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G eingeholt, auf deren jeweiligen Inhalt Bezug genommen wird.

Durch Urteil vom 23. Januar 2004 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides antragsgemäß verurteilt, der Klägerin eine Fingerepithese gemäß Kostenvoranschlag der Firma Biedermann zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin Anspruch auf die umfassendste und technisch jeweils fortgeschrittenste Versorgung habe. Der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenkasse erstrecke sich auf eine solche Fingerepithese, die notwendig sei, um den Verlust des natürlichen Fingers für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Hierzu sei es erforderlich, die Fingerepithese so zu fertigen, dass sie nicht sogleich als künstlich auffalle. Der Anspruch beinhalte eine möglichst naturgetreue Nachbildung des verlorenen Fingers, um in ihrer entsprechenden Altersgruppe die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglichst unbefangen wahrnehmen zu können.

Gegen dieses ihr am 3. März 2004 zugestellte Urteil richtet sich die von der Beklagten am 18. März 2004 eingelegte Berufung. Sie ist der Ansicht, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch nicht zustehe. Die Epithese erfülle keine medizinischen Zwecke, da kein Funktionsausfall kompensiert werde. Der Ausgleich des verlorenen Fingers diene nur optischen Gesichtspunkten und stelle daher eine rein kosmetische Versorgung dar.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

Auf Veranlassung der Beklagten hat Dr. M vom MDK die Klägerin begutachtet. Dieser kommt zu der Beurteilung, dass der beantragten Fingerepithese keinerlei funktionelle Bedeutung zukomme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, das Gutachten und die Stellungnahme des Dr. , den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das angegriffene Urteil beurteilt die Sach- und Rechtslage nicht zutreffend. Der angefochtene Bescheid der Beklagten rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, mit einer Finger- epithese versorgt zu werden.

Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Eine Behinderung im Sinne der 3. Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V liegt hierbei nach der in § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) enthaltenen allgemeinen, auch für das SGB V geltenden Definition des Begriffs der Behinderung vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit eines Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (Satz 1). Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (Satz 2). Nach diesen Bestimmungen steht der Klägerin ein Anspruch auf Versorgung mit einer Fingerepithese nicht zu, denn die Klägerin ist jedenfalls nicht im Sinne der 3. Alternative des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, weil sie wegen des unfallbedingten dauerhaften Verlustes des rechten Ringfingers nicht in ihrer "körperlichen Funktion" beeinträchtigt ist. Die Versorgung mit einer Fingerepithese ist medizinisch nicht indiziert. Zu diesem Ergebnis kommen sämtliche eingeholten ärztlichen Auskünfte und Gutachten. Insbesondere Dr. Mstellte in seinem sozialmedizinischen Gutachten klar, dass der beantragten Fingerepithese keinerlei funktionelle Bedeutung zukommt und sie lediglich als "Körperersatzstück" zur Wiederherstellung eines physiologischen Erscheinungsbildes dienen würde. Eine körperliche Funktionsbeeinträchtigung kann nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juli 2002 (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 45), dem der Senat folgt, jedoch auch bei Krankheiten und Verletzungen mit entstellender Wirkung vorliegen. Eine solche Wirkung kommt dem Verlust des Ringfingers jedoch nicht zu. Eine abstoßend wirkende Verletzung liegt vor, wenn die Entstellung bei Menschen, die nur selten Umgang mit Behinderten haben, üblicherweise Missempfindungen wie Erschrecken oder Abscheu oder eine anhaltende Abneigung gegenüber dem Behinderten auszulösen vermag. Obwohl die Finger einen Körperbereich betreffen, der selten von Kleidungsstücken bedeckt wird, ist der Verlust eines einzelnen Fingers für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar. Der Verlust stellte eine Einbuße in einem Bereich dar, die zu keinerlei Einschränkungen auf das Verhältnis der Klägerin zu den mit ihr verkehrenden Mitmenschen führt; ein Achtungs- oder Respektsverlust der Klägerin ist nicht zu befürchten. Bestätigt wird dies auch durch die Tatsache, dass die Klägerin seit Herbst 2004 eine Ausbildung im Hotelgewerbe absolviert, die üblicherweise dazu führt, dass die Klägerin häufig mit anderen Personen, auch fremden Menschen, in Kontakt kommt.

An dem Ergebnis ändert auch der Einwand der Klägerin nichts, der Verlust des Fingers stelle eine psychische Belastung dar und habe seinerseits zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung geführt. Psychische Störungen sind mit Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln (vgl. Urteil des BSG vom 10. Februar 1993, Az.: 1 RK 14/92). Auch bei einer psychischen Fixierung der Klägerin auf die gewünschte äußerliche Veränderung schuldet die Beklagte nicht die begehrte Epithese. Daneben bedeutet der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs eines von der gesetzlichen Krankenkasse zu leistenden Hilfsmittels nicht, dass nicht nur die Behinderung als solche, sondern auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weit gehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation bleibt Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (vgl. Urteil des BSG vom 26.03.2003, Az.: B 3 KR 23/02 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorlag.
Rechtskraft
Aus
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