L 1 RA 47/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 RA 5598/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 RA 47/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird entsprechend ihrem Teilanerkenntnis verurteilt, dem Kläger Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Februar 2001 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der im April 1941 geborene Kläger ist gelernter Werkzeugmacher und hat einen Fachschulabschluss als Techniker. Er war zuletzt seit 1978 bei der SGmbH als Vertriebs-Techniker (Arbeitsvorbereitung [Fertigungssteuerung und -planung]) beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde zum 31. Dezember 1997 arbeitgeberseitig aus betriebsbedingten Gründen gekündigt. Seitdem war der Kläger arbeitslos und bezog bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 28. August 2000 Arbeitslosengeld.

Am 31. August 2000 beantragte der Kläger bei der Beklagten Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Er halte sich wegen Bluthochdrucks, Zustands nach Operation einer gedeckten Aortenruptur 1991, Aortenklappeninsuffizienz Grad II, Mitralklappeninsuffizienz Grad I, Atemnot bereits nach geringer Belastung und Konzentrationsmangel nur noch für einfache geistige Arbeiten ohne Zeitdruck zwei bis drei Stunden leistungsfähig.

Die Beklagte ließ den Kläger von dem Internisten und Haematologen Dr. S untersuchen. Dieser kam in seinem Gutachten vom 1. Dezember 2000 zum Ergebnis, dass der Kläger körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Lasten - auch im bisherigen Beruf - noch vollschichtig verrichten könne.

Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 8. Januar 2001 ab. Der Kläger sei weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig.

Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte den Kläger noch von dem Kardiologen Dr. H untersuchen. Auch dieser befand, dass der Kläger körperlich leichte Arbeiten - in wechselnder Haltungsart - weiterhin vollschichtig verrichten könne. Wegen der Stressabhängigkeit des Blutdruckes und der schon vierfachen Blutdrucktherapie erschienen Tätigkeiten mit überhöhtem Stressaufkommen nicht sinnvoll. Insofern seien Nachtschichten nicht möglich. Des Weiteren sollten keine Außendiensttätigkeiten mit übergroßen Fahrleistungen im innerstädtischen Verkehr gewählt werden wegen der erheblichen Stressbelastung (Gutachten vom 27. Juni 2001).

Ab 1. Mai 2001 gewährte die Beklagte dem Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (Bescheid vom 17. Oktober 2001).

Anlässlich einer Krebsvorsorgeuntersuchung im Juni 2001 wurde beim Kläger ein Prostatakarzinom festgestellt. Am 27. September 2001 unterzog er sich einer entsprechenden Operation. Vom 23. Oktober bis 13. November 2001 gewährte ihm die Beklagte eine stationäre Anschlussheilbehandlung. Im Entlassungsbericht vom 23. November 2001 heißt es, dass die postoperative Stressharninkontinenz II. Grades sich tagsüber noch nicht wesentlich gebessert habe. Die arterielle Hypertonie sei medikamentös normalisiert. Seinen letzten Arbeitsplatz hat der Kläger dem Heilverfahrensarzt gegenüber dahin beschrieben, dass es sich um eine vorwiegend sitzende und geistige Tätigkeit gehandelt habe. Er fühle sich nicht mehr in der Lage, diese Tätigkeit wieder auszuüben, da die alltägliche Stressbelastung durch stetig erhöhten Arbeitsdruck nicht mehr vertragen werden könne.

Durch Bescheid vom 8. April 2002 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 1. Juli 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der monatliche Zahlbetrag dieser Rente ist höher als der der bereits bewilligten (vorgezogenen) Altersrente.

Durch Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2002 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers insoweit zurück, als dieser einen früheren Rentenbeginn begehrte. Die Krebserkrankung habe das Leistungsvermögen des Klägers vor ihrer Feststellung nicht beeinträchtigt.

Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin stützte der Kläger seinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung von einem früheren Zeitpunkt an schließlich auf seinen Bluthochdruck. Dieser sei auch unter medikamentöser Therapie nicht befriedigend eingestellt. Wegen der Auswirkungen dieses Leidens und der bei ihm bestehenden Herzkrankheit sei der Leistungsfall bereits im Januar 2001 eingetreten.

Durch Urteil vom 18. März 2003 wies das SG die auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab 1. Februar 2001 gerichtete Klage ab. Aufgrund der Krebserkrankung seien Funktionsbeeinträchtigungen nach Angabe des behandelnden Urologen erst postoperativ aufgetreten. Den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten, insbesondere dem Gutachten des Kardiologen Dr. H, lasse sich auch nicht entnehmen, dass die Herzkrankheit und der Bluthochdruck des Klägers bereits im Januar 2001 - oder in den folgenden Monaten vor Juni 2001 - so weit fortgeschritten gewesen seien, dass daraus eine Leistungsminderung quantitativer Art resultierte. Der Einwand des Klägers, dass sich die von Dr. H festgestellte gute Einstellung des Blutdrucks bei einer stressbelasteten Berufstätigkeit sofort wieder verschlechtert hätte, sei nicht stichhaltig. Der Fachgutachter habe die Stressanfälligkeit des Blutdrucks des Klägers in seinen Ausführungen berücksichtigt.

Im Berufungsverfahren hält der Kläger an seinem Standpunkt fest. Zur Zeit der Begutachtung durch Dr. S sei bereits der Ruhe-Blutdruck "deutlich hyperton entgleist" gewesen. Das Belastungs-Ekg habe abgebrochen werden müssen. Der Kardiologe Dr. G habe in seinem Schreiben vom 2. Januar 2001 an seine (des Klägers) behandelnde Ärztin bestätigt, dass der Blutdruck durchgehend erhöhte Werte zeige, und vorgeschlagen, trotz der bereits umfassenden Therapie diese noch zu erweitern. Unter Bezugnahme hierauf sei erstinstanzlich beantragt worden, Erwerbsunfähigkeit "wenigstens" ab Januar 2001 anzuerkennen. Seine behandelnde Internistin Dr. K habe am 18. April 2001 ausgeführt, dass eine extreme Blutdruckreaktion auf Stressoren bestehe, trotz sechsfacher Therapie. Die Beurteilung des Gutachters Dr. H, dass der Blutdruck gut eingestellt sei, sei ihm unverständlich.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. März 2003 aufzuheben sowie den Bescheid vom 8. April 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2002 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. voller Erwerbsminderung für die Zeit vor Juli 2001 zu gewähren.

Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 2004 den Anspruch des Klägers auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 1. Februar 2001 anerkannt und im Übrigen beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend, soweit sie der Berufung nicht teilweise abgeholfen hat.

Der Senat hat ein Ergänzungsgutachten von Dr. H (vom 10. Oktober 2003) eingeholt, auf dessen Inhalt im Einzelnen Bezug genommen wird. Der Gutachter ist zum Ergebnis gelangt, dass die Berufungsbegründung des Klägers nicht geeignet sei, von seiner Beurteilung im Gutachten vom 27. Juni 2001 abzuweichen.

Der Kläger ist dem mit dem Hinweis entgegengetreten, die von Dr. H beschriebenen relativ guten Werte der Eigen-Blutdruckmessungen beruhten auf dem Umstand, dass sie in absoluter Ruhe erfolgt seien, d.h. ohne berufliche Stress-Faktoren im Alltag.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 9 RA 5598/02 -) und der Renten- und Rehabilitationsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unzulässig, soweit der Kläger Rente für die Zeit vor Februar 2001 - nämlich bereits ab Antragstellung (August 2000) - beansprucht (vgl. den Schriftsatz vom 9. Februar 2004). Zulässiger Streitgegenstand ist allein die Zeit ab 1. Februar 2001. Der Kläger (bzw. seine ihn vertretende Ehefrau) hat den Antrag ausweislich der Verhandlungsniederschrift vom 18. März 2003 ausdrücklich auf die Zeit ab 1. Februar 2001 beschränkt. Darin liegt eine Klagerücknahme im Übrigen, so dass der angefochtene Bescheid hinsichtlich der Ablehnung einer Rente für die Zeit vor Februar 2001 in Bindung erwachsen und damit unanfechtbar festgestellt worden ist, dass bis zum 31. Januar 2001 kein Rentenanspruch bestand.

Soweit die Berufung zulässig ist (Zeitraum ab 1. Februar 2001), ist sie teilweise auch begründet.

Der Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung schließt den Antrag auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung mit ein. Die Beklagte hat den Anspruch des Klägers auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 Sozialgesetzbuch (SGB) VI ab 1. Februar 2001 anerkannt (bei einem im Januar 2001 eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit, vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Folglich war sie - da eine verfahrensbeendende Annahmeerklärung des Klägers insoweit nicht vorlag (vgl. § 101 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) - unter Änderung des angefochtenen Urteils dem Anerkenntnis entsprechend zu verurteilen.

Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen lässt sich nicht begründen, dass der Kläger bereits vor Juni 2001 voll erwerbsgemindert war. Voll erwerbsgemindert - mit Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (bei Erfüllung auch der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen) - sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI in der hier maßgeblichen, ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung (vgl. § 300 Abs. 1 SGB VI) Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Kläger bestreitet selbst nicht, dass er vor Juni 2001 noch einfache geistige Arbeiten ohne Zeitdruck untervollschichtig - drei Stunden täglich - hätte erwerbstätig sein können.

Allerdings gilt § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage, also vorbehaltlich eines entsprechend vorhandenen Teilzeitarbeitsmarktes. Dies folgt im Umkehrschluss aus § 43 Abs. 3 SGB VI. Danach ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei insoweit die jeweilige Arbeitsmarktlage (ausdrücklich) nicht zu berücksichtigen ist. Es bedarf keiner Erörterung, ob es für Drei-Stunden-Tätigkeiten einen Teilzeitarbeitsmarkt gibt. Denn der Kläger ist noch in der Lage, jedenfalls stressfreie oder doch stressarme körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten auch mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.

Dies folgt ohne weiteres aus den eingehenden und (jedenfalls insoweit - d.h. bezogen auf die vorgenannten Tätigkeiten -) plausiblen Darlegungen des Kardiologen Dr. H, wie er sie in seinem vom Senat eingeholten Ergänzungsgutachten vom 10. Oktober 2003 nochmals bestätigt hat. Ihnen lässt sich insgesamt entnehmen, dass beim Kläger eine ausreichende Blutdruckeinstellung auch unter Belastung möglich ist. Ein gesundheitliches Risiko stellen lediglich stressbelastete Tätigkeiten dar. Der Senat hatte deshalb grundsätzliche Bedenken, den Kläger auf anspruchsvolle Tätigkeiten wie seinen bisherigen Beruf oder zumutbare andere qualifizierte Tätigkeiten mit den ihnen (auch umstellungsbedingt) innewohnenden Stressfaktoren zu verweisen. Eben deshalb hat die Beklagte ab 1. Februar 2001 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit anerkannt.

Zu einem weitergehenden Anerkenntnis seitens der Beklagten bestand hingegen keine Veranlassung. Eine stressfreie, anspruchslose und leichte Tätigkeit in Tagesschicht "artet" nicht deshalb "in Stress aus", weil sie statt drei Stunden sechs Stunden täglich oder auch länger zu verrichten ist. Deshalb hält der Gutachter Dr. H den Kläger bei Ausschluss überhöhten Stressaufkommens auch noch für vollschichtig einsetzbar, womit - der Arbeitswirklichkeit entsprechend - (mindestens) bis zu acht Stunden täglich gemeint sind.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved