L 6 VG 49/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 32 VG 125/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VG 49/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.10.2000 geändert und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.04.1999 verurteilt,
1. Sensible und vegetative Ausfalls- sowie Reizerscheinungen an der Vorderseite des rechten Oberschenkels, am kniegelenknahen Drittel der Vorderseite des rechten Unterschenkels und leichte Minderung der Muskelmasse des rechten Oberschenkels,
2. leichtgradige depressive Störung als Reaktion auf erhebliche soziale Belastungsfaktoren bei gesteigert empfindsamer und sehr nachhaltiger Persönlichkeit,
3. Zustand nach Schussverletzung im Unterbauch mit operativ versorgter Darm- und venöser Gefäßperforation, Nerventeilschädigung mit sensiblen und motorischen Ausfallserscheinungen
als Schädigungsfolge der Tat vom 02.03.1997 anzuerkennen und dem Kläger Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. für die Zeit vom 09.04.1998 bis 30.09.1998 zu zahlen. Der Beklagte hat dem Kläger ein Viertel der ihm in beiden Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Versorgungsrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.

Der 1972 im Kosovo geborene Kläger reiste im Mai 1993 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde 1995 rechtskräftig abgelehnt. Seitdem hält er sich aufgrund mehrfach verlängerter ausländerrechtlicher Duldungen im Bundesgebiet auf.

Am 02.03.1997 wurde der Kläger in einer Spielhalle in N durch einen Bauchschuss lebensbedrohlich verletzt, den ein türkischer Staatsangehöriger im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Bekannten des Klägers abgab. Wegen der Folgen dieser Tat beantragte der Kläger am 09.04.1998 Leistungen nach dem OEG. Der Beklagte zog die Unterlagen des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens sowie Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. Q vom 03.06.1998 und des Allgemeinmediziners Dr. S vom 09.06.1998 mit weiteren Arztberichten bei. Anschließend holte er Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. N vom 13.10.1998 und des Sozialmediziners Dr. X vom 02.10.1998 ein. Diese diagnostizierten eine inkomplette Läsion der Nervenwurzeln L3 und L4 sowie ein reaktiv depressives Syndrom. Die MdE bewerteten sie mit 20 v.H.

Mit Bescheid vom 16.11.1998 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Versorgung ab. Als jugoslawischer Staatsangehöriger gehöre der Kläger nicht zu dem in § 1 Abs. 4 OEG aufgeführten Personenkreis. Auch die in § 1 Abs. 5 OEG genannten Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung erfülle er nicht, da er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Nach dem rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren sei er zur Ausreise verpflichtet. Ausländerrechtliche Duldungen würden ihm lediglich erteilt, weil eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sei. Hierbei handele es sich nicht um eine Duldung aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse wie in § 1 Abs. 5 S. 2 OEG gefordert.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 26.11.1998 Widerspruch ein und trug vor, dass in seiner Heimat im Kosovo ein blutiger Bürgerkrieg tobe und er daher aus humanitären Gründen zumindest vorübergehend in der Bundesrepublik bleiben müsse.

Auf Anfrage des Beklagten teilte das Ausländeramt des Märkischen Kreises am 16.02.1999 mit, dass der Kläger zur Ausreise verpflichtet sei, zurzeit aber über keine Rückführungsdokumente verfüge. Ferner fänden gegenwärtig aus den bekannten Gründen keine Rückführungen nach Jugoslawien statt. Der Kläger sei deshalb im Besitz einer Duldung nach § 55 Abs. 2 Ausländergesetz (AuslG).

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.1999 zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses am 02.03.1997 nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten habe. Die Abschiebung sei seinerzeit lediglich wegen des Fehlens von Rückführungsdokumenten rechtlich bzw. tatsächlich nicht möglich gewesen. Wenn aufgrund der 1998 begonnenen kriegerischen Ereignisse im Kosovo nunmehr auch eine Duldung aus humanitären Gründen vorliege, so könne dies nach den rechtlichen Vorgaben nicht auf den Zeitpunkt der Tat zurückwirken.

Der Kläger hat am 19.04.1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben und ausgeführt, dass er sich auch im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses rechtmäßig im Sinne von § 1 Abs. 5 S. 2 OEG in der Bundesrepublik aufgehalten habe. Wie nunmehr bekannt, habe der als Kriegsverbrecher vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagte Gewaltverbrecher N schon seit langem die ethnische Säuberung des Kosovo geplant und ins Werk gesetzt.

Das SG hat die Ausländerakten des Klägers beigezogen. Anschließend hat es die Klage mit Urteil vom 16.10.2000 im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Gründe des Widerspruchsbescheides abgewiesen.

Der Kläger hat gegen das am 31.10.2000 zugestellte Urteil am 29.11.2000 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass ihm im Zeitraum zwischen dem 09.04.1998 (Antragstellung) und dem 30.09.1998 Versorgungsrente zu zahlen sei. In diesem Zeitraum sei sein Aufenthalt in der Bundesrepublik aus humanitären Gründen geduldet gewesen und damit rechtmäßig im Sinne des OEG. Damit erfülle er in diesem Zeitraum die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 OEG. Die Leistungsberechtigung setze nicht voraus, dass der Aufenthalt auch im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses bereits rechtmäßig gewesen sei.

In der mündlichen Verhandlung vom 06.09.2005 ist folgende Erklärung protokolliert worden: "Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass der Grundtatbestand des § 1 Abs. 1 Opferentschädigungsgesetz erfüllt ist und die im Gutachten des Dr. W festgestellten Gesundheitsstörungen Folge der Gewalttat sind. Sie sind sich weiterhin einig, dass die MdE ab Antragstellung bis September 1998 40 v.H. beträgt. Weiterhin besteht Einigkeit, dass der Aufenthalt des Klägers in dieser Zeit aus humanitären Gründen rechtmäßig im Sinne des § 1 Abs. 5 S. 2 Opferentschädigungsgesetz gewesen ist."

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 16.10.2000 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 16.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.04.1999 zu verurteilen,

1. Sensible und vegetative Ausfalls- sowie Reizerscheinungen an der Vorderseite des rechten Oberschenkels, am kniegelenknahen Drittel der Vorderseite des rechten Unterschenkels und leichte Minderung der Muskelmasse des rechten Oberschenkels,

2. leichtgradige depressive Störung als Reaktion auf erhebliche soziale Belastungsfaktoren bei gesteigert empfindsamer und sehr nachhaltiger Persönlichkeit,

3. Zustand nach Schussverletzung im Unterbauch mit operativ versorgter Darm- und venöser Gefäßperforation, Nerventeilschädigung mit sensiblen und motorischen Ausfallserscheinungen

als Schädigungsfolgen der Tat vom 02.03.1997 anzuerkennen und ihm Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. vom 09.04.1998 bis 30.09.1998 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Er ist weiterhin der Auffassung, dass ein Anspruch nicht gegeben sei, weil sich der Kläger im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses (März 1997) nicht rechtmäßig im Sinne des OEG in der Bundesrepublik aufgehalten habe. Dass im Zeitraum April 1998 bis September 1998 humanitäre Gründe einer Abschiebung des Klägers entgegengestanden hätten, könne nach den rechtlichen Vorgaben nicht auf den Tatzeitpunkt zurückwirken. In diesem Zusammenhang sei auch auf ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales (BMGS) vom 29.11.2004 - 432 - 62034 EU - hinzuweisen. Danach könnten Angehörige der mit Wirkung vom 01.05.2004 der Europäischen Union beigetretenen Staaten Entschädigung nach dem OEG - vorbehaltlich der Abs. 5 und 6 OEG - nur für nach diesem Datum erlittene Angriffe erhalten.

Der Senat hat die aktualisierten Ausländerakten des Klägers, die Akten der verwaltungsgerichtlichen Verfahren (Asylantrag und Asylfolgeantrag) und die Akten der Bundesagentur für Arbeit beigezogen sowie eine Auskunft des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30.08.2005 und Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt (Berichte der Neurologen und Psychiater Dr. N1 und Dr. Q vom 25.10.2004 bzw. 02.12.2004 und des Allgemeinmediziners Dr. S vom 30.11.2004). Des Weiteren ist über die vom Kläger behauptete Schädigungsfolge und die bestehende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) Beweis erhoben worden. Der Sachverständige Dr. W, St. B Kliniken X, hat in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 28.06.2005 die im Berufungsantrag im Einzelnen übernommenen Schädigungsfolgen festgestellt und die MdE im Zeitraum März bis April 1997 mit 100 v.H., im Zeitraum Mai 1997 bis September 1998 mit 40 v.H. und im Zeitraum Oktober 1998 bis März 1999 mit 20 v.H. bewertet. Danach betrage die MdE noch 10 v.H.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakten des Beklagten, die Akten des Ausländeramtes des Märkischen Kreises sowie die Akten der Bundesagentur für Arbeit verwiesen. Diese Akten waren ebenso wie die Prozessakten des VG Arnsberg, 10 L 1153/02 A., 10 K 2459/94 A. und 10 K 2526/02 A. Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Umfang des zuletzt gestellten Berufungsantrags begründet.

Der Kläger hat wegen der gesundheitlichen Folgen der Schussverletzung vom 02.03.1997 Anspruch auf Zahlung einer Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. im Zeitraum vom 09.04.1998 bis zum 30.09.1998.

Zwischen den Beteiligten ist entsprechend ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 06.09.2005 nicht im Streit, dass der Kläger am 02.03.1997 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist. Dies bedarf keiner weiteren Darlegungen. Ebenfalls unstreitig hat der Angriff bei dem Kläger zu den vom Sachverständigen Dr. W festgestellten Gesundheitsstörungen geführt, die im streitigen Zeitraum mit einer MdE um 40 v.H. zu bewerten sind. Auch hierüber haben die Beteiligten sich in der mündlichen Verhandlung vom 06.09.2005 verständigt.

Der Kläger ist entgegen der Ansicht des Beklagten im Zeitraum April bis September 1998 auch leistungsberechtigt im Sinne des OEG. In diesem Zeitraum hat er die besonderen Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung eines Ausländers gemäß § 1 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 und S. 2 OEG erfüllt, weil er sich mehr als nur vorübergehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.

Nach § 1 Abs. 5 S. 1 OEG erhalten Ausländer, die sich rechtmäßig nicht nur für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten, Versorgung nach folgenden Maßgaben:

1. Leistungen wie Deutsche erhalten Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten;

2. ausschließlich einkommensabhängige Leistungen erhalten Ausländer, die sich ununterbrochen rechtmäßig noch nicht drei Jahre im Bundesgebiet aufhalten.

Rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des OEG ist nach § 1 Abs. 5 S. 2 in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung dieses Gesetzes auch ein aus humanitären oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldeter Aufenthalt. Der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des OEG ist damit weiter gefasst als der entsprechende Begriff im Ausländerrecht (hierzu BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 5/00 in SozR 3-3800 § 1 Nr. 19).

Der Kläger hielt sich zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses im März 1997 allerdings noch nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Nach den Feststellungen der Ausländerbehörde war er seinerzeit zur Ausreise verpflichtet. Die Rückführung rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber in die damalige Bundesrepublik Jugoslawien war möglich und wurde auf der Grundlage des Abkommens über die Rückführung und Rückübernahme von ausreisepflichtigen deutschen und jugoslawischen Staatsangehörigen vom 10.10.1996 auch tatsächlich durchgeführt. Eine Abschiebung des Klägers konnte lediglich wegen des Fehlens von Rückführungsdokumenten noch nicht vorgenommen werden. Dies stellte ein rechtliches bzw. tatsächliches Abschiebehindernis dar, das nach § 1 Abs. 5 S. 2 OEG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung nicht zum rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 1 Abs. 5 OEG führte. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Aufenthalt des Klägers damals aus humanitären Gründen oder aus erheblichem öffentlichen Interesse geduldet war.

Anders sah die Situation im Zeitraum nach der Antragstellung im April 1998 bis September 1998 aus, denn der Kläger konnte (auch) aus humanitären Gründen seit etwa Ende Februar 1998 nicht mehr in seine Heimat abgeschoben werden. Humanitäre Gründe sind solche Gründe, die wegen ihrer Eigenart und ihres Gewichts die (sofortige) Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen als unmenschlich erscheinen lassen, wobei nicht jede menschliche Schwierigkeit oder Härte bereits das Gewicht eines "humanitären Grundes" erreicht (BVerwG, Urteil vom 03.06.2003, 5 C 32/02 in NVwZ 2004, 491-494). Wegen der im Jahr 1998 eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der sogenannten Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) mit Massakern an der Bevölkerung (vgl. hierzu OVG Saarland, Urteil vom 18.01.1999, 3 R 83/98; Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker von August 1998) wäre es - was auch die Beteiligten nunmehr übereinstimmend annehmen -, unmenschlich gewesen, den Kläger zu dieser Zeit in seine Heimat zurückzuführen. Zu der Gewalteskalation im Kosovo kam es etwa Ende Februar/ Anfang März 1998 (OVG NRW, Beschluss vom 16.11.1998, 13 A 4113/98.A in NVwZ 1999, Beilage Nr. 4, 34-35), so dass ab diesem Zeitpunkt humanitäre Gründe einer Abschiebung des Klägers entgegenstanden. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass die vom Ausländeramt ausgesprochenen Duldungen nicht ausdrücklich auf humanitäre Gründe gestützt worden sind. Der Tatbestand des § 1 Abs. 5 S. 2 OEG setzt eine ausdrückliche Duldungserteilung durch die zuständige Ausländerbehörde nicht voraus (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 5/00 in SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 19).

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist ein Leistungsanspruch des Klägers nicht dadurch (generell) ausgeschlossen, dass er sich zum Zeitpunkt der Schädigung (März 1997) nicht rechtmäßig im Sinne des OEG in der Bundesrepublik aufgehalten hat. Voraussetzung eines Leistungsanspruchs nach § 1 OEG ist nicht, dass sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen bereits zum Tatzeitpunkt vorgelegen haben. Sind - wie hier - die Voraussetzungen des Grundtatbestandes des § 1 Abs. 1 bis 3 OEG erfüllt, so ist der Beklagte - vorbehaltlich der Bestimmungen über die Antragstellung sowie eventueller Ausschlussgründe (z.B. §§ 2, 10 OEG) - dem ausländischen Geschädigten ab dem Zeitpunkt leistungspflichtig, ab dem er die besonderen Voraussetzungen für Ausländer (§ 1 Abs. 4 bis 6 OEG) erfüllt oder in die Bundesrepublik Deutschland eingebürgert wird. Ein Anspruch auf Versorgung kann danach auch entstehen, wenn sich wie vorliegend ein unrechtmäßiger Aufenthalt zu einem rechtmäßigen Aufenthalt wandelt (vgl. Kunz/Zellner, OEG, 4. Aufl. 1999, § 1 Rn 106). Hierfür sprechen die Auslegung des Gesetzes und die bisher insoweit ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.

Das OEG stellt nach seinem Wortlaut für die Leistungsberechtigung eines Ausländers lediglich darauf ab, ob der Ausländer entweder das Gegenseitigkeitserfordernis erfüllt (§ 1 Abs. 4 OEG) oder ob er sich rechtmäßig nicht nur für einen vorübergehenden Zeitraum im Bundesgebiet aufhält (§ 1 Abs. 5 OEG) oder ob er mit einem Deutschen oder Ausländer, der die Voraussetzungen der Abs. 4 bzw. 5 erfüllt, verheiratet oder in gerader Linie verwandt ist (§ 1 Abs. 6 OEG). Nicht hingegen ist im OEG normiert, dass der Ausländer die genannten Voraussetzungen "zum Zeitpunkt der Tat" erfüllt haben muss. Auch der Bedeutungszusammenhang und die sachliche Systematik des Gesetzes lassen eine solch einschränkende Auslegung nicht erkennen. Gleiches gilt für die Regelungsabsichten, den Gesetzeszweck und die Normvorstellungen des Gesetzgebers.

Dem OEG liegt der Gedanke zugrunde, dass die staatliche Gemeinschaft für die gesundheitlichen Schäden des Opfers einer Gewalttat eintreten muss, weil es der Staat im Einzelfall nicht vermocht hat, den Bürger vor einem gewaltsamen Angriff zu bewahren (BT-Drs. 12/4889 S. 6, BR-Drs. 189/93 S. 6; BSG, Urteil vom 18.06.1996, 9 RVg 4/94). Dabei ist der Gesetzgeber von jeher von einer weiten "Einstandspflicht" für alle im Gebiet der Bundesrepublik begangenen Gewalttaten ausgegangen. Sogar tätliche Vorgänge in Bereichen wie innerfamiliären Beziehungen, die der staatlich präventiven Verbrechensbekämpfung weitgehend entzogen sind, sollten dem grundsätzlichen Anwendungsbereich des OEG unterfallen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 18.10.1995, 9 RVg 4/93 in SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 6). Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass der Staat bemüht ist, Gewalttaten gegen alle Personen, die sich im Bundesgebiet aufhalten, zu verhindern bzw. sofern dies nicht gelingt, Entschädigung - nach dem regulierenden Korrektiv der im OEG genannten Voraussetzungen - zu gewähren.

Auch die Entstehungsgeschichte konkret des § 1 Abs. 5 OEG gibt keinen Anlass zu der vom Beklagten angenommenen Gesetzesinterpretation, der Gesetzgeber habe Entschädigung nur dann gewähren wollen, wenn der Ausländer sich bereits "zum Zeitpunkt der Tat" rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Eine solche Regelungsabsicht bzw. Normvorstellung lässt sich den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen. Die Bestimmung des § 1 Abs. 5 OEG, die mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 21.07.1993 (2. OEG-ÄndG) in das OEG eingefügt worden ist, sollte den persönlichen Geltungsbereich des Gesetzes auch auf die Ausländer ausdehnen, die nach dem bis dahin geltenden Recht infolge des Gegenseitigkeitserfordernisses von Entschädigungsansprüchen ausgeschlossen waren. Hintergrund der neuen Regelung war die Zunahme von Gewalttaten gegen Ausländer in der jüngeren Vergangenheit, die es ungerechtfertigt erscheinen ließ, dass über die Regelung des Gegenseitigkeitserfordernisses praktisch die Mehrzahl aller in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer von Ansprüchen nach dem OEG ausgeschlossen war. Mit der Neuregelung sollten alle die Personengruppen, die sich zum Teil schon langjährig in der Bundesrepublik aufhielten, erfasst werden (BT-Drs. 12/4889 S. 6, BR-Drs 189/93, S. 6). An keiner Stelle ist in den Gesetzgebungsmaterialien dokumentiert, dass nur diejenigen Ausländer von der neuen Regelung profitieren sollten, die die Voraussetzungen des neu zu schaffenden § 1 Abs. 5 OEG bereits im Zeitpunkt der Tat erfüllten. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, wären entsprechende Ausführungen im Gesetzgebungsverfahren zu erwarten gewesen. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber sich durchaus mit der Frage einer Rückwirkung befasst und den Kreis der leistungsberechtigten Ausländer für "Altfälle" mit einer Stichtagsregelung begrenzt hat. So gilt das OEG nach dem im gleichen Gesetzgebungsverfahren neu eingefügten Satz 3 des § 10 nur für Ansprüche aus Taten, die nach dem 30. Juni 1990 begangen worden sind. Eine weitergehende Einschränkung auf die Gewalttaten, die erst nach dem Stichtag begangen wurden und bei denen sich der Geschädigte bereits zur Zeit der Tat rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten hat, sieht das Gesetz gerade nicht vor. Vielmehr wird aus den Gesetzgebungsmaterialien und der Neugestaltung der Gesetzessystematik (insbesondere der Schaffung des § 10b OEG) deutlich, dass vor dem Hintergrund der Ausländerintegration mehr oder weniger alle dauernd im Inland geschädigten Ausländer für Gewalttaten jeder Art in den Schutz des Gesetzes einbezogen werden sollten (hierzu auch BSG, Urteil vom 06.03.1996, 9 RVg 4/95 in SozR 3-3800 § 10 OEG Nr. 1). Bei der Vorbereitung der damaligen Gesetzesänderung des OEG ist lediglich zum Ausdruck gekommen, dass Entschädigungsleistungen dann unbillig seien, wenn ein Opfer nur aus formalen Gründen nicht abgeschoben werden könne (BT-Drs. u. BR-Drs. a.a.O.). Diesem Gedanken wird auch ohne die vom Beklagten vorgenommene einschränkende Auslegung des Gesetzes Rechnung getragen. Denn auch danach erhält ein Ausländer nur dann und nur solange Entschädigung wie er sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Betrachtet man die neuere Gesetzesentwicklung, so hat der Gesetzgeber auch von seiner bisherigen Einschränkung nunmehr noch Abstand genommen. Durch Art. 10 Nr. 11 des "Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern" (Zuwanderungsgesetz) vom 30.07.2004 (BGBl I Nr. 41, S. 1950) ist § 1 Abs. 5 S. 2 OEG mit Wirkung zum 01.01.2005 dahingehend erweitert worden, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des OEG nunmehr auch dann anzunehmen ist, wenn der Ausländer lediglich aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann. Diese Regelung wirkt - allerdings mit der Maßgabe, dass Leistungen frühestens ab 01.01.2005 - erbracht werden können, eindeutig auf frühere Gewalttaten zurück.

Auch aus fiskalischen Gründen ist es nicht geboten, eine einschränkende Auslegung des § 1 Abs. 5 OEG vorzunehmen. Zwar darf und muss der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung sozialer Leistungen auch die Finanzierbarkeit berücksichtigen und kann deshalb bestimmte Fallgruppen von Sozialleistungen ausnehmen. Derartige Überlegungen des Gesetzgebers finden sich in den Gesetzgebungsmaterialien jedoch - wie ausgeführt - nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die staatlichen Haushalte von Bund und Ländern durch die Einbeziehung der Fälle, in denen - wie hier - ein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne von § 1 Abs. 5 OEG nach der Tat begründet wird, gefährdet werden könnten. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle ist davon auszugehen, dass sich betroffene Ausländer auch bereits im Zeitpunkt der Tat schon rechtmäßig im Sinne des OEG in der Bundesrepublik aufgehalten haben. Dies gilt umso mehr, als der Tatbestand des rechtmäßigen Aufenthalts nach dem OEG nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz noch erweitert worden ist. Ob möglicherweise eine übermäßige Belastung der Haushalte dadurch eintritt, dass mit der Erweiterung der Europäischen Union um 10 Staaten zum 01.05.2004 eine Vielzahl weiterer Personen gemäß § 1 Abs. 4 Nr. 1 OEG ab diesem Stichtag leistungsberechtigt wird, kann hier keine Berücksichtigung finden. Es obliegt dem Gesetzgeber, die Auswirkung solcher Beitritte auf die bestehenden staatlichen Leistungspflichten in finanzieller Hinsicht zu überprüfen und ggf. korrigierende Regelungen zu treffen. Entsprechende Überlegungen sind in den Gesetzgebungsverfahren nicht zu erkennen. Vielmehr ergibt sich im Gegenteil die klare Tendenz, den Opferschutz immer weiter auszuweiten und hierfür immer größere Beträge aus dem staatlichen Haushalt zur Verfügung zu stellen. So wird derzeit im Bundestag beraten, ob das Opferentschädigungsgesetz - abweichend vom bisherigen Territorialitätsgedanken - auch auf Deutsche oder ihnen nach § 1 Abs. 4 OEG gleichgestellte EU-Ausländer gemäß § 1 Abs. 4 OEG ausgedehnt werden soll, die im Ausland Opfer einer Gewalttat geworden sind (vgl. BT-Drs. 15/1002 vom 20.05.2003 und 15/3432 vom 29.06.2004).

Die Möglichkeit des "Hineinwachsens" in die Leistungsberechtigung wird auch durch die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gestützt. Hier sind eine Reihe von Fällen zur Rechtmäßigkeit der Stichtagsregelung des § 10 S. 3 OEG in der Fassung des 2. OEG-ÄndG entschieden worden (z.B. Urteil vom 06.03.1996, 9 RVg 4/95 in SozR 3-3800 § 10 OEG Nr. 1; Urteil vom 06.03.1996, 9 RVg 10/95; Urteil vom 11.03.1998, B 9 VG 2/96 R in SozR 3-3800 § 1 OEG Nr. 13). In all diesen Fällen erfüllten die Opfer ausländischer Nationalität die leistungsberechtigenden Anspruchsvoraussetzungen für Ausländer im Zeitpunkt der Tat (noch) nicht. Leistungsberechtigung trat vielmehr erst - vorbehaltlich der Einschränkung durch die Stichtagsregelung in § 10 S. 3 OEG - mit der Erweiterung des OEG durch das 2. OEG-ÄndG ein, bzw. in einem Fall zusätzlich mit der späteren Einbürgerung (Urteil vom 11.03.1998, B 9 VG 2/96 R, a.a.O.). In letzterem Fall hat das BSG ausgeführt, dass die Klägerin, die zum Zeitpunkt der Tat (1985) türkischer Nationalität war und später (1997) als Deutsche eingebürgert wurde, Leistungen nach dem OEG "als Deutsche" (frühestens) ab dem Zeitpunkt der Einbürgerung erhalten könne. Würde man der Auffassung des Beklagten folgen, wäre die Klägerin im genannten Fall des BSG grundsätzlich von Ansprüchen nach dem OEG ausgeschlossen und der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft für die "alte" Tat unbeachtlich. Ausdrücklich hat das BSG in seinem Urteil vom 06.03.1996, 9 RVg 10/95 ausgeführt, dass das Opfer bzw. seine Hinterbliebenen einen Anspruch auf isolierte Feststellung eines Schädigungstatbestandes nach § 1 OEG haben, auch wenn es (derzeit noch) an Leistungsvoraussetzungen mangele. Für den Fall, dass in Zukunft die deutsche Staatsbürgerschaft oder diejenige eines EG-Staates erworben werde oder ihr Heimatstaat der EG beitrete, könnte ein etwa bestehender ruhender Anspruch nach dem OEG zum Vollanspruch werden. Ersichtlich differenziert das BSG zwischen dem Grundtatbestand des § 1 OEG und den später eintretenden Leistungsvoraussetzungen. Müssten - wie der Beklagte meint - alle Leistungsvoraussetzungen bereits zum Zeitpunkt der Tat vorliegen, so könnte es einen ruhenden Anspruch begrifflich erst gar nicht geben. Die Ausführungen des BSG zeigen, dass es nicht auf die Leistungsberechtigung zum Zeitpunkt der Tat ankommt, sondern bei erfülltem Grundtatbestand ein "Hineinwachsen" in eine Leistungsberechtigung möglich ist. Dies gilt umso mehr, als im genannten Fall das Opfer bei der Gewalttat getötet wurde und damit nicht mehr selbst in eine Leistungsberechtigung hineinwachsen konnte.

Soweit der Beklagte auf das Rundschreiben des BMGS vom 29.11.2004 verweist, in dem ausgeführt wird, dass die Angehörigen der zum 01.05.2004 der EU beigetretenen Staaten gem. § 1 Abs. 4 OEG lediglich für Taten anspruchsberechtigt seien, die nach dem 30.04.2004 begangen worden sind, so führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Das Rundschreiben bezieht sich lediglich auf den Fall eines EU-Staatsbürgers und die Vorschrift des § 1 Abs. 4 OEG, nicht hingegen auf das konkret vorliegende Verfahren, in dem die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 5 OEG im Streit steht. Soweit der Beklagte mit dem Hinweis auf das Rundschreiben darlegen wollte, dass die von ihm vorgenommene einschränkende Auslegung des § 1 OEG notwendig sei, um Leistungspflichten in einer Vielzahl weiterer Fälle auszuschließen, ist dieser Gesichtspunkt - wie ausgeführt - nicht geeignet, das Gesetz einschränkend auszulegen. Sachliche Erwägungen führt der Beklagte für seine Verwaltungspraxis nicht an. Sie sind auch nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Umfang des zuletzt nur noch eingeschränkt aufrechterhaltenen Antrags des Klägers.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) und das BSG - soweit ersichtlich - ausdrücklich bisher nur Fälle zu entscheiden hatte, in denen das Opfer der Gewalttat aufgrund einer Änderung des Gesetzes, nicht lediglich aufgrund einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse leistungsberechtigt geworden ist.
Rechtskraft
Aus
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