S 10 RJ 6/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 RJ 6/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 181/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten.

Der am 00.00.1923 in X(Polen) geborene Kläger ist jüdischen Glaubens und Verfolgter des Nationalsozialismus. Während der Verfolgung hielt er sich u.a. im Ghetto Warschau auf.

Im seinerzeitigen Entschädigungsverfahren gab der Kläger an, dass das Ghetto Warschau im Oktober 1940 geschlossen worden sei. Er habe als Jude dort leben müssen. Er habe dort verschiedene Zwangsarbeiten verrichtet. Das Ghetto sei streng von polnischer und deutscher Polizei bewacht und das Verlassen des Ghettos bei Todesstrafe verboten gewesen. Später sei es ihm gelungen, aus dem Ghetto zu flüchten. Auch die Zeugen A und C bestätigten, das Ghetto Warschau sei im Oktober 1940 geschlossen worden. Der Kläger habe sich dort aufhalten und Zwangsarbeiten verrichten müssen, wobei der Zeuge C angab, dass der Kläger die Zwangsarbeiten - wie er - unter haftähnlichen Bedingungen verrichten musste. Vergleichsweise wurde dem Kläger vom Bezirksamt für Wiedergutmachtung Koblenz eine Entschädigung wegen Freiheitsschadens in Höhe von 7.800,- DM gewährt.

Am 19.05.2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente. Er verfüge über Ghetto-Beitragszeiten, da er von Anfang 1940 bis Februar 1943 innerhalb des Ghettos Warschau im Metallressort in seinem Beruf als Schlosser gearbeitet habe. Er habe täglich von 7.00 bis 17.00 Uhr gearbeitet. Die Tätigkeit habe er durch Vermittlung des Judenrates erhalten. Hierfür habe er kein Geld, sondern Beherbung im Ghetto, Verpflegung (ein wenig Brot und Suppe), insbesondere jedoch Schutz vor Deportierung in Vernichtungslager und Tod erhalten. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14.08.2003 ab. Die vom Kläger geltend gemachte Beschäftigung begründe keine Ghetto-Beitragszeit, da der Kläger weder Entgelt noch Sachbezüge erhalten habe.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er habe sehr wohl ein Entgelt für die von ihm geleistete Arbeit erhalten, nämlich Schutz vor dem Tod. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2003 aus den Gründen des Ablehnungsbescheides vom 14.08.2003 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 00.00.0000 Klage erhoben.

Der Kläger ist nach wie vor der Auffasung, entgeltlich tätig geworden zu sein. Die Beschäftigung sei für ihn der einzige Schutz gegen Deportierung und Tod gewesen. Zudem habe er regelmäßig einmal wöchentlich "Tallons" für Verpflegung erhalten: etwa 2 kg Brot, zweimal täglich Suppen und Gemüse. Von Zeit zu Zeit habe der Arbeitgeber zusätzlich Brot und "Gemüsemarmelade" zugeworfen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.08.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.11.2003 zu verurteilen, ihm ab 01.07.1997 Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten von Januar 1940 bis Februar 1943 sowie unter weiterer Berücksichtigung von Ersatzzeiten - ggf. nach Entrichtung freiwilliger Beiträge - nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffene Entscheidung für zutreffend.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte, die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die beigezogene Entschädigungsakte des Klägers hingewiesen. Diese Akten sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.11.2003 beschwert den Kläger nicht nach § 54 Abs. 2 SGG. Diese Bescheide sind rechtmäßig, weil der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente hat.

Nach § 35 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie - 1. - das 65. Lebensjahr vollendet und - 2 - die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs. 1 SGB VI) sind nach § 51 Abs. 1 und 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und Kalendermonate mit Ersatzzeiten anzurechnen. Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Solche Pflichtbeitragszeiten können hier nur unter Berücksichtigung der Beitragsfiktion aus § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) Anrechnung finden, was voraussetzt, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes eröffnet ist. Daran fehlt es hier. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn

1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und

2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war,

soweit für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Die von ihm verrichtete Tätigkeit unterfällt nicht dem ZRBG, weil sie nicht entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b ausgeübt worden ist. Entgeltlich im Sinne dieser Vorschrift wird eine Tätigkeit nur dann ausgeübt, wenn es sich nicht um Zwangsarbeit, sondern eine dem Grunde nach versicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt hat. Anderenfalls fehlt es an einem Bezug zur beitragsfinanzierten deutschen Rentenversicherung, so dass eine Rentenzahlung keine Rechtfertigung findet. Dem Grunde nach rentenversicherungspflichtig ist die Beschäftigung nur, wenn der Betroffene eine seine Arbeitsleistung angemessene Gegenleistung erhalten hat. Diese Voraussetzung ist bei der Gewährung von Unterkunft und von Verpflegung nicht erfüllt. Einerseits lösen beide Leistungen keine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung aus, weil die Gewährung freien Unterhalts nach der insoweit maßgeblichen Vorschrift des § 1227 Reichsversicherungsordnung (RVO) keine Rentenversicherungsplicht begründet. Andererseits wäre für eine Differenzierung der Ghetto-Arbeiten nach dem Typus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einerseits und einer nicht versicherten Zwangsarbeit andererseits kein Raum mehr, wollte man dem Entgeltbegriff unter Berücksichtigung der besonderen Ghetto-Bedingungen von der Angemessenheit lösen und jegliche Form von freiem Unterhalt, wenn er nur das Überleben sichern half, als ausreichend für die Begründung von Entgeltlichkeit ansehen (BSG, Urteil vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R - ; LSG NW, Urteil vom 03.06.2005 - L 4 R 3/05 - ).

Vor diesem Hintergrund unterfällt die vom Kläger geltend gemachte Tätigkeit mangels Entgeltlichkeit nicht dem Typus einer versicherungspflichtigen Ghetto-Arbeit, sondern dem der nicht versicherten Zwangsarbeit. Die vom Kläger behauptete Entlohnung begründet keine Entgeltlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b ZRBG. Soweit der Kläger Lebensmittel erhalten hat, liegt es nahe, dass hierüber die Verpflegung des Klägers sichergestellt wurde, ihm also freier Unterhalt gewährt wurde, der keine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung eintreten lässt (§ 1227 RVO); das gilt auch für die Gewährung freien Unterhalts. Sollte der Kläger darüber hinaus auch Lebensmittel zur freien Verfügung erhalten haben, erfolgte dies jedenfalls nicht in einem seiner Arbeitsleistung angemessenem Umfang. Denn der Kläger hat nach seinem eigenen Vortrag insgesamt wöchentlich etwa 2 kg Brot erhalten und zusätzlich seien zweimal täglich Suppen und Gemüse verteilt worden. Darüber hinaus habe es von Zeit zu Zeit zusätzlich Brot und "Gemüsemarmelade" gegeben. Schließlich kann auch der Schutz vor Deportation keine Versicherungspflicht in der Rentenversicherung begründen. Dem Kläger ist darin Recht zu geben, dass dieser Schutz elementar wichtig für die Ghetto-Insassen war und für sie persönlich einen größeren Wert hatte, als beispielsweise die Gewährung von Bargeld. Dennoch vermag der Schutz vor Deportation keine Rentenversicherungspflicht begründen, da dies keine gegenständliche Gegenleistung für die Arbeit darstellt und die besonderen Ghetto-Bedingungen bei der Frage, ob Entgeltlichkeit vorliegt, keine Berücksichtigung finden können.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved