L 9 KR 141/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 72 KR 2000/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 141/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Ausstattung des PKW des Ehemannes der Klägerin mit einem schwenkbaren Autositz.

Die 1958 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet an einer progressiven Muskeldystrophie und erhält deswegen Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II. Der Grad der Behinderung beträgt 100 v.H ... Die Merkzeichen "G", "aG", "T" und "H" wurden festgestellt. Von der Beklagten ist sie mit einem Rollstuhl und einem so genannten Scalamobil, mit dem das Befahren von Treppen möglich ist, versorgt.

Im Februar 2001 beantragte sie die Ausstattung des PKW ihres Mannes mit einem schwenkbaren Autositz. Nur mit einem solchen Autositz sei ein problemloser Wechsel vom Rollstuhl in den PKW möglich. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2001 ab. Bei der begehrten Leistung handele es sich nicht um ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Es sei nicht Aufgabe der Krankenkasse einen PKW behindertengerecht auszustatten.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und im Wesentlichen vorgetragen, dass sie den schwenkbaren Autositz zur Erschließung ihres notwendigen körperlichen Freiraums benötige. Nur so sei gewährleistet, dass sie ihre häusliche Isolierung überwinde und Termine außer Haus wahrnehmen könne. So sei es notwendig, dass sie einmal monatlich ihren behandelnden Arzt aufsuche. Seit 1985 nehme sie darüber hinaus zweimal in der Woche an einer speziellen Krankengymnastik teil. Diese Gymnastik sei unverzichtbar für die Linderung ihrer Leiden. Im Oktober 2000 habe sie diese Therapie abbrechen müssen, weil sie den Umstieg vom Rollstuhl in den PKW ohne die Unterstützung zweier Hilfspersonen habe nicht mehr bewältigen können. Ein solcher Umstieg sei seit Mai 2001 noch nicht einmal mit Hilfe dieser Hilfspersonen möglich. Darüber hinaus helfe ihr der begehrte Sitz bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Kommunikation. Ohne die Versorgung mit dem schwenkbaren Autositz könne sie weder ein Theater noch ein Kino besuchen. Urlaubsfahrten seien nicht mehr möglich. Darüber hinaus habe sie regelmäßig an Veranstaltungen der Deutschen Muskelschwundhilfe e.V. teilgenommen. Auch dies sei seit Oktober 2000 nicht mehr möglich.

Mit Urteil vom 19. Juli 2002 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die behindertengerechte Umrüstung des PKW ihres Ehemannes, da weder ein PKW noch ein behindertengerecht umgebauter PKW als Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung anzusehen seien. Die gesetzliche Krankenversicherung habe nur solche Hilfsmittel zu stellen, die bestimmt und geeignet seien, die Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens abzusichern. Zu diesen Grundsbedürfnissen des menschlichen Lebens gehöre jedoch die Benutzung eines PKW als Fahrer oder Beifahrer nicht.

Gegen dieses ihr am 11. September 2002 zugestellte Urteil richtet sich die von der Klägerin am 10. Oktober 2002 erhobene Berufung, mit der sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2002 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbe- scheides vom 11. Juni 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verur teilen, ihr einen schwenkbaren Autositz für den PKW ihres Ehemannes zu gewäh- ren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

die sie für unbegründet hält.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung mit einem schwenkbaren Autositz für den PKW ihres Ehemannes.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Gleiches gilt für Leistungen die allein der Eigenverantwortung des Versicherten zuzurechnen sind (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Klägerin keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung eines schwenkbaren Autositzes für den PKW ihres Ehemannes nach § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V. Der Senat kann offen lassen, ob nach dieser Alternative die Beklagte nur die Hilfsmittel schuldet, die spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden, um zu ihrem Erfolg beizutragen, nicht aber solche Hilfsmittel, die dazu dienen, die Wege zu den Leistungserbringern der Beklagten zurücklegen zu können. Denn im vorliegenden Fall benötigt die Klägerin das begehrte Hilfsmittel nicht, um eine bestimmte ärztlich verantwortete Krankenbehandlung wahrnehmen zu können. Die Klägerin sucht nach ihrem eigenen Vorbringen ihren Hausarzt ca. einmal im Monat auf. Daneben nimmt sie regelmäßig Termine ("normale Besuche") bei ihrem Frauen- sowie ihrem Zahnarzt wahr. Mithin unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Vielzahl anderer Versicherter, die ebenfalls medizinische Untersuchungen in Anspruch nehmen. Soweit die Klägerin vorträgt, neben diesen Routineterminen zweimal wöchentlich an physikalischen Therapien zur Verbesserung und zum Erhalt der noch vorhandenen Funktionen teilnehmen zu müssen, vermag auch das den geltend gemachten Anspruch nicht zu begründen. Denn ärztliche Verordnungen hierüber hat die Klägerin nicht vorgelegt und diese sind auch von ihrem behandelnden Arzt nicht ausgestellt worden. Ohne entsprechende Verordnungen lässt sich aber nicht feststellen, dass diese Behandlungen indiziert waren.

Auch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. SGB V - die 2. Alternative dieser Norm liegt ersichtlich nicht vor - bestand kein Anspruch auf die Versorgung mit einem schwenkbaren Autositz, weil dieser nicht erforderlich war, um eine Behinderung auszugleichen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind nur solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen. Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen der Behinderung ausgleichen. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu diesen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrung aufnehmen, Ausscheiden, (elementare) Körperpflegen, selbständige Wohnen sowie Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 16. September 2004 - B 3 KR 15/04 R -, zitiert nach Juris).

Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Klägerin keinen Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel. Sie leidet an einer progressiven Muskeldystrophie. Deswegen ist sie nur mit einem Rollstuhl, und dies auch nur mit Hilfe Dritter, in der Lage, sich fortzubewegen. Das Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln ist ihr deswegen nicht möglich. Ein schwenkbarer Autositz kann ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 3. Alt. SGB V sein, um die Unfähigkeit auszugleichen, ein Fortbewegungsmittel zu besteigen, welches erst ein Fortbewegen außerhalb des Nahbereichs der Wohnung des Versicherten ermöglicht (BSG, a.a.O.). Allerdings ist die Notwendigkeit der Versorgung eines Versicherten mit einem solchen Hilfsmittel in jedem Einzelfall zu prüfen. Es bedarf der gesonderten Feststellung, ob der Versicherte dieses Hilfsmittel zur Erschließung seines körperlichen Freiraums und trotz des Vorhandenseins von der Beklagten bereits zur Verfügung gestellten Leistungen tatsächlich benötigt (BSG, a.a.O.). Hierbei ist nach ständiger Rechtsprechung auf das Vorhandensein besonderer, zusätzlicher qualitativer Momente "im Einzelfall" abzustellen. Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hängt deshalb von individuell unterschiedlichen Faktoren ab; dieses kann das Alter eines Versicherten sein, die Förderung des Integrationsprozesses, die Schwere einer Behinderung oder die Notwendigkeit medizinischer Intensivbehandlung, die die Individualität eines Lebenssachverhaltes ausmachen (BSG, a.a.O.). Derartige zusätzliche - qualitative - Merkmale, die die Beklagte zur Gewährung eines schwenkbaren Autositzes zwecks Herstellung größerer und den Nahbereich überschreitender Mobilität verpflichten könnten, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Eine medizinische Intensivbehandlung ist bei der Klägerin nicht notwendig. Der Senat kann hierbei auch offen lassen, ob solchen Intensivbehandlungen krankengymnastische Therapien gleichzustellen sind. Denn entsprechende Therapien wurden der Klägerin jedenfalls für die zurückliegenden Jahre, wie bereits ausgeführt, nicht verordnet. Soweit die Klägerin geltend macht, sie benötige den schwenkbaren Autositz zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Kommunikation sowie zur Ermöglichung von Theater- und Kinobesuchen sowie zur Ermöglichung von Urlaubsfahrten vermag dieses Vorbringen ihrer Berufung nicht zum Erfolg zu verhelfen. Es gehört nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, den Besitz eines PKW oder dessen Benutzung für Behinderte zu ermöglichen. Auch der Umstand, dass die Klägerin keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen kann, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch die Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, ist keine körperliche Grundfunktion, die durch die Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung herzustellen wäre, sondern ebenso wie das Autofahren der sozialen oder beruflichen Eingliederung Behinderter zuzuordnen, für die gegebenenfalls andere Sozialleistungsträger zuständig sein können (BSG, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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