L 6 KR 772/03

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 13 KR 2116/02
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 KR 772/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 240 Abs. 4 SGB V enthält bezüglich der Beitragseinstufung eine endgültige Regelung. Für eine Änderung für die Vergangenheit sowie eine Beitragsnachforderung besteht keine gesetzliche Grundlage (vgl. Thüringer Landessozialgericht vom 21. Februar 2005 - Az.: L 6 KR 907/02); ein Widerrufsvorbehalt kommt nicht in Betracht.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 27. Mai 2003 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch die Frage der Rechtmäßigkeit einer rückwirkenden Erhöhung von Beiträgen zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung streitig.

Der Kläger war bis zum 18. Juni 2000 versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Mit Wirkung vom 19. Juni 2000 machte er sich selbständig und ist seitdem freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten. Das von ihm zur Beantragung einer freiwilligen Versicherung verwendete Formular der Beklagten enthält u.a. den Hinweis, dass sich Veränderungen in den Einnahmeverhältnissen grundsätzlich erst für die Zukunft auf die Beitragshöhe auswirken.

Mit Bescheid vom 26. Juni 2000 setzte die Beklagte den monatlichen Beitrag des Klägers zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung auf insgesamt 453,20 DM fest. Sie versah diese Beitragsberechnung mit einem Vorbehalt und teilte dem Kläger mit, dass er rückwirkend höhere Beiträge zu zahlen habe, wenn sich aus dem Einkommensteuerbescheid ein höheres Einkommen als das von ihm geschätzte ergeben sollte. Mit Bescheid vom 6. Juni 2001 erfolgte – erneut unter Vorbehalt – eine Erhöhung des monatlichen Beitrages auf insgesamt 557,76 DM.

Mit Schreiben vom 4. Mai 2002 übersandte der Kläger der Beklagten eine Ablichtung seines Einkommen¬steuerbescheides vom 16. April 2002 für das Jahr 2000. Mit Bescheid vom 22. Mai 2002 setzte die Beklagte daraufhin den monatlichen Beitrag des Klägers ohne weiteren Vorbehalt ab 1. Mai 2002 auf insgesamt 548,60 EUR fest. Gleichzeitig errechnete sie unter Zugrundelegung des sich aus dem vorgelegten Einkommenssteuerbescheid ergebenden monatlichen Einkommens eine Beitragsnachforderung für die Zeit vom 19. Juni bis 31. Dezember 2000 in Höhe von insgesamt 1.409,48 EUR.

Mit Schreiben vom 26. Mai 2000 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und verwies hinsichtlich der Beitragsnachforderung zur Begründung auf den Hinweis in den Antragsunterlagen, dass sich Veränderungen in den Einnahmeverhältnissen grundsätzlich erst für die Zukunft auf die Beitragshöhe auswirkten.

Der Kläger hat am 19. November 2002 Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass ihm bei der Antragstellung für die freiwillige Weiterversicherung zugesichert worden sei, dass eine rückwirkende Erhöhung der Beiträge nicht zu erwarten sei. Gleichzeitig hat er die Beitragsnachforderung unter dem Vorbehalt eines abweichenden Ergebnisses des sozialgerichtlichen Verfahrens beglichen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 2003 hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 27. Mai 2003 unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. März 2003 verurteilt, an den Kläger 1.409,48 EUR zurückzuzahlen. In der Begründung ist ausgeführt, dass es schon zweifelhaft sei, dass der Bescheid vom 22. Mai 2002 rechtswidrig sei und damit nach § 45 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückgenommen werden könne. Jedenfalls sei eine Rücknahme nur für die Zukunft zulässig.

Mit ihrer am 3. September 2003 gegen das ihr am 7. August 2003 zugestellte Urteil eingelegten Berufung trägt die Beklagte vor, dass im Hinblick auf die vorgenommene Vorbehaltseinstufung nach § 32 SGB X eine Anwendbarkeit des § 45 SGB X ausscheide.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 27. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung stellt er die Zulässigkeit der Vorbehaltseinstufung infrage.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 27. Mai 2003 verletzt die Beklagte nicht in ihren Rechten, denn die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 22. Mai 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 2003 ist rechtswidrig und wurde zu Recht durch das Urteil des Sozialgerichts Altenburg aufgehoben. Der Kläger war nicht verpflichtet, der Beklagten die von ihr geforderten Beitragsnachzahlungen zu seiner freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 19. Juni bis 31. Dezember 2000 in Höhe von 1.409,48 EUR nach zu entrichten; die Beklagte hat dem Kläger deshalb diesen Betrag wieder zurückzuzahlen. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Angegriffen wird im vorliegenden Falle allein die Zulässigkeit der Rückwirkung der neuen Beitragseinstufung und daraus resultierend die Beitragsnachforderung, während zwischen den Beteiligten die Berechnung der Beitragseinstufung selbst außer Streit steht.

Fraglich ist hier bereits, ob der im Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2000 enthaltene Vorbehalt bestimmt genug ist oder ob der Bescheid mangels ausreichender Bestimmtheit des Vorbehalts eine endgültige Entscheidung bezüglich der Beitragseinstufung des Klägers ab dem 19. Juni 2000 enthält. Dies kann jedoch letztlich dahinstehen, da selbst wenn man von der erforderlichen Bestimmtheit (vgl. hierzu Bundessozialgericht (BSG) vom 28. Juni 1990 – Az.: 4 RA 57/89, nach juris) ausgeht, ein solcher Vorbehalt rechtswidrig wäre, denn für die zu Lasten des Klägers erfolgte Änderung der Beitragseinstufung für die Vergangenheit sowie die Beitragsnachforderung besteht jedenfalls keine gesetzliche Grundlage (vgl. Senatsurteil vom 21. Februar 2005 – Az.: L 6 KR 907/02).

Die im vorliegenden Fall für die Beitragseinstufung maßgebliche Bestimmung des § 240 Abs. 4 SGB V sieht eine endgültige Regelung vor, der die hier getroffene vorläufige Regelung jedoch zuwider läuft. Eine Ermächtigungsgrundlage für eine lediglich vorläufige Regelung enthält § 240 Abs. 4 SGB V nicht. Die Ausübung eines solchen – rechtswidrigen – Vorbehalts wäre daher rechtswidrig, auch wenn der Bescheid vom 26. Juni 2000 bindend geworden ist (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).

Nach § 240 Abs. 4 Satz 2 und 3 SGB V in der bis zum 31. Juli 2001 gültigen Fassung gilt für freiwillige Mitglieder, die – wie der Kläger – hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind, als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 223 SGB V), bei Nachweis niedrigerer Einnahmen jedoch mindestens der vierzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Veränderungen der Beitragsbemessung aufgrund eines vom Versicherten geführten Nachweises können nur zum ersten Tag des auf die Vorlage dieses Nachweises folgenden Monats wirksam werden.

Der Personenkreis der selbstständig Erwerbstätigen hat daher von vornherein den Höchstbeitrag zu entrichten, solange nicht niedrigere beitragspflichtige Einnahmen nachgewiesen sind. Die Beklagte kann von diesen fiktiven beitragspflichtigen Einnahmen ohne Prüfung der Einkünfte des Mitglieds ausgehen. Sie hat aufgrund ihrer Beratungs- und Belehrungspflicht bei Verwaltungskontakten das freiwillige Mitglied bei einer förmlichen Festsetzung der beitragspflichtigen Einnahmen oder in einem Beitragsbescheid, dem fiktiven beitragspflichtige Einnahmen in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze zugrunde liegen, darauf hinzuweisen, dass bei Nachweis niedrigerer Einnahmen der Beitrag reduziert werden kann (vgl. Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, Kommentar, München 2004, § 240 Rdnr. 31).

Eine Beitragskorrektur zu Gunsten des Versicherten kann nach § 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V, abweichend von § 48 Abs. 1 Nr. 1 SGB X, nur für die Zukunft erfolgen. Sind Beiträge rechtswidrig zu niedrig festgestellt worden, bedarf es einer Rücknahme bzw. Aufhebung des Beitragsbescheides nach den §§ 45, 48 SGB X.

Eine Ausnahmeregelung für Existenzgründer sieht § 240 Abs. 4 SGB V in der bis zum 31. Juli 2001 gültigen Fassung nicht vor. Als Nachweis niedrigerer Einnahmen kommt jedenfalls auch bei Existenzgründern der in dem Schreiben des Bundesversicherungsamts vom 6. Februar 2001 angesprochene vom Finanzamt zu erstellende "Vorauszahlungsbescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag" in Betracht. Die Beklagte hat jedoch einen solchen Nachweis vom Kläger nicht gefordert.

Obwohl dieser daher weder niedrigere Einnahmen nachgewiesen hat, noch von ihm ein solcher Nachweis gefordert wurde, erfolgte mit Bescheid vom 26. Juni 2000 keine Einstufung unter Berücksichtigung fiktiver Einnahmen bis zur Beitragsbemessungsgrenze, sondern eine Einstufung lediglich unter Berücksichtigung niedrigerer (geschätzter) Einnahmen.

Der Bescheid vom 26. Juni 2000 war daher von Anfang an rechtswidrig. Ein solcher Bescheid kann nur nach § 45 Abs. 1 SGB X unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Für einen Vorbehalt zur Korrektur möglicher anfänglicher Fehler des Verwaltungsaktes (Rücknahmevorbehalt als Unterfall des Widerrufsvorbehalts) ist kein Raum. Andernfalls könnte die Behörde § 45 SGB X ins Leere laufen lassen (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N., Senatsurteil vom 21. Februar 2005, a.a.O., Waschull in Sozialgesetzbuch X, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, Lehr- und Praxiskommentar, 1. Auflage 2004, § 32 Rdnr. 15).

Bei endgültigen Bescheiden ist auch kein Raum für einen Widerrufsvorbehalt nach §§ 32 Abs. 2 Nr. 3, 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB X. Er könnte nur zum Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts mit Wirkung für die Zukunft dienen (vgl. Engelmann in von Wulffen, SGB X, 4. Auflage 2005, § 32 Rdnr. 21). Hierfür gibt es, solange der Bescheid rechtmäßig ist, keinen Grund. Es besteht die Möglichkeit einer Aufhebung nach § 48 SGB X, wenn der Bescheid wegen Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig wird. Aus § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB X, der die Frist für die Rücknahme rechtswidriger Bescheide auf 10 Jahre verlängert, wenn u. a. der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt erlassen wurde, lässt sich schon deswegen Gegenteiliges nicht herleiten, weil er die Zulässigkeit des Widerrufsvorbehalts nach anderen (spezialgesetzlichen) Vorschriften voraussetzt, aber nicht begründet (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).

Nach § 45 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 SGB X kann ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Vergangenheit nur zurückgenommen werden, wenn Wiederaufnahmegründe nach § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) bestehen oder wenn der Begünstigte sich auf Vertrauen schlechthin nicht berufen kann. Dies ist der Fall, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grobfahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB X auf Vertrauen schlechthin nicht berufen kann, liegen nicht vor. Er hat zwar in seiner "Einkommenserklärung" vom 15. Juni 2000 objektiv falsche Angaben gemacht, es ist aber nicht ersichtlich, dass dies vorsätzlich bzw. grob fahrlässig erfolgte. Des Weiteren beruht die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 26. Juni 2000 nicht auf diesen Angaben, sondern darauf, dass die Beklagte die Vorschrift des § 240 Abs. 4 SGB V nicht angewandt hat. Im Übrigen fehlt es auch an einer Ermessensausübung der Beklagten hinsichtlich der Rücknahme des Bescheides vom 26. Juni 2000. Ausführungen hierzu finden sich im auch Widerspruchsbescheid vom 22. März 2003 nicht, weil die Beklagte offenbar davon ausgegangen ist, sie sei auf Grund des Widerrufsvorbehalts unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 SGB X zur nachträglichen Korrektur der Beitragsforderung berechtigt.

Eine andere Rechtsgrundlage für die nachträgliche Abänderung des Bescheides vom 26. Juni 2000 ist nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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